StGB § 177 Abs. 1 Nr. 3 – Ausnutzen schutzloser Lage
StGB § 177 Abs. 1 Nr. 3 – Ausnutzen schutzloser Lage
BGH, Beschl. v. 01.12.2009 - 3 StR 479/09
Rechtsanwalt & Fachanwalt für Strafrecht Joachim Lauenburg - Strafverteidiger, Hamburg
Zu den Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Allein aus dem bloßen Alleinsein der Geschädigten mit dem Angeklagten kann sich eine objektive Schutzlosigkeit nicht ergeben.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 1. Dezember 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der auswärtigen großen Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers vom 6. August 2009 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "sexueller Nötigung im besonders schweren Fall - Vergewaltigung -" zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Angeklagte wendet sich gegen dieses Urteil mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge in vollem Umfang Erfolg.
1. Das angefochtene Urteil kann nicht bestehen bleiben, weil der Schuldspruch von den getroffenen Feststellungen nicht getragen wird.
a) Nach den Feststellungen veranlasste der Angeklagte die infolge einer Intelligenzminderung und eines psychomotorischen Entwicklungsrückstandes (zu 80 %) geistig behinderte, 20 Jahre alte Geschädigte in seine Wohnung zu kommen. Spätestens nachdem er der Zeugin seinen Taubenschlag und ein Aquarium gezeigt hatte, fasste der Angeklagte den Entschluss, sexuelle Handlungen an der - wie ihm bewusst war - geistig behinderten Frau vorzunehmen. "Er hatte erkannt, dass er dieser - zumal sie sich in einer für sie fremden Umgebung befand - überlegen war und von ihr keine Gegenwehr zu erwarten hatte." So begann er unvermittelt, die Zeugin sowohl oberhalb als auch unterhalb des Pullovers an der Brust zu streicheln. Im weiteren Verlauf nahm der Angeklagte dann verschiedene andere sexuelle Handlungen an der Geschädigten vor, wobei er auch zweimal einen Finger in deren Scheide einführte. Seine Aufforderung, ihn zu küssen, lehnte die Zeugin ebenso ab, wie die, sein entblößtes Geschlechtsteil zu streicheln und sich zu entkleiden. Bevor es zu weiteren sexuellen Übergriffen kommen konnte, schellte es an der Haustür, so dass der Angeklagte von der Geschädigten abließ, was diese dazu nutzte, das Haus zu verlassen.
b) Diese Feststellungen hat das Landgericht als "sexuelle Nötigung im besonders schweren Fall - Vergewaltigung -" gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB gewürdigt. Die - vom Angeklagten erkannte - schutzlose Lage des Opfers ergebe sich daraus, dass sich die arglose Geschädigte in die Wohnung des Angeklagten und somit in eine ihrer gänzlich unbekannte Umgebung begeben habe. Dort habe sie sich unvermittelt einer sexuellen Annäherung ausgesetzt gesehen. Aufgrund ihrer geistigen Behinderung sei ihre Fähigkeit, sich den "Avancen" des Angeklagten zu erwehren, erheblich eingeschränkt gewesen. Der Angeklagte habe auch gewusst, dass er die sexuellen Handlungen an der Zeugin gegen deren Willen vorgenommen habe.
2. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe sich der Vergewaltigung schuldig gemacht, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB bejaht.
a) Dieser Tatbestand setzt zunächst voraus, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert wäre. Hierfür kommt es auf eine Gesamtwürdigung aller tatbestandsspezifischer Umstände an, die in den äußeren Gegebenheiten, in der Person des Opfers oder des Täters vorliegen (BGHSt 50, 359,362 f.). Neben den äußeren Umständen, wie etwa die Einsamkeit des Tatortes und das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten, kann auch die individuelle Fähigkeit des Opfers, in der konkreten Situation mögliche Einwirkungen abzuwehren, wie zum Beispiel eine stark herabgesetzte Widerstandsfähigkeit aufgrund geistiger oder körperlicher Behinderung, von Bedeutung sein (vgl. Fischer, StGB 56. Aufl. § 177 Rdn. 28). Diese spezifische Schutzlosigkeit gegenüber nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters muss ferner eine Zwangswirkung auf das Opfer dahin entfalten, dass es solche Einwirkungen fürchtet und im Hinblick hierauf einen - ihm grundsätzlich möglichen - Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet (BGHSt aaO365 f.). Weiterhin muss der Täter das Ausgeliefertsein des Opfers dazu ausnutzen, dieses zur Duldung oder Vornahme sexueller Handlungen zu nötigen. Dies bedeutet, dass er die tatsächlichen Voraussetzungen der Schutzlosigkeit auch als Bedingung für das Erreichen seiner sexuellen Handlungen erkennen muss, so dass der subjektive Tatbestand zumindest bedingten Vorsatz dahin voraussetzt, dass das Opfer in die sexuellen Handlungen nicht einwilligt und dass es gerade wegen seiner Schutzlosigkeit auf einen grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet, das Opfer also die Handlungen nur wegen seiner Schutzlosigkeit vornimmt oder geschehen lässt (vgl. Fischer aaO Rdn. 53).
