StGB § 173c Abs. 1 kein Anvertrautsein gegenüber Eltern des Patienten
BGH, Beschl. v. 02.05.2016 – 4 StR 133/16 – StRR 2016, 14; BeckRS 2016, 10894
Zwar setzt ein Anvertrautsein im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB das Zustandekommen einer rechtsgeschäftlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer nicht voraus. Es ist ausreichend, wenn das Opfer eine fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt. Weder die bloße Erkundigung nach Therapieangeboten noch freundschaftliche Ratschläge reichen hierfür aus.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung der Beschwerdeführerin und des Generalbundesanwalts am 2. Mai 2016 gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 1. September 2015 wird als unbegründet verworfen. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses freigesprochen; wegen der Verletzung eines Privatgeheimnisses hat es ihn verwarnt und die Verurteilung zu einer Geldstrafe vorbehalten. Gegen den Freispruch wendet sich die Revision der Nebenklägerin mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1. Die Strafkammer hat insoweit im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte ist Diplom-Psychologe und war in Bochum in einer auf Autismuserkrankungen spezialisierten Praxis tätig. Ab September 2013 nahm die damals zwölfjährige Tochter der Nebenklägerin, die an einer autistischen Störung leidet, wöchentlich zwei Förderstunden bei dem Angeklagten und dessen Kollegen wahr. Parallel hierzu fanden einmal monatlich „Bezugspersonengespräche“ statt, in deren Rahmen der Angeklagte der Nebenklägerin und ihrem anfangs ebenfalls anwesenden Ehemann über den Verlauf der Therapiegespräche berichtete. Auch diese Gespräche rechnete der Angeklagte mit der Krankenkasse ab. Bei dem Erstgespräch hatte die Nebenklägerin dem Angeklagten mitgeteilt, dass sie auch selbst an einer leichten Form des Asperger-Syndroms leide, und sich nach Therapieangeboten für Erwachsene erkundigt. Die Aufnahme einer Therapie seitens der Nebenklägerin hat das Landgericht indes nicht festgestellt. Bei einem Bezugspersonengespräch berichtete die Nebenklägerin dem Angeklagten, dass sie beabsichtige, ein Informationsblatt für Jugendliche mit der Diagnose
Asperger-Syndrom zu erstellen. Hierbei unterstützte der Angeklagte die Nebenklägerin und es kam in diesem Zusammenhang zu nahezu wöchentlichen Treffen, um gemeinsam an dem Text für die Broschüre zu arbeiten. Bei einem dieser Treffen berichtete die Nebenklägerin dem Angeklagten, dass sie häufig Schwierigkeiten habe, Augenkontakt zu halten. Der Angeklagte riet ihr, zu versuchen, ihren Blick stattdessen auf die Stirn ihres Gegenübers zu richten. Der Kontakt zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin wurde immer enger und es entwickelte sich schließlich aus beider Sicht ein Liebesverhältnis. Ab März 2014 kam es einvernehmlich zu Zungenküssen und intimen Berührungen zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin. Nachdem der Ehemann der Nebenklägerin im Juni 2014 von dem Verhältnis erfahren hatte, beendete der Angeklagte den Kontakt.
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist das Landgericht rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 174c Abs. 1 StGB nicht vorliegen. Die Nebenklägerin war dem Angeklagten, als es zu den sexuellen Handlungen kam, nicht wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut. Zwar setzt ein Anvertrautsein im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB das Zustandekommen einer rechtsgeschäftlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer nicht voraus. Es kommt auch nicht darauf an, ob das Verhältnis auf Initiative des Patienten, Täters oder eines Dritten begründet wurde. Ohne Belang ist zudem, ob tatsächlich eine behandlungsbedürftige Krankheit oder eine Behinderung vorliegt, sofern nur die betroffene Person subjektiv eine Behandlungs- oder Beratungsbedürftigkeit empfindet. Das Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis muss auch nicht von einer solchen – zumindest beabsichtigten – Intensität und Dauer sein, dass eine Abhängigkeit entstehen kann, die es dem Opfer zusätzlich, d.h. über die mit einem derartigen Verhältnis allgemein verbundene Unterordnung unter die Autorität des Täters und die damit einhergehende psychische Hemmung hinaus, erschwert, einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter zu entwickeln und zu betätigen. Es ist ausreichend, wenn das Opfer eine fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt (BGH, Urteil vom 1. Dezember 2011 – 3 StR 318/11, NStZ 2012, 440 f.).
