GG Art. 19 Abs. 4 unzureichende gerichtliche Aufklärung
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Auszuliefernden wegen unzureichender gerichtlicher Aufklärung der Gefahr einer politischen Verfolgung im Zielstaat
Pressemitteilung Nr. 101/2017 vom 22. November 2017, Beschluss vom 13. November 2017, 2 BvR 1381/17
Gerichte verletzen in Auslieferungssachen das in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthaltene Grundrecht auf effektiven richterlichen Rechtsschutz, wenn sie bei entsprechenden Anhaltspunkten nicht hinreichend aufklären und eigenständig prüfen, ob im Falle der Auslieferung politische Verfolgung droht. Wenn ein Asylantrag des Betroffenen eines Auslieferungsverfahrens zuvor in einem vorrangig zuständigen Staat abgelehnt wurde, muss das über die Auslieferung befindende Gericht bei Hinweisen auf eine solche Verfolgung regelmäßig ernsthaft versuchen, die Verfahrensakten aus dem Asylverfahren beizuziehen und, sollte dies scheitern, den Sachverhalt anderweitig aufklären, im Regelfall durch die persönliche Anhörung des Betroffenen. Dies hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden.
Sachverhalt:
Dem Beschwerdeführer, einem russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, wird in seiner Heimat vorgeworfen, versucht zu haben, die Geschädigte einer Sexualstraftat nach seiner Entlassung aus der deswegen verbüßten Haft zu töten. Er bezeichnet sowohl den Vorwurf der Sexualstraftat als auch denjenigen des versuchten Tötungsdelikts als falsche Anschuldigungen, mit denen er unter Druck gesetzt werden solle, damit er Angaben zu ihm bekannten Aufständischen macht. Die 2015 durch den Beschwerdeführer und seine Familie in Polen gestellten Asylanträge wurden abgelehnt. Gegen die im Widerspruchsverfahren ergangenen Bescheide klagte er, reiste aber mit seiner Familie 2016 ohne eine Entscheidung abzuwarten nach Deutschland weiter, wo sie erneut Asyl beantragten. Die Anträge wurden als unzulässig abgelehnt, weil Polen aufgrund der dort gestellten Asylanträge für die Durchführung der Asylverfahren zuständig sei. Zudem wurde die Abschiebung nach Polen angeordnet. Die gegen die Ablehnung der Asylanträge erhobenen Klagen vor dem Verwaltungsgericht wurden abgewiesen. Hiergegen beantragte der Beschwerdeführer die Zulassung der Berufung, über die bislang nicht entschieden wurde. Zwischenzeitlich wurde er aufgrund des ihm vorgeworfenen versuchten Tötungsdelikts durch russische Behörden international zur Fahndung ausgeschrieben und Ende 2016 in Leipzig festgenommen. Seither befindet er sich in Haft. Im Verfahren hatte das Oberlandesgericht die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, die Umstände der Asylantragstellung in Polen und die von dem Beschwerdeführer vor polnischen Behörden gemachten Angaben aufzuklären und die bereits getroffenen Asylentscheidungen beizuziehen. Mit Beschluss vom 4. April 2017 erklärte das Oberlandesgericht Dresden unter Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft die Auslieferung für zulässig, wobei Verfahrensakten aus dem polnischen Asylverfahren im Ergebnis nicht beigezogen wurden und lediglich der Ausdruck einer E-Mail einer polnischen Verbindungsbeamtin vorlag, der zufolge der in Polen beantragte Flüchtlingsschutz im Ergebnis nicht gewährt worden war. Auf dieser Grundlage ging das Oberlandesgericht ohne eigene Sachprüfung davon aus, dass das Auslieferungshindernis der drohenden politischen Verfolgung im Zielstaat der Auslieferung des Beschwerdeführers nicht entgegenstehe. Der Beschwerdeführer beantragte am 18. April 2017 beim Oberlandesgericht erfolglos die erneute Zulässigkeitsentscheidung gemäß § 33 Abs. 1 IRG. Gegen die beiden Entscheidungen des Oberlandesgerichts richtet sich die Verfassungsbeschwerde.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Das Oberlandesgericht hat die Gefahr des Beschwerdeführers, im Zielstaat politisch verfolgt zu werden, nicht hinreichend aufgeklärt und nicht eigenständig geprüft.
