StGB § 32 Begriff des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs - Notwehrlage
BGH, Urteil vom 30. März 2022 – 2 StR 263/21 –, juris
Verfahrensgang vorgehend LG Kassel, 24. November 2020, 10 (6) Ks 2670 Js 6232/18
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 24.
November 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Gießen zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
1 Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und eine halbautomatische Selbstladepistole nebst Magazin eingezogen. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat dieses Urteil durch Beschluss vom 17. Dezember 2019 – 2 StR 340/19 (StV 2021, 90 f.) mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Führen „einer halbautomatischen Schusswaffe“ und einer Schusswaffe zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, die durch erlittene Untersuchungshaft abgegolten ist. Es hat angeordnet, dass der Angeklagte für die Untersuchungshaft zu entschädigen ist, soweit diese die verhängte Freiheitsstrafe überstiegen hat. Außerdem hat es die halbautomatische Selbstladepistole nebst Magazin eingezogen. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das zuungunsten des Angeklagten eingelegte Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Die jüngste Tochter D. des Angeklagten wollte den Nebenkläger heiraten. Damit war der Angeklagte nicht einverstanden, der gegenüber dem Imam K. , der die Eheschließung durchführen sollte, aus nicht feststellbaren Gründen erklärte, dass die Hochzeit zunächst nicht stattfinden solle. Am 3. Dezember 2017 wurde die Verlobung im Anwesen des Angeklagten in G. von beiden Familien der Verlobten gefeiert, jedoch lehnte der Angeklagte später die ihm vorgeschlagenen Hochzeitstermine ab. Darauf legte der Vater des Nebenklägers, Y. , den Termin auf den 24. März 2018 fest.
Am 26. Dezember 2017 besuchte der Nebenkläger mit seiner Verlobten und den Eheleuten K. eine Feier in K. und brachte seine Verlobte gegen Mitternacht nachhause. Dabei kam es zu einem verbalen Streit des Angeklagten mit dem Nebenkläger, wobei der Angeklagte Beleidigungen aussprach. Das Gericht konnte weder den Inhalt dieser Beleidigungen feststellen noch klären, ob der Nebenkläger seinerseits Beleidigungen oder Drohungen ausgesprochen hatte. Nach dem Vorfall erklärte D. dem Angeklagten, seine letzten Tage seien angebrochen. Dessen Frage, ob sie mit dem Mörder ihres Vaters zusammenleben wolle, bejahte D. ; danach sprach sie nicht mehr mit dem Angeklagten, worunter dieser sehr litt.
Der Angeklagte und seine Familie waren nach diesem Vorfall in Sorge vor einem Racheakt des Nebenklägers und dessen Familie wegen der Beleidigungen. Der Angeklagte wollte den Frieden zwischen den Familien wiederherstellen. Nachdem Vermittlungsversuche unter Einschaltung der Eheleute T. und Ku. gescheitert waren, weil der Nebenkläger eine Versöhnung ablehnte, zeigte sich dessen Vater Y. kompromissbereit und stimmte am 20. Januar 2018 dem Vorschlag eines Treffens mit der Familie des Angeklagten am Folgetag zu. Dieses Treffen wurde aber in der Nacht von einem Mitglied der Familie Y. telefonisch abgesagt.
Im Januar 2018 kaufte die Braut D. ihr Hochzeitskleid, Schmuck, Gold und Haushaltsgegenstände. Das Geld dafür hatte sie vom Nebenkläger erhalten, wozu auch der Angeklagte einen Geldbetrag beigesteuert hatte. Am 10. Februar 2018 telefonierte K. mit dem Angeklagten, um ein Treffen in G. zu vereinbaren. Der Angeklagte lehnte dies ab. K. bot ihm stattdessen an, am Sonntag, dem 11. Februar 2018, nach S. in das Gebetshaus zu kommen, weil sich am Nachmittag die Familie Y. dort aufhalten werde. Der Angeklagte entschloss sich nach einigem Zögern, diese Einladung anzunehmen. Er beabsichtigte nicht, mit der Familie Y. über die Hochzeit zu sprechen. Vielmehr wollte er sich den nach seiner Vorstellung von dieser Familie ausgehenden Bedrohungen stellen und sich bei dem Nebenkläger für die Beleidigungen entschuldigen. Er hielt es für möglich, dass es zu einer Versöhnung zwischen den Familien kommen werde. Weil alle bisherigen Vermittlungsversuche gescheitert waren, fühlte er sich immer noch von der Familie Y. bedroht. D. hatte jedenfalls einige Tage zuvor gegenüber ihrer Mutter die Befürchtung geäußert, „die aus S. “ seien auf dem Weg nach G. , um ihren Vater zu töten.