a) Eine solche fürsorgerische Tätigkeit hat der Angeklagte in Bezug auf eine objektiv vorliegende oder von der Nebenklägerin zumindest so empfundene Behandlungsbedürftigkeit ihres eigenen Asperger-Syndroms nicht entfaltet. Nach den Feststellungen ging die Nebenklägerin bei den Begegnungen mit dem Angeklagten hiervon auch nicht aus. Weder die bloße Erkundigung nach Therapieangeboten noch der freundschaftliche Ratschlag betreffend die Schwierigkeiten beim Augenkontakt reichen aus, ein Anvertrautsein in diesem Sinne zu begründen. Erst recht gilt dies für die Unterstützung der Nebenklägerin bei ihrem ehrenamtlichen Engagement.
b) Die Nebenklägerin war dem Angeklagten aber auch nicht deshalb wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung zur Beratung anvertraut im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB, weil ihr der Angeklagte im Rahmen sog. Bezugspersonengespräche regelmäßig über den Verlauf der Therapie ihrer Tochter berichtete. Diese Gespräche dienten lediglich der Information der Eltern der Patientin und werden von § 174c StGB tatbestandlich nicht erfasst.
aa) Schon seinem Wortlaut nach erstreckt sich der Schutz des § 174c StGB nicht auf bloße Informationsgespräche mit einem Dritten über den Behandlungsverlauf eines Patienten. Denn die Vorschrift setzt voraus, dass das Opfer dem Täter wegen einer Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist. Somit ist tatbestandlich nicht erfasst, wer sich aus einem anderen Grund als einer eigenen Krankheit oder Behinderung beraten oder betreuen lässt (vgl. Senat, Urteil vom 14. April 2011 – 4 StR 669/10, StV 2012, 663, 664 f.). So liegt der Fall hier, da die Nebenklägerin lediglich Informationen über die Behandlung ihrer Tochter
entgegennahm. Offen bleiben kann, ob Familienangehörige eines Erkrankten oder Behinderten einem Psychologen oder Arzt dann selbst zur Behandlung bzw. Beratung im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB anvertraut sind, wenn sie an einer Gruppen- oder Familientherapie teilnehmen. Nach den Feststellungen hatten die Bezugspersonengespräche jedenfalls keinen therapeutischen Hintergrund, sondern dienten allein der Information.
bb) Der Schutzzweck des § 174c Abs. 1 StGB gebietet es auch nicht, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Fälle zu erstrecken, in denen ein Arzt oder Psychologe, der einen minderjährigen Patienten behandelt und die Erziehungsberechtigten über den Therapiefortgang informiert, mit einem Elternteil ein einverständliches sexuelles Verhältnis eingeht. Die Vorschrift dient dem strafrechtlichen Schutz solcher Menschen vor sexuellen Übergriffen, die aufgrund ihrer generellen geistigen oder seelischen Verfassung unter Umständen nur in beschränktem Maße zur Entwicklung oder Betätigung eines Abwehrwillens imstande sind (BTDrucks. 13/8267, S.4). Psychisch Kranke oder geistig oder seelisch Behinderte sollen wegen ihrer gesteigerten Schutzbedürftigkeit vor sexuellen Übergriffen im Rahmen von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen geschützt werden (BT- Drucks. 13/8267, S. 6 f.). Die Vorschrift zielt danach auf den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung des aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung nur eingeschränkt abwehrfähigen Patienten ab. Vor dem Hintergrund der innerhalb von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen typischerweise bestehenden Vertrauens- und Abhängigkeitsbeziehung (vgl. Senat, Urteil vom 14. April 2011 – 4 StR 669/10, StV 2012, 663, 665) soll ein Missbrauch derselben auch durch einvernehmliche sexuelle Handlungen verhindert werden (BT-Drucks. 13/8267, S. 6 f.; BT-Drucks. 15/350, S. 16). Eine solche gesteigerte Schutzbedürftigkeit liegt bei Eltern minderjähriger, geistig oder seelisch kranker oder behinderter Patienten, sofern sie – wie hier – nur informiert werden und nicht selbst in den Therapieverlauf eingebunden sind, nicht vor.