StPO § 243 Abs. 4 Unzureichende Mitteilung des Inhalts eines von mehreren Verständigungsgesprächen
BGH, Beschl. v. 21. März 2017 – 1 StR 622/16
Die Mitteilungspflicht aus § 243 IV 1 StPO umfasst den Inhalt sämtlicher Vorgespräche, die auf eine Verständigung abzielten. Eine Mitteilung, wonach „ausgehend“ von einem vorangegangenen Gespräch, dessen Inhalt im Einzelnen mitgeteilt worden war, ein weiteres Verständigungsgespräch zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten geführt wurde, genügt nicht. Vielmehr muss auch dessen Inhalt mitgeteilt bzw. – wenn dies der Fall war – ausdrücklich klargestellt werden, dass die Gespräche inhaltlich übereinstimmten. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts am 21. März 2017 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 28. Juli 2016, soweit es ihn betrifft und er verurteilt wurde, mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen Steuerhinterziehung in 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Die gegen die Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Rüge der Verletzung der Mitteilungspflicht gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO Erfolg.
I.
1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
a) Im Zwischenverfahren kam es am 14. April 2016 zu Erörterungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung, die den Verfahrensstand betrafen und der Vorbereitung einer möglichen Verständigung im Rahmen der Hauptverhandlung dienten. Der Staatsanwalt fertigte über den Inhalt und das Ergebnis der Erörterung einen Vermerk nach § 160b StPO an.
b) Vor der Eröffnung des Hauptverfahrens erfolgte am 18. Mai 2016 ein Erörterungstermin vor der Wirtschaftsstrafkammer, an dem zwei Richter des erkennenden Spruchkörpers, der Vertreter der Staatsanwaltschaft und jeweils ein Verteidiger des Angeklagten und des nichtrevidierenden Mitangeklagten teilnahmen. Neben materiell-rechtlichen und prozessualen Fragen besprachen die Verfahrensbeteiligten und die anwesenden Mitglieder der Wirtschaftsstrafkammer im Einzelnen ihre Vorstellungen zum Strafmaß; darüber hinaus erörterten sie die Möglichkeit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen den Angeklagten. Die Beteiligten stimmten überein, nach Prüfung der Besprechungsergebnisse eine Verfahrensverständigung gemäß § 257c StPO erzielen zu wollen. Der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer legte den Inhalt und das Ergebnis der Besprechung in einem Vermerk nieder.
c) Nach Eröffnung des Hauptverfahrens kam es vor Beginn des ersten Hauptverhandlungstages am 23. Juni 2016 zu weiteren nicht öffentlich geführten Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung. An diesem Vorgespräch beteiligten sich die Mitglieder des erkennenden Spruchkörpers, der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sowie die Verteidiger des Angeklagten und die des Mitangeklagten. d) In der sich anschließenden Hauptverhandlung gab der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes, Erteilung eines rechtlichen Hinweises und Belehrung der Angeklagten über ihr Schweigerecht Folgendes zu den geführten Vorgesprächen bekannt: Er teilte mit, dass es am 14. April 2016 zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung eine Erörterung gegeben habe und verlas den hierzu gefertigten Vermerk des Staatsanwalts. Danach gab er weiter bekannt, dass es am 18. Mai 2016 ein Vorgespräch mit dem Ziel einer Verfahrensverständigung nach § 257c StPO vor der Strafkammer gegeben habe und verlas ebenfalls den hierzu erstellten Vermerk. Schließlich teilte er mit, dass im Vorfeld des Hauptverhandlungstermins „am heutigen Tage nochmals ausgehend von dem Vorgespräch vom 18.05.2016 ein Gespräch zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten geführt wurde, mit dem Ziel einer Verständigung gem. § 257c StPO“. Den (wesentlichen) Inhalt dieses Gespräches teilte der Vorsitzende jedoch nicht mit. Vielmehr unterbreitete er den Verfahrensbeteiligten sogleich einen gerichtlichen Vorschlag zu einer Verfahrensverständigung, belehrte nach § 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO den Angeklagten, der – wie die Staatsanwaltschaft – in einem späteren Hauptverhandlungstermin dem Vorschlag zustimmte.
2. Die Revision rügt, dass der Vorsitzende im Rahmen seiner Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht über sämtliche vor der Hauptverhandlung geführten Verständigungsgespräche berichtet habe. Dies betreffe den nicht mitgeteilten Inhalt der unmittelbar vor dem ersten Hauptverhandlungstag am 23. Juni 2016 zwischen den Verfahrensbeteiligten erfolgten Erörterungen.
