StGB § 177 Sexueller Übergriff auf Menschen mit Behinderung

StGB § 177 Sexueller Übergriff auf Menschen mit Behinderung
BGH, Beschluss v. 9. Mai 2017 – 4 StR 366/16 1.

Die neu gefasste Vorschrift des § 177 StGB nF enthält insbesondere in den Absätzen 1, 2 Nr. 1 und 2 und Absatz 4 Nachfolgeregelungen zu § 179 StGBaF, die hinsichtlich des geschützten Rechtsguts und der inkriminierten Angriffsrichtung unverändert geblieben sind und damit einen identischen Unrechtskern aufweisen.

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2. Da die Tatbestände des § 177 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB nF und die Qualifikationsnorm des § 177 Abs. 4 StGB nF ausschließlich an die Fähigkeit zur Bildung und Äußerung eines entgegenstehenden Willens anknüpfen, wird die nach altem Recht unter den Begriff der Widerstandsunfähigkeit subsumierte Unfähigkeit, einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter zu realisieren, von diesen Vorschriften des neuen Rechts nicht erfasst.

3. Das Hinwegsetzen über den artikulierten entgegenstehenden Willen des Tatopfers unterfällt vielmehr unabhängig von einer zustandsbedingten habituellen Unfähigkeit zur Durchsetzung dieses Willens lediglich dem Grundtatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB nF, der mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren eine gegenüber § 179Abs. 1 StGB aF deutlich niedrigere Strafandrohung enthält.

4. Bei Annahme eines besonders schweren Falls entsprechend dem Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB nF ist das neue Recht nicht milder und es verbleibt bei der Anwendung des § 179 StGB aF, während sich bei einem Absehen von der Regelwirkung des § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB nF das neue Recht für den Angeklagten mit der Strafandrohung aus § 177 Abs. 1StGB nF als günstiger darstellt, sodass es nach § 2 Abs. 3 StGB anzuwenden ist. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 9. Mai 2017 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 18. März 2016 – mit Ausnahme der Feststellungen, die bestehen bleiben – aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner auf eine Verfahrensbeanstandung und die Sachrüge gestützten Revision wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen erweist es sich als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I. Nach den Feststellungen kannte der Angeklagte den 1972 geborenen Nebenkläger, der unter einer leichten Intelligenzminderung leidet und schwerhörig ist, aus der Zeit seiner früheren Tätigkeit als Leiter einer Förderschule für geistige Entwicklung in M. . Nachdem es anlässlich eines Schulfestes, an dem auch der Angeklagte und ehemalige Schüler der Förderschule teilgenommen hatten, wieder zum Kontakt zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger und in der Folgezeit zu einem ohne sexuelle Interaktion verlaufenden Besuch des Angeklagten beim Nebenkläger gekommen war, besuchte der Angeklagte an einem nicht mehr näher eingrenzbaren Tag zwischen 2010 und 2012 erneut den Nebenkläger in dessen Wohnung. Dort schauten beide Pornofilme mit heterosexuellen Handlungen. Der Angeklagte fragte den Nebenkläger sinngemäß, ob er einen „Ständer“ habe, worauf dieser nichts entgegnete. Anschließend fasste der Angeklagte oberhalb der Kleidung an den Penis des Nebenklägers, der daraufhin einmal „nein“ sagte, der sexuellen Zielsetzung des Angeklagten aber nichts Weiteres entgegenzusetzen vermochte. Der Angeklagte forderte den geschockten und überrumpelten Geschädigten sodann auf, auch ihm an den Penis zu fassen, was der Nebenkläger auch tat. Nachdem sich beide im Wohnzimmer ausgezogen hatten, drang der Angeklagte mit seinem Penis, über den er ein Kondom gestreift hatte, anal in den Nebenkläger ein. Danach führte der Nebenkläger auf Aufforderung des Angeklagten den Oralverkehr bei diesem bis zum Samenerguss durch. Der Geschädigte wollte den Sexualkontakt nicht und empfand großen Ekel. Aufgrund seiner Intelligenzminderung in Verbindung mit den Persönlichkeitsbesonderheiten und der Deprivation bei Sozialkontakten war er nicht in der Lage, sich gegen die homosexuellen Handlungen des Angeklagten zu wehren. Der Angeklagte, der – ausweislich der Ausführungen der Strafkammer im Rahmen der Beweiswürdigung – wusste, dass der Geschädigte den sexuellen Kontakt nicht wollte, kannte die geistige Behinderung und Persönlichkeitsstruktur des Geschädigten sowie die ihm aus Sicht des Geschädigten zukommende Autoritätsstellung. Die Defizite des Nebenklägers nutzte er bewusst zur Tatbegehung aus.