Der Angeklagte absolvierte zu einem unbekannten Zeitpunkt zwischen dem 26. Dezember 2017 und dem 11. Februar 2018 bei einem G. Schützenverein Schießübungen mit einem vereinseigenen Luftgewehr. Er beschaffte sich auch eine Druckluftpistole. Nachdem er sich am 10. Februar 2018 entschlossen hatte, nach S. zu fahren, sprach er mit einem Bekannten darüber, der ihm dazu riet, auch eine scharfe Schusswaffe mitzuführen, um sich effektiver schützen zu können. Der Bekannte übergab dem Angeklagten dazu eine halbautomatische Selbstladepistole FN Modell mit vier Patronen.
Der Angeklagte fuhr am 11. Februar 2018 nach S. , wo er gegen 17.00 Uhr das Gebetshaus betrat. Er trug einen schwarzen Mantel und führte die Druckluftpistole sowie die Selbstladepistole verdeckt darunter im Hosenbund mit. Er war verunsichert, versuchte dies aber durch scheinbar selbstbewusstes Auftreten zu verbergen. Er zog seine Schuhe zunächst nicht aus, was der Nebenkläger beanstandete, worauf der Angeklagte erwiderte:
„Sprich mich nicht an, was glaubst du wer du bist?“ Nachdem er dann doch seine Schuhe ausgezogen hatte, forderte er den Nebenkläger auf, mit ihm zu einem klärenden Gespräch nach draußen zu kommen. Der Nebenkläger willigte ein und beide begaben sich auf einen Parkplatz etwa 200 bis 250 m vom Gebetshaus entfernt. Dort standen sie sich in zwei bis drei Metern Entfernung in der Nähe von Altglas-Containern gegenüber. Der Angeklagte äußerte, dass sie in ein Café gehen sollten, um ein Gespräch zu führen, was der Nebenkläger ablehnte. Dieser wurde zunehmend verbal aggressiv. Er hatte schon beim Verlassen des Gebetshauses erklärt, dass der Angeklagte sehr mutig sei zu erscheinen und er nicht gedacht hätte, dass der Angeklagte es wagen würde, nach S. zu kommen. Der Angeklagte hatte darauf erwidernd gefragt, ob der Nebenkläger gedacht habe, dass er ein Feigling sei.
Während sich die Kontrahenten gegenüberstanden, zeigte der Nebenkläger mit dem Finger auf den Angeklagten und äußerte: „Onkel, ich werde nie vergessen, wie Du mich und meine Familie beleidigt hast, diese Schimpfwörter, nie in meinem Leben, dafür musst du bezahlen.“ Darauf erwartete der Angeklagte einen Angriff des Nebenklägers, zog beide Pistolen aus dem Hosenbund und richtete sie jeweils mit dem Lauf nach unten. Der Nebenkläger nahm eine vor den Glascontainern stehende Glasflasche an sich und äußerte zum Angeklagten, dass dieser auf ihn schießen solle. Er solle aber nicht auf sein Gesicht, sondern in die Herzgegend zielen. Auf die Bemerkung des Angeklagten, dass er dann tot wäre, erwiderte der Nebenkläger, dass der Angeklagte schießen solle. Der Nebenkläger ging auf den Angeklagten zu und schlug mit der Glasflasche, die er abgebrochen hatte, in Richtung des Kopfes des Angeklagten. Dieser wich zurück und gab ungezielt vier Schüsse aus der halbautomatischen Selbstladepistole sowie sieben Schüsse aus der Druckluftpistole auf den Nebenkläger ab. Dadurch konnte er einen Schlag des Nebenklägers mit der Glasflasche abwenden. Zwei Schüsse aus der Selbstladepistole trafen den Nebenkläger in den Bauch, die beiden anderen gingen fehl. Ein Geschoss aus der Druckluftpistole traf den Nebenkläger an der Stirn, fünf weitere an den Vorderseiten der Oberschenkel und eines am rechten Ohr.
