StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 – Vereinfachter Anklagesatz bei Serientaten? Vorlage an Großen Senat

StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 – Vereinfachter Anklagesatz bei Serientaten? Vorlage an Großen Senat

BGH, Beschl. v. 24.02.2010 - 1 StR 260/09 = NJW 2010, 1386

Vorlage an Großen Senat zu den Anforderungen an die Konkretheit des Anklagesatzes bei zahlreichen Vermögensdelikten, die einem einheitlichen modus operandi folgen.

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Februar 2010 beschlossen:

Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Genügt, wenn einem Angeklagten eine große Zahl von Vermögensdelikten zur Last gelegt wird, die einem einheitlichen modus operandi folgen, der Anklagesatz den Anforderungen des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, wenn in diesem, der allein in der Hauptverhandlung nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist, neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie der Gesamtschaden bezeichnet werden und die Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatorte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzelschäden, ergänzend in einem anderen nicht zu verlesenden Teil der Anklageschrift detailliert beschrieben sind?

Gründe:

I. Das Landgericht Mannheim hat den Angeklagten K. wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und den Angeklagten M. wegen Betruges in 369 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen. Die Revisionen beanstanden mit einer im Wesentlichen inhaltsgleichen Verfahrensrüge, dass der in der Hauptverhandlung verlesene Anklagesatz keine ausreichende Konkretisierung der einzelnen Tatvorwürfe und Tatumstände enthalte und daher nicht den Anforderungen des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO genüge. Insoweit sei zwar kein die Umgrenzungsfunktion berührender Mangel der Anklageschrift gegeben, indes genüge die Anklage nicht der ihr zukommenden Informationsfunktion. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes, der dieser Rüge zu Grunde liegt, wird auf den Anfragebeschluss des Senats in dieser Sache vom 2. September 2009 (Rdn. 4 bis 10) verwiesen. Klarstellend wird der Sachverhalt insoweit ergänzt, dass die als „Anlagen“ bezeichneten Tabellen, in denen die einzelnen Taten hinsichtlich der Person der jeweils Geschädigten, der Tatorte und der Tatzeit sowie der Einzelschäden konkretisiert werden, ein Teil der Anklageschrift sind. Dies wird insbesondere dadurch bestätigt, dass die Anlagen von dem die Anklage verfassenden Oberstaatsanwalt unterschrieben sind. Der Senat hält die Rüge für zulässig und das diesbezügliche Sachvorbringen für erwiesen. Der Senat möchte die Revisionen - dem Beschlussantrag des Generalbundesanwalts folgend - im Wesentlichen verwerfen. Lediglich soweit sowohl im Original der Anklage als auch in den Anlagen, die den Schöffen ausgehändigt wurden, einzelne Seiten der Tabellen fehlten und aufgrund dieses Versehens einzelne Taten nicht in der zugelassenen Anklage angeführt waren, beabsichtigt der Senat, das Verfahren teilweise einzustellen bzw. die Verfolgung nach § 154a Abs. 2 StPO zu beschränken. Gleiches ist hinsichtlich der Tat Nr. 287 des Angeklagten M. beabsichtigt. Nach den bisherigen Feststellungen trat bei dieser Tat eine G. und nicht der Angeklagte M. als Vermittlerin auf, so dass die Tat dem Angeklagten nicht ohne weiteres zugerechnet werden kann. Im Übrigen erachtet der Senat die Sachrüge und die sonstigen Verfahrensrügen für unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. An der Verwerfung der vorstehend geschilderten Verfahrensrüge, die auf Verletzung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO gestützt ist und die der Senat ebenfalls für unbegründet hält, sieht er sich nach Durchführung des Anfrageverfahrens ohne Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG aufgrund des Urteils des 2. Strafsenats vom 28. April 2006 (2 StR 174/05 = NStZ 2006, 649) gehindert. In dieser Entscheidung hatte der 2. Strafsenat erkannt, dass bei einer Serie von Straftaten grundsätzlich erforderlich sei, dass die dem Angeklagten im einzelnen vorgeworfenen Tathandlungen nach Tatzeit, Tatort, Tatausführung und anderen individualisierenden Merkmalen ausreichend beschrieben und dargelegt werden. Dies sei nach der genannten Entscheidung nicht der Fall, wenn bei einer Tatserie im Anklagesatz nur der Tatplan sowie die Tatausführung allgemein beschrieben und die individualisierenden Merkmale der Einzeltat im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen aufgeführt sind. Danach wäre hier ein Verfahrensfehler gegeben. Da der 2. Strafsenat in dem vorgenannten Urteil entschieden hat, dass in Fällen wie dem vorliegenden aufgrund des Umfanges des Verfahrensstoffes ein Beruhen des Urteils regelmäßig nicht ausgeschlossen werden kann, wäre auf der Grundlage dieser Entscheidung die Rüge auch im vorliegenden Fall begründet. Mit dem vorgenannten Beschluss vom 2. September 2009 hat der Senat bei dem 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs angefragt, ob er an seiner entgegenstehenden Entscheidung festhält, bei den übrigen Strafsenaten, ob der beabsichtigten Entscheidung dortige Rechtsprechung entgegensteht und ob gegebenenfalls an dieser festgehalten wird. Der 2. Strafsenat hat mit Beschluss vom 25. November 2009 (2 ARs 455/09) ausgesprochen, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält. Die übrigen Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben mitgeteilt, dass dortige Rechtsprechung der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegensteht. Während der 4. Strafsenat (Beschl. vom 8. Dezember 2009 - 4 ARs 17/09) und der 5. Strafsenat (Beschl. vom 28. Oktober 2009 - 5 ARs 53/09) der Rechtsansicht des Senats zustimmen, hat der 3. Strafsenat mit Beschluss vom 17. November 2009 (3 ARs 16/09) Zweifel geäußert, ob sich die beabsichtigte Verfahrensweise ohne Tätigwerden des Gesetzgebers allein auf der Grundlage des geltenden Strafprozessrechts umsetzen lässt.

