Wegnahme der Kleidung als besondere Sicherungsmaßnahme im Strafvollzug unterliegt strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen
Pressemitteilung Nr. 22/2015 vom 15. April 2015
Die Unterbringung eines vollständig entkleideten Strafgefangenen über mehr als einen Tag in einer durchgängig videoüberwachten Zelle ist mit dessen allgemeinem Persönlichkeitsrecht unvereinbar. Darüber hinaus darf ein Gericht vor dem Hintergrund des Gebots effektiven Rechtsschutzes seiner Entscheidung nicht ohne weiteres die vom Strafgefangenen bestrittenen Ausführungen der Justizvollzugsanstalt zugrunde legen, sondern hat alle verfügbaren Erkenntnismittel auszuschöpfen, um den Sachverhalt festzustellen.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer war im Jahr 2010 in der Abteilung für psychisch auffällige Gefangene in der Justizvollzugsanstalt Kassel I untergebracht. Nachdem die Justizvollzugsanstalt die für den 8. September 2010 vorgesehene Behandlung in der Zahnarztsprechstunde nicht gewährleisten konnte, begann der Beschwerdeführer gegen seine Haftraumtür zu schlagen und zu treten. Im weiteren Verlauf wurde er unter Anlegung von Handfesseln in einen besonders gesicherten Haftraum mit durchgehender Kameraüberwachung verbracht und dort nach Entfernung der Handfesseln vollständig entkleidet. Erst am nächsten Tag erhielt er eine Hose und eine Decke aus schnell reißendem Material. Am 10. September 2010 wurde er in seinen Haftraum zurückverlegt.
2. In seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung führte der Beschwerdeführer aus, dass bei der Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum durch zwei Bedienstete der Justizvollzugsanstalt ihm gegenüber Gewalt angewendet worden sei, so dass er große Schmerzen erlitten habe. In der Zelle sei es kühl gewesen. Die Toilettenspülung habe nicht funktioniert und es habe auch kein Toilettenpapier gegeben. Er habe nicht einschlafen können, weil er gefroren habe. Seine Aktion sei gewaltlos gewesen und er habe sich ohne Gegenwehr festnehmen lassen.
Demgegenüber führte die Justizvollzugsanstalt aus, dass der Beschwerdeführer - wie bereits bei einem ähnlichen Vorfall im Juni 2010 - lautstark gegen die Zellentür getrommelt habe und nicht zu beruhigen gewesen sei. Bei der Verlegung in den besonders gesicherten Haftraum habe er massive Gegenwehr geleistet. Mit angelegten Handfesseln und unter Anwendung des Fesselgriffs sei er in den besonders gesicherten Haftraum geführt worden. Der Haftraum sei dauerhaft beheizt gewesen. Die Darlegungen des Beschwerdeführers hinsichtlich mangelnder Toilettenfunktion und fehlendem Toilettenpapier entsprächen nicht den Tatsachen. Weniger einschneidende Maßnahmen als die Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum seien wegen der befürchteten Eigengefährdung nicht in Betracht gekommen. Zum Ausschluss von Selbstverletzungen durch Kleidungsstücke sei der Beschwerdeführer vor der Unterbringung vollständig entkleidet worden.
3. Mit angegriffenem Beschluss vom 12. Juni 2012 wies das Landgericht Kassel den Antrag als unbegründet zurück. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verwarf die hiergegen erhobene Rechtsbeschwerde mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 26. Februar 2013 als unzulässig. Eine Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung sei weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfassungsrechtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen.
