StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren Protokollierung

StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren Protokollierung

BGH, Beschl. v. 14.09.2010 – 3 StR 131/10 - NStZ-RR 2011, 20

Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ord­nungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang.

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 8. September 2009 a) aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. b) und d) sowie M. b) und c) verurteilt worden ist, b) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte schuldig ist des Betruges in 26 Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, des Betruges in 63 Fällen, davon in zehn Fällen in jeweils zwei tateinheitlichen Fällen, des versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in acht Fällen und des versuchten Betruges in sechs Fällen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.  Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse in 26 Fällen, wegen Betruges in 74 Fällen, wegen versuchten Betruges in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Ge­sundheitszeugnisse in acht Fällen und wegen versuchten Betruges in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Außerdem hat es ihm die berufliche Tätigkeit auf den Gebieten der Frauen­heilkunde und der Geburtshilfe sowie der plastischen Chirurgie für die Dauer von drei Jahren untersagt. Die hierge­gen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbe­gründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Das Landgericht hat 11 Fälle, in denen Patientinnen eine vom Angeklagten jeweils in betrügerischer Absicht ge­stellte Arztrechnung über in Wahrheit nicht erbrachte Leistungen bei zwei verschiedenen Abrechnungsstellen - der Beihilfestelle und der privaten Krankenversicherung - zur jeweils anteiligen Begleichung einreichten, als jeweils zwei zueinander in Tatmehrheit stehende Fälle des Betruges, davon in einem Fall in Tateinheit mit Ausstellen un­richtiger Gesundheitszeugnisse, bewertet. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Bei mehreren Tatbeteiligten ist die Frage der Handlungseinheit oder -mehrheit für jeden Beteiligten nach der Art seines Tatbeitrages selbstständig zu ermitteln. Bei Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft sind selbstständige Betrugstaten der unmittelbar gegen­über den Geschädigten Handelnden beim Mittäter oder Hintermann, dessen Handlung sich in nur einer Tätigkeit erschöpft, als eine einheitliche Tat anzusehen (BGH, Beschluss vom 17. Juni 2004 - 3 StR 344/03, NJW 2004, 2840, 2841; Beschluss vom 18. Oktober 2007 - 4 StR 481/07, NStZ 2008, 352 f.; Fischer, StGB, 57. Aufl., Vor § 52 Rn. 34 mwN). Das Einreichen der falschen Rechnung durch die Patientinnen bei zwei unterschiedlichen Kostenträgern stellt sich damit für den Angeklagten, der jeweils nur eine unrichtige Rechnung ausstellte, als eine einheitliche Tat dar. Dies führt zur Aufhebung des Urteils wegen Betruges in 11 Fällen und zum Wegfall der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen von zwei Mal einem Jahr und zwei Monaten in den Fällen V. b) und M. c) sowie von neun Mal einem Jahr in den Fällen K. b), d), f), h), j), l) und n), V. d) und M. b). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geän­dert. Trotz des Wegfalls von 11 Einzelstrafen hat die Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten Be­stand. Der Senat kann im Hinblick auf die verbleibenden 103 Einzelfreiheitsstrafen in Höhe von zwei Mal einem Jahr und sechs Monaten, 10 mal einem Jahr und vier Monaten, 47 mal einem Jahr und zwei Monaten, 30 mal einem Jahr, acht mal 10 Monaten und sechs mal acht Monaten ausschließen, dass das Landgericht auf eine niedrigere Gesamt­strafe erkannt hätte, wenn es die weggefallenen Einzelstrafen nicht in die Gesamtstrafenbildung mit einbezogen hätte.