II.

1. Der Senat legt die streitige Rechtsfrage dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor. Die Vorlage erfolgt sowohl aus Gründen der Divergenz zur Rechtsprechung des 2. Strafsenats (§ 132 Abs. 2 GVG) als auch nach § 132 Abs. 4 GVG, da die Rechtsfrage nach Auffassung des Senats auch zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

a) In Abweichung von dem Rechtssatz, der in dem Anfragebeschluss aufgestellt wurde, konkretisiert der Senat die Rechtsfrage in zwei Punkten. Im Hinblick auf die Bedenken des 2. Strafsenats, wonach der Begriff der „zahlreichen Vermögensdelikte“ einen „Quell zukünftiger Unklarheiten, Auslegungsbedürfnisse und Rechtsstreitigkeiten enthalte“, wird nunmehr - in Anlehnung an die vom Gesetzgeber in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 StGB; § 306b Abs. 1 Alt. 2 StGB; § 330 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB gewählten Tatbestandsmerkmale - vorausgesetzt, dass eine „große Zahl“ von Vermögensdelikten gegeben ist [vgl. dazu nachfolgend 2. c) aa]. Zudem wird klargestellt, dass es sich bei der - regelmäßig tabellarisch erfolgenden - Auflistung der Einzelheiten der Taten, d.h. den konkreten Tatzeitpunkten, der Tatopfer und der jeweiligen Einzelschäden, um einen Teil der Anklageschrift handelt, der lediglich - wie das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen - nicht nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist.

b) In Abkehr von der Rechtsprechung des 2. Strafsenats genügt nach Auffassung des Senats, wenn einem Angeklagten eine große Zahl von Vermögensdelikten zur Last gelegt wird, die einem einheitlichen modus operandi folgen, die Anklageschrift den Anforderungen des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, wenn im konkreten Anklagesatz, der allein in der Hauptverhandlung nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist, neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie der Gesamtschaden bezeichnet werden und die Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatorte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzelschäden, ergänzend in einem eigenständigen Abschnitt der Anklageschrift, der nicht nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist, detailliert beschrieben sind.

2. Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats aus folgendem:

