StGB § 15, StGB § 21, StGB § 211 Asb.2 Heimtücke, StGB § 212
StGB § 15, StGB § 21, StGB § 211 II Heimtücke, StGB § 212
BGH, Urt. v. 01.04.2009 – 2 StR 601/08
Für die Annahme der subjektiven Seite des Heimtückemordes kommt es nicht auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen der rechtlichen Voraussetzungen des § 21 StGB an; vielmehr ist maßgeblich, ob und gegebenenfalls welche tatsächlichen Auswirkungen der psychische Zustand auf die Erkenntnisfähigkeit des Angeklagten in der Tatsituation und auf sein Bewusstsein hatte.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 1. April 2009 für Recht erkannt: Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 1. Juli 2008 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit ihren Revisionen beanstanden die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger, dass das Landgericht den Angeklagten unter Annahme nicht ausschließbar verminderter Schuldfähigkeit nur wegen Totschlags und nicht wegen Mordes verurteilt hat.
I. Der 34-jährige Angeklagte, ein in sich gekehrter Diplom-Informatiker, hatte im September 2007 ohne die von ihm angestrebte Promotion seine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter der R. verloren und lebte seitdem von seinen Ersparnissen. Bereits seit dem Jahre 2005 unterhielt er eine gegenüber seinen Eltern verheimlichte Beziehung zu der chinesischen Studentin W. . Beide wohnten zusammen, hatten jedoch keinen Geschlechtsverkehr, weil der Angeklagte aus Angst zu versagen - diesen auf die Zeit nach der Heirat verschieben wollte. Als der Ablauf ihres Visums bevorstand, drängte W. den Angeklagten Ende des Jahres 2007 erfolglos zur baldigen Heirat. Mehrfach gelang es dem Angeklagten, die zum Auszug entschlossene Zeugin W. hinzuhalten und zum Verbleib bzw. zur Rückkehr in seine Wohnung zu überreden. Am 24. Dezember 2007 reiste der Angeklagte zu seinen Eltern, wo er die Feiertage verbrachte. Bei seiner Rückkehr am Abend des 26. Dezembers 2007 hatte W. Besuch von ihrer Freundin, der in Deutschland lebenden Chinesin S. , die - in die Problematik eingeweiht - den ausweichend reagierenden Angeklagten auf eine Heirat der Zeugin W. ansprach. Am nächsten Morgen verließen die beiden Frauen mit Gepäck die Wohnung Richtung Bahnhof. Als der Angeklagte dies bemerkte, folgte er ihnen und traf sie noch auf dem Bahnsteig an. Sein Versuch,
W. zur Rückkehr zu bewegen, schlug fehl. In diesem Moment kamen ihm Suizidphantasien; den Gedanken, sich von dem nächsten einfahrenden Zug überrollen zu lassen, verwarf er jedoch, da ihm ein solch grausamer Tod unerträglich erschien. Als S. zu ihm tröstend sagte: "T. , es ist bestimmt am Besten so", entschloss er sich schließlich diese anzugreifen. Nachdem er zuvor die in einer Entfernung von ca.400 mherannahende Bahn wahrgenommen hatte, stieß er in Tötungsabsicht die vor ihm stehende und ihm den Rücken zukehrende arglose S. zielgerichtet ins Gleisbett, wo sie von dem Zug überrollt, mitgeschleift und so getötet wurde. Nach vorübergehender Flucht stellte sich der Angeklagte noch am selben Tag den Behörden.
Das Landgericht ist - entgegen dem Sachverständigengutachten - von einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt ausgegangen und vermochte zudem nicht festzustellen, dass dieser die objektiv gegebene Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers bewusst zu dessen Tötung ausgenutzt habe. Ebenso wenig konnte das Landgericht in dem Handeln des Angeklagten niedrige Beweggründe erkennen.
II.