Nachdem der Nebenkläger für einen Moment zusammengesackt war, wandte er sich ab und lief davon. Der Angeklagte gab mit ausgestrecktem Arm zumindest einen weiteren Schuss aus der Druckluftpistole auf den Nebenkläger ab, um diesen zu verletzen. Das Geschoss traf den Nebenkläger im Nacken. Nach Abgabe dieses Schusses blieb der Angeklagte zunächst ratlos stehen, lief dann in Richtung des Gebetshauses davon und warf die Selbstladepistole in eine leerstehende Lagerhalle, wo sie später gefunden wurde. Die Druckluftpistole warf er an unbekannter Stelle weg.
Der Nebenkläger legte noch 200 m bis zum Gebetshaus zurück und brach davor zusammen. Er wurde kurz darauf gefunden und durch notärztliche Behandlung sowie eine Notoperation im Krankenhaus gerettet. Ohne diese zeitnahe Versorgung wäre er aufgrund der Schussverletzungen gestorben. Am 6. Dezember 2019 schlossen D. und der Nebenkläger standesamtlich die Ehe.
2. a) Nachdem der Angeklagte sich in der neuen Hauptverhandlung nicht zur Sache geäußert und die Angehörigen beider Familien sich im Wesentlichen auf Aussage- oder Auskunftsverweigerungsrechte berufen hatten, hat das Landgericht die Feststellungen zur Tat vor allem auf die durch Vernehmung eines früher zuständigen Richters als Zeuge eingeführte, in der Form einer Verteidigererklärung abgegebene Sacheinlassung des Angeklagten aus dem ersten Rechtsgang, seine Angaben bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, sowie auf die Angaben neutraler Zeugen, ferner auf Spuren und Verletzungsfolgen der Tat gestützt.
Auf dieser Beweisgrundlage hat es ausgeführt, eine andere Motivation des Angeklagten bei der Aufforderung des Angeklagten an den Nebenkläger zum Gespräch außerhalb des Gebetshauses als den Wunsch, eine Entschuldigung auszusprechen und einen Racheakt der Familie des Nebenklägers zu verhindern, habe das Gericht nicht sicher feststellen können. Die Aussage des Angeklagten dazu, dass der Nebenkläger ihn mit der Glasflasche angegriffen und er sich mit den frontal abgegebenen Schüssen verteidigt habe, sei schlüssig und nachvollziehbar. Überdies habe der Angeklagte bereits bei seiner ersten polizeilichen Beschuldigtenvernehmung geäußert, dass er vom Nebenkläger mit der abgebrochenen Bierflasche angegriffen und an der Hand verletzt worden sei. Dafür spreche auch die Tatsache, dass am Tatort eine zerbrochene Bierflasche gefunden worden sei. Abweichend von der Einlassung des Angeklagten, er habe aus der halbautomatischen Selbstladepistole nur zwei Schüsse frontal auf den Nebenkläger und zwei weitere in die Luft abgegeben, als dieser geflohen sei, gehe das Gericht allerdings im Hinblick auf Beobachtungen von Zeugen davon aus, dass der Angeklagte alle vier Schüsse aus jener Pistole auf den Nebenkläger abgefeuert habe, als dieser ihm gegenübergestanden habe.
b) Das Landgericht hat den festgestellten Sachverhalt dahin bewertet, dass die Abgabe aller frontal auf den Nebenkläger abgegebenen Schüsse zur Abwehr des Angriffs mit der Glasflasche gerechtfertigt gewesen sei. Als gefährliche Körperverletzung strafbar sei nur der Schuss mit der Druckluftpistole auf den fliehenden Nebenkläger, der diesen im Genick getroffen habe. Hinzu kämen Vergehen des unerlaubten Führens der halbautomatischen Selbstladepistole und der Druckluftpistole.