1. Soweit der Beschluss des Landgerichts die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt, den Beschwerdeführer einen Tag lang vollständig entkleidet in einer durchgängig videoüberwachten Zelle unterzubringen, als rechtmäßig bestätigt, lässt er eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG erkennen.
a) Die Zulässigkeit besonderer Sicherungsmaßnahmen richtet sich vorliegend nach dem - in Hessen bis 31. Oktober 2010 gültigen - § 88 des Strafvollzugsgesetzes des Bundes. Im Zusammenhang mit der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum (§ 88 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 5 StVollzG) kann auch die Wegnahme einzelner Kleidungsstücke zur Abwendung erheblicher Gefahren für den Gefangenen, insbesondere Suizid, gerechtfertigt sein (§ 88 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 StVollzG). Dabei erfordert jedoch die Erheblichkeit des Eingriffs und der verfassungsrechtlich gebotene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich, dem Gefangenen mit der Entkleidung Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung zu stellen, um ihm ein Mindestmaß an Intimsphäre zu bewahren und ihn nicht zum bloßen Objekt des Strafvollzuges zu degradieren.
b) Das Landgericht hat die Unterbringung des vollständig entkleideten Beschwerdeführers in einer durchgängig videoüberwachten Zelle als zulässig erachtet und dabei festgestellt, dass die allgemeinen Erwägungen der Justizvollzugsanstalt hinsichtlich der Erforderlichkeit der Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen (Gewalttätigkeiten gegen die Zelleneinrichtung und damit verbundene Selbstverletzungen) auch ihre Entscheidung für die vollständige Entkleidung des Beschwerdeführers trügen. Die Justizvollzugsanstalt hatte die den Entzug der Kleidungsstücke allein rechtfertigende Gefahr der Selbstverletzung allerdings inhaltlich in keiner Weise konkretisiert. Damit verkennt das Landgericht bereits, dass bei einer kumulativen Anordnung einzelner Sicherungsmaßnahmen die Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme detailliert zu begründen ist. Ebenso hat das Landgericht verkannt, dass bereits die Entkleidung eines Gefangenen aufgrund einer lediglich abstrakt festgestellten, aus randalierendem Verhalten gefolgerten Gefahr nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 88 Abs. 1, Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 StVollzG gedeckt sein kann. Auch die Bestätigung der Maßnahme als rechtmäßig, obwohl dem Beschwerdeführer keine Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung gestellt wurde, verdeutlicht die grundsätzliche Verkennung der Bedeutung der durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Intimsphäre des Beschwerde-führers durch das Landgericht.
2. Soweit der Beschluss des Landgerichts die Art und Weise seiner Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum und die konkrete Ausgestaltung seiner Unterbringung als rechtmäßig bestätigt, ist der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Insoweit beruht die Entscheidung auf unzureichender Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts. Der Beschwerdeführer hat in seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vor dem Landgericht detailliert vorgetragen, unter welchen Umständen er von zwei Bediensteten in den besonders gesicherten Haftraum verbracht worden sei und welche erheblichen Mängel dieser aufgewiesen habe. Aufgrund dieser Angaben hätte das Landgericht Nachforschungen anstellen müssen, um dem nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz gerecht zu werden.
Wird - wie vorliegend - die Sachverhaltsdarstellung der Justizvollzugsanstalt vom Gefangenen unter Angabe konkreter Tatsachen bestritten, so darf das Gericht seiner Entscheidung nicht ohne weiteres die Ausführungen der Anstalt zugrunde legen. Die Annahme, es könne ohne weitere Sachverhaltsaufklärung von der Richtigkeit der behördlichen Darstellung ausgegangen werden, bedarf konkreter, auf die Umstände des Falles bezogener Gründe. Derartige Gründe hat das Landgericht weder ausgeführt, noch sind sie sonst ersichtlich. Insbesondere war das der Darstellung der Justizvollzugsanstalt widersprechende Vorbringen des Beschwerdeführers nicht offensichtlich abwegig. Das Landgericht hätte alle verfügbaren Erkenntnismittel ausschöpfen müssen, um den Sachverhalt festzustellen. Es hat aber weder den Beschwerdeführer, die mit ihm unmittelbar befassten Vollzugsbediensteten, noch die ihn untersuchende Ärztin persönlich angehört, um sich einen Eindruck von den Vorgängen zu verschaffen. Zudem wäre in Betracht gekommen, die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten sowie die die Dienstaufsichts-beschwerde betreffenden Akten beizuziehen.
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts, mit dem die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers trotz der ins Auge springenden Grundrechtsverletzungen als unzulässig verworfen wird, verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.
4. Die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts werden daher aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
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