1. Die vom Generalbundesanwalt insoweit vertretene Revision der Staatsanwaltschaft und die Revision der Nebenkläger haben mit der Sachrüge Erfolg, soweit sie sich gegen die Verneinung des Mordmerkmals "Heimtücke" auf der Grundlage der Annahme nicht ausschließbar erheblich verminderter Schuldfähigkeit wenden. a) Die Annahme nicht ausschließbar erheblich verminderter Schuldfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Noch in Übereinstimmung mit der als umsichtig, kompetent und erfahren charakterisierten Sachverständigen (UA 15) stellt das Landgericht bei dem Angeklagten, der große Angst vor Zurückweisung und Ablehnung bei gleichzeitigem Wunsch nach enger partnerschaftlicher Zuwendung mit ausgeprägten Verlustängsten hat, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dependenten Zügen fest. Zugleich habe der Angeklagte unter dem Einfluss einer akuten Belastungsreaktion gehandelt. Soweit aber die Sachverständige nach Durchführung der Beweisaufnahme aufgrund der nunmehr umfänglichen Einlassung des Angeklagten zu seinen Gedanken und Überlegungen unmittelbar vor der Tat zu dem Ergebnis gelangt, eine Handlungsanalyse ergebe, dass der Angeklagte in der Vierschrittigkeit "AbwägenPlanen-Handeln-Bewerten" keine Defizite aufwies, es somit an einer Impulskontrollstörung gefehlt habe und deshalb die schwere andere seelische Abartigkeit (infolge der kombinierten Persönlichkeitsstörung und der akuten Belastungsreaktion) ohne Schuldfähigkeitsrelevanz sei, folgt ihr das Landgericht nicht; angesichts des "motivational mit rationalen Maßstäben nicht nachvollziehbaren, teilweise schon bizarre Züge tragenden Tatgeschehens" sei eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit nicht auszuschließen. Zwar war das Landgericht nicht gehindert, von dem Gutachten der Sachverständigen abzuweichen, da ein solches nur Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters sein kann. Wenn der Tatrichter aber eine Frage, für die er geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss er die maßgeblichen Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen (BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1; Fischer StGB 56. Aufl. § 20 Rdn.65 m.w.N.). Dies hat die Strafkammer nicht in hinreichender Weise getan: Allein die Erwägung, aufgrund des rational nicht nachvollziehbaren Tatgeschehens in Kombination mit dem festgestellten Zustand des Angeklagten sei das Abstellen auf eine Handlungsanalyse nicht überzeugend, ist nicht geeignet, das Gutachten der Sachverständigen zu widerlegen. Weder ergibt sich aus den Urteilsgründen, dass das Landgericht über die erforderliche eigene Sachkunde verfügt, noch hat es eine eigene Abwägung aller Indizien vorgenommen. Auch unter dem Gesichtspunkt einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung wäre die Wertung des Landgerichts nicht rechtsfehlerfrei. Denn eine affektive Erregung bei vorsätzlichen Tötungsdelikten, bei denen gefühlsmäßige Regungen eine Rolle spielen, stellt eher den Normalfall dar. Ob die affektive Erregung einen solchen Grad erreicht hat, dass sie zu einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung geführt hat, kann deshalb nur anhand von tat- und täterbezogenen Merkmalen beurteilt werden, die als Anzeichen für und gegen die Annahme eines schuldrelevanten Affekts sprechen. Diese Indizien sind dabei im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu beurteilen (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 234,235 m.w.N.), die das Landgericht nicht vorgenommen hat. Es hat im Gegenteil die gegen eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung sprechenden Anzeichen, die sich aus der von der Sachverständigen herangezogenen Handlungsanalyse und der detaillierten Erinnerung des Angeklagten an das Geschehen ergeben (vgl. BGH NStZ 2008, 510, 512), völlig außer Betracht gelassen. Zudem lassen die Urteilsausführungen besorgen, dass das Landgericht den Zweifelssatz fehlerhaft auch auf die Rechtsfrage, ob die Beeinträchtigung des Angeklagten im Sinne von § 21 StGB erheblich ist, angewandt hat (vgl. BGHSt 43, 66, 77; BGH NStZ 2005, 149, 150). b) Ebenso zu Recht beanstanden alle Revisionen die Verneinung der subjektiven Tatseite des Mordmerkmals Heimtücke. Nach den Feststellungen versah sich S. , was das Landgericht nicht verkannt hat, keines Angriffs des Angeklagten von hinten und war infolgedessen arg- und wehrlos. Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Dabei steht nicht jede affektive Erregung der Annahme eines Ausnutzungsbewusstseins in diesem Sinne entgegen (BGH NStZ 2003, 535; 2005,688 f.).