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen dieses Urteil ist mit der Sachrüge begründet, sodass es auf die Verfahrensrüge nicht ankommt.
1. Die getroffenen Feststellungen tragen nicht die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe die frontal auf den Nebenkläger abgegebenen Schüsse aus Notwehr im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB abgefeuert, weshalb diese Handlungen gemäß § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt gewesen seien.
a) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. Das Vorliegen einer solchen Lage wird durch die Feststellungen nicht lückenlos belegt.
aa) Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Abwehrhandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste (vgl. BGH, Urteil vom 26. August 1987 – 3 StR 303/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1; Urteil vom 31. Januar 2007 – 5 StR 404/06, BeckRS 2007, 3210). Ein gegenwärtiger Angriff ist daher auch ein Verhalten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Dezember 1991 – 2 StR 535/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 5; BGH, Beschluss vom 8. März 2000 – 3 StR 67/00, NStZ 2000, 365; Urteil vom 25. April 2013 – 4 StR 551/12, NJW 2013, 2133). Für die Gegenwärtigkeit des Angriffs entscheidet der Zeitpunkt der durch einen bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 1972 – 1 StR 489/72, NJW 1973, 255; Urteil vom 26. August 1987 – 3 StR 303/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1). Bei einem vorsätzlichen Angriff ist dies die Handlung, die dem Versuchsbeginn unmittelbar vorgelagert ist und eine akute Bedrohung darstellt (vgl. Senat, Urteil vom 13. September 2017 − 2 StR 188/17, NStZ 2018, 84 mit Anm. Rückert; MüKoStGB/Erb, StGB, 4. Aufl., § 32 Rn. 106; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 32 Rn. 17; NK-StGB/Kindhäuser, StGB, 5. Aufl., § 32 Rn. 52; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 32 Rn. 14; LK/Rönnau/Hohn, StGB, 13. Aufl., § 32 Rn. 146; s.a. Otto, Jura 1999, 552 f.; a.A. Bottke, JR 1986, 292, 293; Matt/Renzikowski/Engländer, StGB, 2. Aufl., § 32 Rn. 14: erst ab Versuchsbeginn). Nur dann ist es dem Verteidiger möglich, dem Angreifer zuvorzukommen, da dieser Moment typischerweise mit dem unmittelbaren Ansetzen des Angreifers verstreicht.
bb) Entscheidend ist, dass der Angreifer durch sein Verhalten eine feindselige Absicht nach außen wahrnehmbar manifestiert hat und sich raum-zeitlich betrachtet in einer Distanz aufhält, in der er ohne weiteres die Rechtsgüter des anderen verletzen kann (vgl. Rückert, Effektive Selbstverteidigung und Notwehrrecht, 2017, S. 141 ff.). Das muss erst recht gelten, wenn nur er über eine potenziell tödlich wirkende Distanzwaffe verfügt (vgl. MüKoStGB/Erb, aaO § 32 Rn. 106). Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang die objektive Sachlage (vgl. Senat, Urteil vom 13. September 2017 – 2 StR 188/17, NStZ 2018, 84; BGH, Urteil vom 21. März 2017 – 1 StR 486/16). Es kommt nicht auf die Befürchtungen des Angegriffenen an, sondern auf die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutsverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2017 – 1 StR 486/16), die zugleich das Maß der erforderlichen und gebotenen Abwehrhandlung bestimmt (vgl. Senat, Beschluss vom 25. September 2019 − 2 StR 177/19, NStZ 2020, 147 mit Anm. Kulhaneck). Allein die subjektive Befürchtung, ein Angriff stehe unmittelbar bevor, begründet für sich genommen noch keine Notwehrlage (vgl. BGH, Urteil vom 18. April 2002 – 3 StR 503/01, NStZ-RR 2002, 203, 204).