a) Insbesondere im Hinblick auf die zunehmende Verfolgungsdichte im Bereich der Wirtschaftskriminalität (z.B. im Bereich des ärztlichen Abrechnungsbetruges) einerseits und neuer Formen der Tatbegehung - namentlich unter Ausnutzung der Möglichkeiten des Internets - andererseits, besteht in Verfahren, bei denen massenweise und gleichförmig begangene Vermögensdelikte zur Anklage kommen, das praktische Bedürfnis, die Hauptverhandlung von der zeitaufwändigen Verlesung der Aufstellung der einzelnen Taten zu entlasten (so ausdrücklich der 3. Strafsenat im Antwortbeschluss vom 17. November 2009 - 3 ARs 16/09 - unter Hinweis auf die Anm. vom Wilhelm NStZ 2007, 358 zur Entscheidung des LG Mühlhausen NStZ aaO; vgl. insoweit auch die Fallschilderung von Müller NJW 2009, 3745, 3746). Dem Senat ist darüber hinaus zum Beispiel ein Verfahren bekannt, in dem der zu verlesende Anklagesatz auf der Grundlage des Urteils des 2. Strafsenats einen Umfang von knapp 6.000 Seiten hätte. Die insoweit erforderliche Verlesung würde mehrere Verhandlungstage in Anspruch nehmen, was eine erhebliche Beeinträchtigung der Ressourcen der Justiz sowie der weiteren Verfahrensbeteiligten mit sich bringen würde. Dem kann nach Auffassung des Senats mit einer sinnhaften Auslegung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO nach Maßgabe der Vorlagefrage begegnet werden.

b) Entgegen der Zweifel, die der 3. Strafsenat in seinem Antwortbeschluss geäußert hat und entgegen der Rechtsauffassung von Teilen des 2. Strafsenats, die eine konzentrierte Fassung des konkreten Anklagesatzes nicht mit den Vorschriften des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO für vereinbar erachten (2. Strafsenat, Beschl. vom 25. November 2009 - 2 ARs 445/09 - dort Rdn. 8 ff.), ist die Auffassung des Senats zwanglos sowohl mit Wortlaut als auch mit Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften in Einklang zu bringen, die der Gesetzgeber bei der Neufassung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO im Blick hatte (nachfolgend aa). Es bedarf daher weder einer Gesetzesänderung, noch ist - wie andere Teile des 2. Strafsenats erwägen (Beschl. vom 25. November 2009 - 2 ARs 445/09 - dort Rdn. 12) - eine entsprechende Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO erforderlich. Vielmehr wird die Auffassung des Senats den Funktionen, die der Fassung des Anklagesatzes und dessen Verlesung im Strafverfahren zukommt, gerecht (nachfolgend bb).

aa) § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO und § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO in ihrer heutigen Fassung gehen zurück auf das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 (BGBl. I 1067). Mit diesem wurde § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO dahingehend geändert, dass die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses, in dem nach der Neufassung des Gesetzes nur noch über die Zulassung der Anklage zu entscheiden ist, durch die Verlesung des Anklagesatzes ersetzt wurde. Gleichzeitig wurde § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO neugefasst. An Stelle der bisherigen Formulierung, wonach „die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat unter Hervorhebung ihrer gesetzlichen Merkmale und des anzuwendenden Strafgesetzes zu bezeichnen“ war, trat die noch heute gültige Legaldefinition des Begriffes „Anklagesatz“, der sich auch in § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO wieder findet. Nach dem Willen des Gesetzgebers kommt dabei dem Anklagesatz besondere Bedeutung zu (vgl. Anlage zur Kabinettsvorlage des BMJ vom 10. Juni 1960 - 4100/1B - O - 22 872/60 - S. 76). Demgemäß forderte die damalige Kommentarliteratur im Anschluss an die Gesetzesänderung, dass die Tat als klarer Lebensvorgang so geschildert werden müsse, dass dem Leser (auch dem juristisch nicht vorgebildeten) erkennbar werde, welches Tun oder Unter-lassen Gegenstand der Aburteilung sein soll (Kohlhaas in LR 22. Aufl. § 200 Anm. 4). Weiter wurde als erforderlich angesehen, dass die rechtliche Subsumtion klar und erschöpfend sein soll, was aber nicht auf Kosten der allgemeinen Verständlichkeit gehen dürfe. Namentlich im Hinblick auf die Fortsetzungstat wurde als notwendig, aber auch ausreichend angesehen, dass die Einzelakte aus der Anklageschrift zu erkennen sind, wobei es als ausreichend angesehen wurde, wenn einzelne Akte konkret bezeichnet werden und auf den Fortsetzungszusammenhang verwiesen wird (Kohlhaas aaO Anm. 5). Insoweit hatte sich die Literatur an der bereits vor der Gesetzesänderung ergangenen Rechtsprechung und Literatur orientiert, nach der nicht notwendig war, bei fortgesetzter Handlung jeden Einzelakt in individualisierter Eigenart anzugeben (vgl. OLG Oldenburg NJW 1952, 990; Schmidt Lehrkommentar zur Strafprozessordnung 1957 § 200 Erl. 10).