Die Erwägungen, mit denen das Landgericht ein Ausnutzungsbewusstsein hier verneint hat, entbehren einer tragfähigen Grundlage. Bereits die Ausgangsüberlegung, zu Gunsten des Angeklagten sei zu unterstellen, seine Steuerungsfähigkeit sei erheblich eingeschränkt gewesen (UA 20), ist - wie eingangs unter II.1. a) dargelegt - rechtsfehlerhaft. Gleiches gilt für die daran anknüpfende Schlussfolgerung, die Wahrnehmung des Angeklagten sei in der Panik des Moments allein auf S. fixiert gewesen, die allein er optisch wahrgenommen habe, weshalb es störungsbedingt nicht ausschließbar an einem Ausnutzungsbewusstsein gefehlt haben könnte. Für die Annahme der subjektiven Seite des Heimtückemordes kommt es nämlich nicht auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen der rechtlichen Voraussetzungen des § 21 StGB an; vielmehr ist maßgeblich, ob und gegebenenfalls welche tatsächlichen Auswirkungen der psychische Zustand auf die Erkenntnisfähigkeit des Angeklagten in der Tatsituation und auf sein Bewusstsein hatte. Diesbezüglich hat die Strafkammer aber -bezogen auf den direkten Tötungsvorsatz - gerade festgestellt, dass der Angeklagte in vollem Umfang über die kognitiven Fähigkeiten verfügte, sowohl die objektiven Umstände seines Tuns als auch dessen Konsequenzen subjektiv zu erfassen (UA 18). Umstände, auf Grund derer trotz erhaltener Einsichtsfähigkeit die Fähigkeit des Angeklagten, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, beeinträchtigt war, hat die Strafkammer nicht aufgezeigt; solche sind nach den Urteilsgründen auch nicht ersichtlich. Im Gegenteil hat der Angeklagten nach den Feststellungen noch direkt vor der Tat bei Erwägung eines Suizids durchaus rationale Überlegungen angestellt, indem er sich die möglichen Folgen vorstellte, die es haben würde, wenn ein menschlicher Körper von einem Zug überrollt wird und sich deshalb bei Einfahrt des Zuges dazu entschlossen, nicht selbst zu springen, sondern die arglose S. hinterrücks auf die Gleise zu stoßen.
2. Entgegen der Auffassung der vom Generalbundesanwalt insoweit nicht vertretenen Revisionen hat das Landgericht das Mordmerkmal "Niedrige Beweggründe" auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen rechtsfehlerfrei abgelehnt. Es hat nicht verkannt, dass auch Rache und Hass bei der Tatbegehung eine Rolle gespielt haben. Dass es diese Motive nicht als tatbeherrschend angesehen hat, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Der Angeklagte befand sich angesichts der nunmehr endgültig erscheinenden Trennung seiner Freundin in einem Zustand höchster Verzweiflung und Ausweglosigkeit (UA 21). Vor diesem Hintergrund hält es sich im Rahmen des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums, dass das Landgericht die für den Angeklagten bestimmenden Motive in ihrer Gesamtheit nicht als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gewertet hat (vgl. BGH NStZ 2007, 330, 331).
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