b) Nach diesem Maßstab begegnet die Würdigung des Landgerichts durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
aa) Es hat ausgeführt, das Ziehen der Pistolen durch den Angeklagten habe noch keinen Angriff dargestellt, denn der Angeklagte habe die Waffen mit den Läufen nach unten gerichtet und zunächst keine weiteren Handlungen vorgenommen. Auch hätten der Nebenkläger und der Angeklagte danach noch miteinander gesprochen; dabei habe der Nebenkläger– wahrscheinlich aber lediglich provozierend – den Angeklagten zur Abgabe eines Schusses aufgefordert. Bei dessen Schlagen mit der Glasflasche habe ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff vorgelegen, „da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass ein Schlag des Nebenklägers mit der Glasflasche gegen den Kopf unmittelbar bevorstand“.
bb) Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht den Begriff des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs verkannt hat.
(1) Nicht der Beginn des Versuchs einer Tötungs- oder Verletzungshandlung, sondern auch eine unmittelbare Vorstufe dazu ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als gegenwärtiger Angriff anzusehen. Das konnte entgegen der Ansicht des Landgerichts bereits für das Hervorholen der mitgeführten Schusswaffen durch den Angeklagten gelten. Die anschließenden wenigen Äußerungen des Nebenklägers und des Angeklagten waren unmittelbar darauf bezogen.
(2) Ferner sind nicht die Befürchtungen des Angeklagten von Bedeutung, sondern der objektive Befund und die Absichten des Angreifers. Zu den Absichten des Nebenklägers, der vom Landgericht als Angreifer angesehen wurde, hat das Landgericht aber keine Feststellungen getroffen. Dessen Äußerungen: „Onkel, ich werde nie vergessen, wie Du mich und meine Familie beleidigt hast, diese Schimpfwörter, nie in meinem Leben, dafür musst du bezahlen“, in denen der Angeklagte nach den Feststellungen des Landgerichts einen Hinweis auf einen bevorstehenden körperlichen Übergriff des Nebenklägers gesehen hat, waren objektiv noch kein gegenwärtiger Angriff im Sinne des Notwehrrechts. Ein lediglich verbaler Streit ist solange kein gegenwärtiger Angriff auf die körperliche Integrität, wie der Rahmen des Wortgefechts nicht überschritten wird (vgl. BayObLG, Urteil vom 9. Januar 1985 – RReg. 5 St 272/84, NJW 1985, 2600, 2601 mit Anm. Kratzsch StV 1987, 224; NK-StGB/Kindhäuser, aaO § 32 Rn. 52). Die allein daraus abgeleitete Befürchtung des Angeklagten, ein Angriff des Nebenklägers stehe unmittelbar bevor, weshalb er die Schusswaffen zog, ist nach den genannten Rechtsgrundsätzen für die Bewertung des objektiven Elements des Rechtfertigungsgrundes nach § 32 Abs. 1 StGB nicht maßgebend.
2. Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen auch gegen die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe die frontal auf den Nebenkläger abgegebenen Schüsse in Verteidigungsabsicht abgefeuert.
a) Das Landgericht hat ausgeführt, die Feststellung, dass der Angeklagte die Schüsse in Verteidigungsabsicht abgegeben habe, sei „auf die festgestellten objektiven Umstände des Geschehens“ gestützt, aus denen sich ergebe, „dass es dem Angeklagten nicht darum ging, seinerseits von vornherein einen Angriff auf den Nebenkläger zu verüben und diesen dabei zu verletzen oder gar zu töten, sondern die vier Schüsse aus der halbautomatischen Selbstladepistole auf den Nebenkläger abgab, um sich gegen dessen Angriff mit der Glasflasche zu verteidigen“. Dem stehe nicht entgegen, dass er nicht nur Schüsse aus der Selbstladepistole, sondern auch weitere aus der Druckluftpistole abgegeben habe; denn der Beschwerdeführer habe trotz des Bauchschusses in der Kampflage überraschend wenig Trefferwirkungen gezeigt. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Angeklagte im Umgang mit Schusswaffen wenig geübt gewesen sei, was durch die Schlittenverletzung an der Hand belegt werde.
