EMRK Art. 6 Abs. 3c Offenkundiges Verteidigerverschulden bei Versäumung der Revisionsbegründungsfrist

BGH, Urt. v. 16.12.2020 – 2 StR 299/20

1. Liegt ein "offenkundiger Mangel" der Verteidigung vor, so kann sich aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK eine Pflicht der Behörden ergeben, diesem Zustand durch positive Maßnahmen abzuhelfen.

2. Dem Angeklagten ist ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen und nach Eingang der Revisionsbegründung durch den neuen Verteidiger vom Revisionsgericht gegebenenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 16. Dezember 2020 beschlossen:

Die Sache wird zur weiteren Veranlassung, insbesondere zur Bestellung eines anderen Verteidigers, an das Landgericht Köln zurückgegeben.

Gründe:

Der Senat stellt die Entscheidung über das fristgerecht eingegangene, entsprechend § 300 StPO als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 22. April 2020 auszulegende Gesuch des Angeklagten sowie gegebenenfalls über den Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO zurück. Die Sache ist zur Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers an das Landgericht zurückzugeben. Es liegt hier ein „offenkundiger Mangel“ der Verteidigung vor. Der Verteidiger, Rechtsanwalt B., hat nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Mai 1983 - 2 BvR 731/80, NJW 1983, 2762, 2765), die Revision des Angeklagten formund fristgerecht begründet und auf das Anschreiben des Senats zur Stellungnahme zu dem Antrag des Generalbundesanwalts nicht reagiert. In dieser Situation verlangt Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte positive Maßnahmen seitens der zuständigen Behörden, um diesem Zustand abzuhelfen (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002 - 38830/97, NJW 2003, 1229, 1230). Dies wird das Landgericht durch Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers zu veranlassen haben (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Juni 2016 - 2 StR 265/15, StraFo 2016, 382; BGH, Beschluss vom 18. Januar 2018 - 4 StR 610/17, NStZ-RR 2018, 84). Der Senat weist darauf hin, dass der neu beizuordnende Pflichtverteidiger ab seiner Bestellung Form- und fristgerecht die Revision zu begründen haben wird. Das wird den Senat in die Lage versetzen, über das anhängige Wiedereinsetzungsgesuch und gegebenenfalls über den Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO zu befinden (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2020 - 4 StR 68/20).