2. Im verbleibenden Umfang der Verurteilung hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtferti­gung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO). Nicht durchgreifend ist ins­besondere die Verfahrensbeanstandung, das Landgericht habe dem Urteil unter Verstoß gegen § 261 StPO Feststel­lungen zugrunde gelegt, die wegen fehlerhafter Durchführung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO nicht Gegenstand der Hauptverhandlung geworden seien (s.a. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 -3 StR 76/10 - zu einer inhaltsgleichen Rüge). Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Im Zuge der Beweisaufnahme zu 13 Fällen betref­fend insgesamt acht Patientinnen hat der Strafkammervorsitzende hinsichtlich jeweils mehrerer Urkunden protokol­liert, dass diese verlesen wurden, dass die Verlesung gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO im Selbstleseverfahren erfolg­te und dass der Angeklagte, der Verteidiger sowie die Vertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Kenntnis­nahme erhielten. Im weiteren Verlauf hat er -jeweils nach Unterbrechung der Hauptverhandlung - zu Protokoll die Feststellung getroffen, die Schöffen und die Berufsrichter hätten von den jeweiligen schriftlichen Unterlagen "Kenntnis genommen". Die Revision beanstandet, es sei nicht festgestellt worden, dass die Richter und Schöffen "vom Wortlaut" der Urkunden Kenntnis genommen hätten. Kenntnis von einer Urkunde sei mit der Kenntnis von deren Wortlaut nicht gleichzusetzen. Das Protokoll beweise, dass der Wortlaut von den Richtern nicht zur Kenntnis genommen worden sei. Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Wortlaut des Protokollvermerks nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO ist für den Nachweis der ordnungsgemäßen Durchführung des Selbstleseverfahrens ohne Belang. Im Einzel­nen: Gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO darf von der Verlesung einer Urkunde oder eines anderen Schriftstücks - ne­ben anderen Voraussetzungen - dann abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde oder des Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Die "Feststellungen über die Kenntnisnahme" sind nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Durch einen entsprechenden Protokollvermerk kann indes nicht bewiesen (§ 274 Abs. 1 Satz 1 StPO) werden, dass die Richter und Schöffen tatsächlich vom Wortlaut Kenntnis genommen haben. Dies folgt schon daraus, dass in der Sitzungsniederschrift nur solche Vorgänge beweis­kräftig beurkundet werden können, die sich während der laufenden Hauptverhandlung im Sitzungssaal (oder ggf. einem auswärtigen Verhandlungsort) zugetragen haben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 273 Rn. 19), denn nur diese können der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle durch ihre Unterschrift unter das Pro­tokoll (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) aus eigener Wahrnehmung bestätigen. Das Selbstleseverfahren hat den Kern des Urkundenbeweises - die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt durch die Richter und Schöffen - aber gerade aus der Hauptverhandlung herausverlagert. Damit ist es dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle von vornherein nicht mög­lich zu bestätigen, dass diese tatsächlich vom Wortlaut eines Schriftstücks Kenntnis genommen haben. Nichts ande­res gilt aber auch für den Vorsitzenden. So ist schon gesetzlich nicht bestimmt, dass er bei der Kenntnisnahme durch die beisitzenden Richter und Schöffen präsent ist; aber selbst wenn er -ausnahmsweise - anwesend sein sollte, unter­liegt es nicht seiner Wahrnehmung, ob diese den Wortlaut tatsächlich vollständig zur Kenntnis genommen und mit der Aufmerksamkeit studiert haben, die erforderlich ist, damit sie ihrer Aufgabe der Urteilsfindung verantwortungs­voll gerecht werden können. Der Vorsitzende muss sich daher letztlich auf die Zusicherung der beisitzenden Richter und Schöffen verlassen, dass sie das Schriftstück vollständig gelesen haben, und kann Entsprechendes nur für seine eigene Person aus eigenem Wissen verbindlich bestätigen. Durch die Einführung des Selbstleseverfahrens hat der Gesetzgeber diese potentiellen Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises in Kauf genommen. Dies ist von den Gerichten und den Verfahrensbeteiligten zu akzeptieren. Im Übrigen besteht aber auch bei dem Urkundsbeweis nach § 249 Abs. 1 StPO keine Gewähr dafür, dass die zur Urteilsfindung berufenen Gerichtspersonen der Verlesung ­insbesondere bei der aufeinander folgenden Verlesung einer Vielzahl von Schriftstücken - immer mit der gebühren­den Aufmerksamkeit folgen. Hieraus ergibt sich, dass durch den Protokollvermerk nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO die tatsächliche Kenntnisnahme vom Wortlaut eines Schriftstücks durch die Schöffen und Berufsrichter im Wege des Selbstleseverfahrens nicht nachgewiesen werden kann. Er beweist daher nicht die ordnungsgemäße Durchführung dieses Verfahrens, sondern allein die Tatsache, dass der Vorsitzende in der Hauptverhandlung eine entsprechende Feststellung getroffen hat (KK-Diemer, 6. Aufl., § 249 Rn. 39). Aus seiner Formulierung kann daher kein - im Sinne des § 274 Abs. 1 Satz 1 StPO beweiskräftig belegter -Schluss auf die (nicht) ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens gezogen werden. Nach Auffassung des Senats kommt der Protokollierung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO vielmehr eine andere Funktion zu. Da der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird, bedarf es der Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten, dass der in dieser Sonderform gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des §261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dies wird durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO beweiskräftig vollzogen. Fehlt der entsprechende Vermerk, so ist danach die Inbe­griffsrüge nach § 261 StPO eröffnet. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Verwertung offenkundiger, insbesonde­re gerichtskundiger, außerhalb der Hauptverhandlung gewonnener Tatsachen, die Inbegriff der Hauptverhandlung grundsätzlich nur werden, wenn sie durch entsprechenden Hinweis in diese eingeführt worden sind (Meyer-Goßner, aaO, § 244 Rn. 3 mwN; zur strittigen Frage der diesbezüglichen Protokollierungspflicht vgl. Meyer-Goßner, aaO, §273 Rn. 7 mwN). Durch die hier vom Vorsitzenden zu Protokoll erklärten Feststellungen, die im Übrigen ohnehin als Feststellung der Kenntnisnahme vom Wortlaut der Schriftstücke durch die Schöffen und Berufsrichter auszulegen sein dürften (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2003 - 1 StR 25/03, bei Becker, NStZ-RR 2004, 225, 227 Nr. 9; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 5 StR 169/09, StV 2010, 226), sind die Schriftstücke in hinreichender Form zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden und damit verwertbar.

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