b) Das trägt nicht. Die äußeren Umstände besagen wenig über die innere Willensrichtung des Angeklagten. Sie ergeben nicht ohne Weiteres das Bild einer Verteidigungshandlung, weil der Angeklagte den Nebenkläger veranlasst hatte, aus dem Gebetshaus zu einer Stelle zu gehen, an der er ihm allein gegenüberstand, ferner, weil zunächst nur er bewaffnet war, außerdem, weil er die Pistolen zog, als der Streit noch rein verbal ausgetragen wurde, überdies, weil er neben der scharfen Schusswaffe zusätzlich die Luftpistole zog, die zur Abwehr eines körperlichen Angriffs nicht ebenso geeignet war, und schließlich, weil er beide Waffen verwendete, eine Vielzahl von Schüssen frontal auf den Nebenkläger abgab und diesem sogar noch nachschoss, als er bereits floh. Die Bitte um Entschuldigung, die der Angeklagte nach den Feststellungen ursprünglich gegenüber dem Nebenkläger erklären wollte, um die Wiederherstellung des Friedens zwischen den Familien zu versuchen, war in der gesamten Phase des festgestellten Geschehens nicht einmal angedeutet worden. Die Urteilsgründe lassen insoweit nicht erkennen, dass das Landgericht das Tatbild im Ganzen seiner Schlussfolgerung auf eine Verteidigungsabsicht des Angeklagten bei der frontalen Schussabgabe zu Grunde gelegt hat.
3. Die genannten Rechtsfehler zwingen zur Aufhebung des Urteils.
a) Der Senat kann nicht feststellen, dass sich das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als rechtlich zutreffend erweist. Da das Landgericht die Fragen des Vorliegens eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs und eines Handelns des Angeklagten in Verteidigungsabsicht nicht rechtsfehlerfrei beantwortet hat, kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen auch nicht sicher davon ausgegangen werden, dass die Schussabgabe vor der Flucht des Nebenklägers aufgrund von Putativnotwehr ohne Tötungs- oder Verletzungsvorsatz abgegeben wurden (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analog); erst recht wäre die Anschlussfrage nach einem fahrlässigen Handeln des Angeklagten (§ 16 Abs. 1 Satz 2 StGB analog) nicht vom Revisionsgericht zu beantworten.
b) Die Aufhebung umfasst auch die Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung, weil nicht auszuschließen ist, dass das neue Tatgericht dies als Teil einer einheitlichen Handlung im strafrechtlichen Sinn bewerten könnte (§ 52 StGB).
c) Der Senat hebt auch die getroffenen Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO); denn diese wurden bereits auf der Grundlage eines fehlerhaften rechtlichen Ansatzes getroffen, so dass es auf weitere rechtliche Bedenken gegen die Beweiswürdigung nicht ankommt.
4. Der Senat macht nach erneuter Urteilsaufhebung von der Möglichkeit der Zurückverweisung an ein anderes Landgericht gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO Gebrauch.
III.
Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin: Sollte das Landgericht erneut zur Feststellung des Handelns des Angeklagten bei den frontal abgegebenen Schüssen in einer Notwehrlage und aus Verteidigungsabsicht gelangen, müsste es sich mit der Frage einer Einschränkung des Notwehrrechts auseinandersetzen, was bisher nicht geschehen ist.
Eine schuldhafte Provokation kann zur Einschränkung des Notwehrrechts führen, wenn bei vernünftiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine Notwehreinschränkung voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 1 StR 208/18; Urteil vom 17. Januar 2019 − 4 StR 456/18, NStZ 2019, 263; Beschluss vom 17. Juni 2020 – 4 StR 658/19, NStZ 2021, 93, 94 mit Anm. Mitsch). Erforderlich ist zudem ein motivationaler Zusammenhang. Mithin sind gegebenenfalls Feststellungen und Wertungen dazu zu treffen, ob und inwieweit die Pflichtverletzung des Angegriffenen zum Verhalten des Angreifers beigetragen hat (vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12; Beschluss vom 25. Juni 2009 – 5 StR 141/09; Beschluss vom 17. Juni 2020 – 4 StR 658/19, NStZ 2021, 93, 94).-