bb) Vor diesem Hintergrund kann nicht angenommen werden, dass es der Gesetzgeber bei der Neufassung der einschlägigen Vorschriften für erforderlich erachtete, bei Serientaten sämtliche Einzeltaten in den Teil der Anklage aufzunehmen, der in der Hauptverhandlung zu verlesen ist (Anklagesatz). Vielmehr ist - auch gemessen an der Funktion und der Stellung der Verlesung des Anklagesatzes in der Hauptverhandlung - davon auszugehen, dass der zu verlesende Anklagesatz nach dem Willen des Gesetzgebers geeignet sein soll, die wesentlichen Gesichtpunkte der zur Aburteilung stehenden Lebenssachverhalte für alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit in einer solchen Form zu präsentieren, dass der weitere Gang der Hauptverhandlung nachvollzogen werden kann. Hierfür ist die Mitteilung aller Einzeltaten in der Verlesung weder erforderlich, noch geeignet, zumindest in den Fällen, in denen die zu verlesenden Details allein aufgrund der schlichten Menge der Information intellektuell nicht erfasst und gespeichert werden können. Der Zweck, der mit der Verlesung des Anklagesatzes nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO verbunden ist, gebietet vielmehr, den konkreten Anklagesatz so zu fassen, dass er bei Verlesung in der Hauptverhandlung für alle Verfahrensbeteiligte sowie die Öffentlichkeit verständlich und erfassbar ist (vgl. auch Nr. 110 Abs. 1 RiStBV, im Ansatz ebenso Britz in FS Müller, 2008, S. 107, 111 f., der zutreffend von der „Hörverständlichkeit“ des zu verlesenden Anklagesatzes spricht). Verständlichkeit und Erfassbarkeit des Inhaltes ist bei Tabellenwerken, die mehrere hundert Seiten füllen und über viele Stunden oder Tage verlesen werden, aber gerade nicht gegeben.

cc) Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs trug diesen Gesichtspunkten in der Folge Rechnung, indem sie bei der Anklage einer fortgesetzten Handlung anerkannte, dass bei ausreichender Konkretisierung eines Lebenssachverhaltes innerhalb der gesamten Anklage nicht einmal die Darstellung der Einzelakte erforderlich war (BGH, Urt. vom 27. Mai 1975 - 5 StR 184/75; Urt. vom 2. Mai 1985 - 4 StR 142/85).

dd) Ein solches Verständnis vom Wesen des Anklagesatzes steht auch im Einklang mit dem allgemeinen Wortsinn des Begriffes „Satz“, der eine knappe, alle wesentlichen Gesichtspunkte erfassende Schilderung des angeklagten Lebenssachverhaltes nahe legt. Mit der Neufassung des § 200 Abs. 1 Satz 1 wollte der Gesetzgeber einen zu schleppenden und zu schwer verständlichen Aufbau vermeiden.

ee) In Anbetracht der in der Praxis aufgrund der bisherigen Auslegung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO bestehenden Probleme, die sich nicht bei der Abfassung der Anklage, sondern vielmehr bei deren Verlesung in der Hauptverhandlung stellen, reduziert sich die aufgeworfene Rechtsfrage im Ergebnis letztlich darauf, ob die Verlesung der Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatorte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzelschäden, im Hinblick auf die Funktionen, die dem Anklagesatz zukommen, geboten ist. Insoweit ist folgendes zu sehen:

(1) Die Anklage dient zunächst dazu, die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll (Umgrenzungsfunktion, vgl. BGHSt 40, 390, 392). Dieser Umgrenzungsfunktion wird die Anklage, die in der nach Auffassung des Senats gebotenen Art und Weise abgefasst (oben 1. b) ist, gerecht. Durch die Angabe der Zahl der Einzeltaten, die in einem umgrenzten Tatzeitraum begangen wurden und die zudem in den Tabellen der Einzeltaten konkretisiert werden, ist eine hinreichende Individualisierung der Taten gegeben. Für die Beteiligten des konkreten Verfahrens bleibt bei einer solchen Vorgehensweise nicht unklar, welche Einzeltaten nach dem Willen der Staatsanwaltschaft zur Aburteilung stehen. Auch in anderen Verfahren, in denen der Umfang der angeklagten Taten im Hinblick auf Fragen des Strafklageverbrauchs o.ä. bedeutsam sein könnte, kann zweifelsfrei festgestellt werden, welche Einzeltaten von der Anklage umfasst sind. In diesem Sinn machen die Revisionen im vorliegenden Verfahren auch zu Recht kein Verfahrenshindernis geltend, das gegeben wäre, wenn die vorliegende Anklage nicht der Umgrenzungsfunktion entsprechen würde. Auch der 2. Strafsenat erachtete in der Entscheidung, von der abgewichen werden soll, die Umgrenzungsfunktion noch als hinreichend gewahrt. Den durchgreifenden Rechtsfehler erkennt der 2. Strafsenat vielmehr darin, dass der Informationsfunktion der Anklage nicht entsprochen wurde, da die Einzelheiten, die die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten konkretisieren, nicht nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO in der Hauptverhandlung verlesen wurden (2. Strafsenat, Urt. vom 28. April 2006 - 2 StR 174/05 - Rdn. 7).