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen.
Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf das Fachgericht auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten daher nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind. Auch im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig zu prüfen. Dies gilt auch für die Frage, ob der Auszuliefernde Gefahr läuft, im Zielstaat Opfer politischer Verfolgung zu werden.
Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung ist der präventive Rechtsschutz des Verfolgten. Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren und die Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat dienen der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des Auszuliefernden. Wird eine Auslieferung vollzogen, obwohl die Gefahr besteht, dass der Betroffene im Zielstaat politisch verfolgt wird, so verstößt sie jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. Auslegung und Anwendung auslieferungsrechtlicher Regelungen durch die Oberlandesgerichte haben dem Rechnung zu tragen und eine wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen. Auch wenn im konkreten Fall aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch in Deutschland folgt, muss der Grundgedanke dieser Norm, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten, dabei berücksichtigt werden. Soweit ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat sprechen, hat das Gericht die beantragte Auslieferung demnach für unzulässig zu erklären. Ob die Voraussetzungen dieses Auslieferungshindernisses vorliegen, muss es eigenständig prüfen. Um Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gerecht zu werden, müssen die Gerichte bei Anhaltspunkten einer Gefahr politischer Verfolgung die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung veranlassen und den Sachverhalt eigenständig würdigen. Sie müssen ernsthaft versuchen, die Akten eines ausländischen Asylverfahrens beizuziehen, es sei denn, es steht fest, dass sich daraus keine neuen Erkenntnisse ergeben. Dadurch kann sichergestellt werden, dass der Vortrag des Asylbewerbers und alle bereits erfolgten Sachverhaltsermittlungen zu einer Gefahr politischer Verfolgung berücksichtigt sowie gegebenenfalls Widersprüche aufgeklärt und Vorhalte gemacht werden können. Soweit die Verfahrensakten nicht erreichbar sind, muss das Gericht dies in der Zulässigkeitsentscheidung darlegen. Seiner Pflicht zur eigenständigen Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung muss es in einem solchen Fall durch anderweitige Aufklärungsschritte, in der Regel durch die persönliche Anhörung des Betroffenen, genügen.
Dieser Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung und eigenständigen Prüfung ist das Oberlandesgericht nicht nachgekommen. Es hat seine Entscheidung ohne die in Polen angefragten Informationen erlangt oder den Beschwerdeführer persönlich angehört zu haben allein auf die per E-Mail weitergegebene Auskunft einer polnischen Verbindungsbeamtin gestützt, das auf den Antrag auf Flüchtlingsschutz in Polen folgende „Verfahren“ sei „vollständig abgelehnt“ worden.
Selbst wenn das Verhalten des Gerichts im Verfahren als ernsthafter Versuch der Beiziehung der polnischen Verfahrensakten zu bewerten wäre, hätte das Gericht die Gefahr politischer Verfolgung durch persönliche Anhörung des Beschwerdeführers und eigenständige Würdigung von dessen Angaben aufklären müssen, um Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu genügen. Diese Pflicht zur Sachaufklärung und eigenständigen Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat besteht unabhängig von einer im polnischen Asylverfahren möglicherweise erfolgten Prüfung. Eine eigenständige Prüfung durfte auch nicht deshalb unterbleiben, weil die Russische Föderation zugesichert hat, dass das Auslieferungsersuchen nicht dem Zweck der Verfolgung wegen Rasse, Religion, Volkszugehörigkeit oder politischer Überzeugung diene und der Beschwerdeführer nur wegen derjenigen Straftat strafrechtlich verfolgt werde, deretwegen um Auslieferung ersucht werde. Eine solche völkerrechtliche Zusicherung entbindet das Gericht nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, wenn Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat bestehen. Dabei muss das Gericht den Vortrag des Beschwerdeführers nachvollziehbar und willkürfrei würdigen, auch wenn es ihm im Ergebnis keinen Glauben zu schenken vermag.