b) Daran gemessen bleibt hier bereits das Vorliegen einer schutzlosen Lage der Zeugin im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB zweifelhaft. Allein aus dem bloßen Alleinsein der Geschädigten mit dem Angeklagten kann sich eine objektive Schutzlosigkeit nicht ergeben (vgl. Fischer aaO Rdn.29 m. w. N.). Gleiches gilt für die Tatsache, dass sich die Zeugin in einer ihr fremden Umgebung befand und sich unvermittelt einer sexuellen Annäherung ausgesetzt sah. Ob ein tatbestandsmäßiges Ausgeliefertsein aufgrund weiterer äußerer Umstände, wie etwa einer besonderen Abgeschiedenheit der Wohnung bzw. des Hauses des Angeklagten, oder sonstiger Besonderheiten im Hinblick auf etwaige Fluchtmöglichkeiten vorlag, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Soweit das Landgericht die schutzlose Lage ersichtlich (auch) aus der Behinderung der Zeugin hergeleitet hat, ergibt sich aus den Feststellungen nicht, wie sich diese im Einzelnen dahin ausgewirkt hat, dass das Opfer Einwirkungen des Angeklagten im Sinne des Tatbestandes schutzlos ausgeliefert war. Insbesondere bleibt offen, welche konkreten, zur Leistung von Widerstand erforderlichen Fähigkeiten der Zeugin aufgrund ihrer Behinderung fehlten; denn die Geschädigte war nach den Feststellungen jedenfalls in der Lage, sich den sexuellen Forderungen des Angeklagten mehrfach verbal zu widersetzen und - nach dessen Weggang zur Haustüre - auch zu fliehen. An der Bildung eines der Vornahme der sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willens hat es ihr daher ebenso wenig gemangelt, wie an der Möglichkeit, diesen zu artikulieren und ihn in eine Flucht umzusetzen. Die lückenhaften Feststellungen belegen daher nicht, dass die äußeren Umstände der Opferlage und die geistige Behinderung der Zeugin insgesamt eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB begründeten.
c) Zum subjektiven Vorstellungsbild der Geschädigten und des Angeklagten hat das Landgericht keinerlei Feststellungen getroffen. Insbesondere ist nicht festgestellt, dass die Zeugin von einem - ihr grundsätzlich möglichen - Widerstand aus Angst vor gewaltsamen Handlungen des Angeklagten abgesehen hat (s. BGHSt 50, 359, 366). Dass der Angeklagte das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Schutzlosigkeit seines Opfers als Bedingung für das Erreichen seiner sexuellen Handlungen erkannt und im Sinne eines bedingten Vorsatzes billigend in Kauf genommen hat, dass dieses gerade wegen seiner Schutzlosigkeit auf Widerstand verzichtet, die Zeugin also die Handlungen nur wegen ihrer Schutzlosigkeit duldet und er dies zur Erreichung seines Handlungszieles bewusst ausgenutzt hätte, ist dem Urteil des Landgerichts ebenfalls nicht zu entnehmen. Gegen ein solches Vorstellungsbild des Angeklagten spricht vielmehr die Feststellung, er sei vor der ersten sexuellen Handlung davon ausgegangen, dass er der Zeugin "überlegen war und von ihr keine Gegenwehr zu erwarten hatte". Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
3. Der neue Tatrichter wird im Falle des Tatnachweises auch das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person gemäß § 179 Abs. 1 StGB zu prüfen haben (vgl. hierzu Fischer aaO § 177 Rdn. 30, § 179 Rdn. 3 ff.). In den Fällen des § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB ergeht der Schuldspruch (allein) wegen Vergewaltigung (vgl. Fischer aaO § 177 Rdn.75 a).
Ihr Anwalt Hamburg - Kanzlei Rechtsanwälte Lauenburg & Kopietz