(2) Entscheidend ist daher, ob im Hinblick auf die Informationsfunktion der Anklage über die Verlesung des Anklagesatzes hinaus, in dem neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie der Gesamtschaden bezeichnet werden, die Verlesung der Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatorte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzelschäden, geboten ist. Dies ist nach der Auffassung des Senats zu verneinen. Im Hinblick auf die Informationsfunktion kommt der Anklage die Aufgabe zu, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr Prozessverhalten auf den mit der Anklage erhobenen Vorwurf einzustellen (vgl. BGHSt 40, 44, 47 f.).

(a) Der Informationsfunktion gegenüber dem Angeklagten entspricht das Gesetz dabei zunächst insoweit, als die Anklageschrift dem Angeschuldigten nach § 201 Abs. 1 StPO zugestellt wird. Bereits dadurch soll die umfassende und zuverlässige Unterrichtung des Angeschuldigten gewährleistet werden, um ihm rechtliches Gehör bereits vor der Eröffnung des Hauptverfahrens und die Möglichkeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu geben (vgl. Schneider in KK 6. Aufl. § 201 Rdn. 1 m.w.N.). Diese, die Informationsfunktion gegenüber dem Angeklagten prägenden Gesichtspunkte, werden durch die Abfassung der Anklage in der vorliegenden Art und Weise aber nicht beeinträchtigt, da dem Angeklagten die gesamte Anklage zugestellt wird. Insoweit ist auch - verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG NStZ 2004, 214) - anerkannt, dass die Übersetzung der Anklage in der Hauptverhandlung nicht erforderlich ist, wenn dem des Lesens Kundigen eine schriftliche Übersetzung überlassen wird (Schneider in KK 6. Aufl. § 243 Rdn. 21, Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 243 Rdn. 13). Soweit darüber hinaus dem Angeklagten in der Hauptverhandlung durch die Verlesung nochmals die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verdeutlicht werden sollen, wird diesem Zweck durch die Verlesung (und ggfs. Übersetzung) der - quasi vor die Klammer gezogenen - Kernvorwürfe ausreichend Rechnung getragen. Eine Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten ist hierin nicht zu sehen.

(b) Auch gegenüber den weiteren Verfahrensbeteiligten, die die gesamte Anklage ausgehändigt erhalten, wird der Informationsfunktion durch die Überlassung der Anklage entsprochen. Der Fassung des zu verlesenden Anklagesatzes kommt daher im Hinblick auf die Informationsfunktion nur noch insoweit Bedeutung zu, als die Schöffen über den Verfahrensgegenstand informiert werden. Daneben tritt die Information der Öffentlichkeit. Insoweit ist die relevante Problematik weiter darauf einzugrenzen, ob durch die Verlesung eines unüberschaubaren Anklagesatzes, der auch die Tateinzelheiten in Tabellen umfasst, der Information der Schöffen und der Öffentlichkeit besser entsprochen werden kann. Dies ist im Hinblick auf die eingeschränkte Verständlichkeit und Erfassbarkeit der in Rede stehenden Tabellenwerke zu verneinen.