II. Die zulässige Rüge der Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO hat Erfolg.
1. Die Verfahrensrüge ist entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts in zulässiger Weise erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nur hinsichtlich solcher Erörterungen der Verfahrensbeteiligten, deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung war, in denen ausdrücklich oder konkludent Fragen des prozessualen Verhaltens des Angeklagten in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht wurden (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2014 – 1 StR 423/13, NStZ 2014, 217; Beschlüsse vom 25. Juni 2015 – 1 StR 579/14, NStZ 2015, 657 und vom 29. April 2014 – 3 StR 24/14, NStZ 2014, 529 unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, NJW 2013, 1058, 1065). Insofern teilt die Revision jedoch lediglich mit, dass am 23. Juni 2016 ein weiteres Vorgespräch unmittelbar vor Beginn des ersten Hauptverhandlungstages geführt worden sei, wobei „naturgemäß“ die Verteidiger des Angeklagten über „keine genaue Erinnerung mehr“ und „auch über keine Mitschriften über das Gespräch“ verfügten. Erinnerlich sei den Verteidigern lediglich, dass sie ausgeführt hätten, eine Haftstrafe deutlich unter sechs Jahren anzustreben, wobei ein Verteidiger es für wahrscheinlich hielt, „die von ihm angesprochenen fünf Jahre und zwei Monate ins Gespräch“ gebracht zu haben. Zudem sei die Frage einer Haftverschonung seitens der Verteidigung angesprochen worden. Zu der Frage, ob die Erörterungen der Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit einer Verfahrensverständigung zum Gegenstand hatten, also ausdrücklich oder konkludent Fragen des prozessualen Verhaltens des Angeklagten in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht wurden, verhält sich die Revision, die insoweit gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vortragspflichtig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2014 – 3 StR 24/14, NStZ 2014, 529), nicht.
b) Dass das unmittelbar vor dem ersten Hauptverhandlungstermin geführte Vorgespräch am 23. Juni 2016 zum Ziel hatte, eine Verständigung der Verfahrensbeteiligten im Sinne von § 257c StPO mit entsprechendem prozessualen Verhalten des Angeklagten herbeizuführen, ergibt sich jedoch bereits aus der Protokollierung dieses Inhalts in dem von der Revision vorgetragenen Hauptverhandlungsprotokoll. Weitergehenden Vortrag zu den Gesprächsinhalten im Einzelnen bedurfte es im vorliegenden Fall nicht, nachdem der Vorsitzende selbst hierzu keine näheren Angaben gemacht hatte.
2. Eine Verletzung der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO liegt vor.
a) Nach dieser Vorschrift hat der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes und vor Belehrung und Vernehmung des Angeklagten mitzuteilen, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO greift bei sämtlichen Vorgesprächen ein, die auf eine Verständigung abzielen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2014 – 1 StR 423/13, NStZ 2014, 217 mwN).
b) Demzufolge musste der Vorsitzende im Rahmen seiner Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO auch nähere Angaben zu den Erörterungen unmittelbar vor der Hauptverhandlung am 23. Juni 2016 machen, denn entsprechend der Protokollierung diente das stattgefundene Gespräch der Verfahrensverständigung. Solche Angaben sind nicht erfolgt. Insbesondere genügte es für die Mitteilungspflicht über den Inhalt der Erörterungen vom 23. Juni 2016 nicht, dass der Vorsitzende darauf hinwies, dass „nochmals ausgehend von dem Vorgespräch vom 18. Mai 2016“, dessen Inhalt im Einzelnen mitgeteilt worden war, ein weiteres Gespräch geführt worden ist. Diesem Erklärungsinhalt der Mitteilung ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die Erörterungen vom 23. Juni 2016 (lediglich) den gleichen Inhalt – so die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden – wie die Besprechung vom 18. Mai 2016 hatten. Es hätte dann zumindest der Mitteilung bedurft, dass die Gespräche vom 18. Mai 2016 und vom 23. Juni 2016 den gleichen Inhalt hatten und dass sich hinsichtlich der von den Verfahrensbeteiligten eingenommenen Standpunkte keine Veränderung ergeben habe.
3. Der Senat kann anders als der Generalbundesanwalt nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht.
a) Bei Verstößen gegen die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ist regelmäßig davon auszugehen, dass das Urteil auf diesem Verstoß beruht; lediglich in Ausnahmefällen ist Abweichendes vertretbar (vgl. nur BGH, Urteil vom 13. Februar 2014 – 1 StR 423/13, NStZ 2014, 217 mwN). Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 (NJW 2013, 1058, 1065) im Einzelnen dargelegt hat, hält der Gesetzgeber eine - 369 - Verständigung nur bei Wahrung der umfassenden Transparenzund Dokumentationspflichten für zulässig, weshalb das gesetzliche Regelungskonzept eine untrennbare Einheit aus Zulassung und Beschränkung von Verständigungen bei gleichzeitiger Einhegung durch Mitteilungs-, Belehrungs- und Dokumentationspflichten darstellt (BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, NJW 2013, 1058, 1066). Dies hat zur Folge, dass jeder Verstoß gegen solche gesetzlichen Vorschriften die Verständigung insgesamt „bemakelt“ und damit zur Rechtswidrigkeit der Verständigung führt.
b) Ein Ausnahmefall, bei dem das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß auszuschließen ist, liegt nicht vor. Die Mitteilung des Inhalts sämtlicher auf eine Verständigung abzielender Vorgespräche dient nicht nur der notwendigen Information des bei diesen – auch vorliegend – nicht anwesenden Angeklagten, sondern auch der Information der Öffentlichkeit (BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2015 – 2 BvR 2055/14, NStZ 2015, 172). Jedenfalls unter dem zuletzt genannten Gesichtspunkt konnte der Senat im Blick auf das nahezu vollständige Fehlen einer entsprechenden Mitteilung über den Inhalt des Vorgesprächs ein Beruhen hier nicht ausschließen.