(aa) Die Schöffen sollen durch die Verlesung des Anklagesatzes mit dem Gegenstand der Verhandlung und mit den Grenzen, in denen sich diese und die Urteilsfindung zu bewegen hat, bekannt gemacht werden. Sie sollen so über den erhobenen Tatvorwurf informiert werden, dass sie ihr Amt ausüben können. An diesen Funktionen gemessen ist der Informationswert einer gruppierten Darstellung gegenüber der bloß chronologischen Auflistung der Einzeltaten weitaus höher. Die für die Beurteilung der Sachverhalte maßgeblichen Gesichtspunkte können von allen Verfahrensbeteiligten schneller erfasst und bewertet werden. Demgegenüber bringt die stunden- oder tagelange Verlesung (vgl. oben II. 2. a) hunderter, zuweilen tausender von Datensätzen, bei dem die Aufmerksamkeit der Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit regelmäßig rasch erlahmt, keinen weitergehenden Erkenntnisgewinn. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Einzeltaten im Laufe der Hauptverhandlung ohnehin im Detail eingeführt werden müssen. Bereits dadurch ist ausgeschlossen, dass die Schöffen bei der Urteilsfindung nicht über die Tateinzelheiten informiert sind. Daneben können die - nicht zu verlesenden - Tabellenwerke den Schöffen ausgehändigt werden (s.a. Krehl NStZ 2008, 525, 526), ohne dass dies freilich für eine hinreichende Anklageverlesung i.S.v. § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlich wäre. So kann den Schöffen das Nachvollziehen der einzelnen Feststellungen in der Hauptverhandlung erleichtert werden. Die Aushändigung des Anklagesatzes wird grundsätzlich als zulässig angesehen (vgl. Häger in GedSchr. für Karlheinz Meyer, 1990, S. 171, 172 ff.; Schneider in KK 6. Aufl. § 243 Rdn. 21; Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 243 Rdn. 13) und auch seitens des 2. Strafsenats im Antwortbeschluss befürwortet. Sie widerspricht auch nicht dem Grundsatz des fairen Verfahrens (EGMR NJW 2009, 2871, 2873). Durch die Aushändigung der gesamten Anklage einschließlich der Tabellen mit den Einzeltaten wird den Schöffen ermöglicht, der weiteren Hauptverhandlung - namentlich der Beweisaufnahme - anhand der schriftlich vorliegenden Anklage zu folgen. Jeweils dann, wenn der Gang der Hauptverhandlung dies erforderlich macht, kann der Schöffe auf die maßgeblichen Punkte zurückgreifen. Gerade dann wird er auch die Einzelheiten des konkret nachzuweisenden Falles am besten erfassen können. Deshalb ist - orientiert an den Zwecken, die der Anklage zukommen - die Auffassung des Senats auch vorzugswürdig gegenüber einer Einführung der Anklage in entsprechender Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO, wie sie ein Teil des 2. Strafsenats befürwortet (2. Strafsenat, Beschl. vom 25. November 2009 - 2 ARs 445/09 - dort Rdn. 12). Denn die Einführung der Anklage in entsprechender Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO müsste - den Vorgaben des § 243 Abs. 3 StPO folgend - vor Eintritt in die Beweisaufnahme erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt bestehen indes die nämlichen Bedenken im Hinblick auf die intellektuelle Erfassbarkeit der Einzeldaten der Taten, wie sie im Hinblick auf die Verlesung des gesamten Anklagesatzes bestehen. Der eigentliche Erkenntnisgewinn kommt den Daten der Einzeltaten erst dann zu, wenn diese Gegenstand der Beweisaufnahme sind.

(bb) Auch die Öffentlichkeit wird durch die Verlesung des konkreten Anklagesatzes, wie er nach Auffassung des Senats gefasst sein kann, hinreichend informiert. Eine Bekanntgabe der Daten, die die Einzelfälle konkretisieren, ist demgegenüber nicht erforderlich (so wohl auch Krehl aaO). Denn Zweck des Öffentlichkeitsprinzips ist einerseits die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit. Daneben dient sie dem Informationsinteresse des Publikums sowie spezial- und generalpräventiven Zwecken (vgl. Diemer in KK 6. Aufl. GVG § 169 Rdn. 2). Diese Zwecke werden aber auch gewahrt, ohne dass eine dem Formalismus, nicht mehr aber dem eigentlichen Sinn der Vorschriften Rechnung tragende langatmige Verlesung des Anklagesatzes erfolgt, die allenfalls dessen akustische Wahrnehmung, nicht aber seine Aufnahme oder ein intellektuelles Verarbeiten durch die Zuhörer bewirkt. Zudem ist auch an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass die Einzeltaten im Laufe der Hauptverhandlung ohnehin im Detail eingeführt werden müssen. Auch die Öffentlichkeit wird dadurch hinreichend über die weiteren Tateinzelheiten informiert. Daher erweist sich auch im Hinblick auf die Information der Öffentlichkeit eine Einführung der Anklage in entsprechender Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO gerade nicht als die geeignetere Verfahrensweise. Die vollständige Ersetzung der Verlesung würde dazu führen, dass jegliche Information der Öffentlichkeit über den Verfahrensgegenstand entfiele. Sollte nur die Verlesung der Einzeldaten ersetzt werden, ergäbe sich kein weitergehender Erkenntnisgewinn.

c) Nach Auffassung des Senats bestehen daher weder im Hinblick auf den Wortlaut des Gesetzes noch auf den Zweck, den das Gesetz mit der Fassung und der Verlesung des Anklagesatzes verfolgt, Bedenken gegen die vom Senat vertretene Auslegung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO. Vor diesem Hintergrund ist - entgegen der Vorbehalte des 3. Strafsenats (Beschl. vom 17. November 2009 - 3 ARs 16/09 - Rdn. 7) - eine sinnhafte Auslegung auch möglich, so dass es einer Gesetzesänderung nicht bedarf. Darüber hinaus erachtet der Senat auch die weiteren Gesichtspunkte, die der 2. Strafsenat in seinem Antwortbeschluss vom 25. November 2009 und der 3. Strafsenat in seinem Antwortbeschluss vom 17. November 2009 anführen, nicht als durchschlagend:

aa) Soweit in den Antwortbeschlüssen das im Anfragebeschluss angeführte Abgrenzungskriterium der „zahlreichen“ Vermögensdelikte als zu unbestimmt erachtet wird, kann dem nach Auffassung des Senats dadurch begegnet werden, dass in Anlehnung an § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 StGB; § 306b Abs. 1 Alt. 2 StGB; § 330 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB auf eine große Zahl von Vermögensdelikten abgestellt wird. Diese wird ab 20 Taten gegeben sein (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 267 Rdn. 40; § 330 Rdn. 8). Werden insoweit bereits im materiellen Strafrecht keine Bedenken gegen die hinreichende Bestimmtheit der dortigen Tatbestandsmerkmale erhoben, können nach Auffassung des Senats auch keine weitergehenden Bedenken gegen die Bestimmtheit der für die in strafprozessualer Hinsicht erforderlichen Voraussetzungen bestehen. Die Anforderungen an den Begriff der „großen Zahl“ kann daher durch die Rechtsprechung hinreichend konkretisiert werden.

bb) Auch der als weiteres Abgrenzungsmerkmal aufgenommene Begriff des „einheitlichen modus operandi“ ist nach Auffassung des Senats hinreichend bestimmt, um in der Praxis eine sachgerechte Handhabung zu ermöglichen. Denn ein einheitlicher modus operandi ist nur dann gegeben, wenn die vom Senat für erforderlich erachtete Gruppierung möglich ist. Nur dann, wenn für die große Zahl von Taten eine allgemeingültige Beschreibung der Tatbegehung, die quasi vor die Klammer gezogen wird, erfolgen kann, ist eine Konkretisierung des Anklagesatzes einerseits möglich und andererseits auch sinnvoll.

cc) Durch das Erfordernis der Gruppierungsmöglichkeit aufgrund eines einheitlichen modus operandi ist zuletzt nach Auffassung des Senats auch den seitens des 2. Strafsenats gehegten Befürchtungen, dass die Aufstellungen der Einzeltaten in tabellarischer Form besonders fehleranfällig seien, hinreichend begegnet. Ohnehin ist für die Frage, welchen Umfang der nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verlesende Anklagesatz im Hinblick auf die Informationsfunktion aufweisen muss, die Frage der Fehleranfälligkeit des Erstellens von Tabellen ohne Belang. Allenfalls für die Frage, ob Einzeltaten überhaupt in der Anklage tabellarisch erfasst werden dürfen, kann die Fehlerhaftigkeit eines solchen Vorgehens von Bedeutung sein. Dessen ungeachtet ist aber gerade dadurch, dass die Gruppierung der einzelnen Taten einerseits dazu zwingt, die Besonderheiten des Einzelfalles genauer in den Blick zu nehmen, andererseits aber auch die Möglichkeit schafft, die für mehrere Taten übereinstimmenden Gesichtspunkte herauszustellen, eine sachgerechte tatsächliche und rechtliche Erfassung des Einzelfalles möglich.

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