II. Die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen nach § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis 9. November 2016 geltenden Fassung kann nicht bestehen bleiben, weil im Revisionsverfahren nicht ausgeschlossen werden kann, dass die durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I 2460) umgestaltete Vorschrift des § 177 StGB nF bei der gebotenen konkreten Betrachtungsweise gemäß § 2 Abs. 3 StGB als milderes Recht Anwendung findet.

1. Nach § 179 Abs. 1 StGB in der bis zum 9. November 2016 geltenden Fassung macht sich strafbar, wer eine Person, die aus den in der Norm näher genannten Umständen zum Widerstand unfähig ist, dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt. Widerstandsunfähigkeit im Sinne dieser Vorschrift setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass das Tatopfer – wenn auch nur vorübergehend – gänzlich unfähig ist, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen gegen das sexuelle Ansinnen des Täters zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit erfordert eine normative Entscheidung, die der Tatrichter auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung zu treffen hat, in welche auch das aktuelle Tatgeschehen und etwaige Beeinträchtigungen des Tatopfers durch die Tatsituation infolge Überraschung, Schreck oder Schock einzubeziehen sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 15. März 1989 – 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 147; Beschlüsse vom 23. September 1997 – 4 StR 433/97, NStZ 1998, 83; vom 23. November 2010 – 3 StR 410/10, NStZ 2011, 210; vom 10. August 2011 – 4 StR 338/11, NStZ 2012, 150; Urteil vom 5. November 2014 – 1 StR 394/14, NStZ-RR 2015, 44, 45). Das Landgericht ist – sachverständig beraten – aufgrund der gebotenen umfassenden Gesamtbetrachtung zu der Überzeugung gelangt, dass der Nebenkläger wegen seiner kognitiven Einschränkungen in Verbindung mit den weiteren Persönlichkeitsdefiziten und den besonderen Gegebenheiten der Tatsituation insoweit widerstandsunfähig war, als er zwar in der Lage war, einen den homosexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu artikulieren, diesen Willen jedoch gegenüber dem Angeklagten bei der Tat nicht durchsetzen konnte. Dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Mit Blick auf die festgestellte anale und orale Penetration des Geschädigten hat die Strafkammer ferner zutreffend die Qualifikation des § 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB aF bejaht und ist im Rahmen der Strafzumessung von einem minder schweren Fall des schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen gemäß § 179 Abs. 6 StGB aF ausgegangen.

2. Mit dem am 10. November 2016 in Kraft getretenen Fünfzigsten Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4. November 2016 (BGBl. I 2460) hat der Gesetzgeber die Vorschrift des § 179 StGB aF aufgehoben und mit dem neu gefassten § 177 StGB nF eine einheitliche Strafnorm zur Erfassung sexueller Übergriffe auf Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drucks. 18/9097, S. 2, 21). Die neu gefasste Vorschrift des § 177 StGB nF enthält insbesondere in den Absätzen 1, 2 Nrn. 1 und 2 und Absatz 4 Nachfolgeregelungen zu § 179 StGB aF, die hinsichtlich des geschützten Rechtsguts und der inkriminierten Angriffsrichtung unverändert geblieben sind und damit einen identischen Unrechtskern aufweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2017 – 1 StR 52/17). Da die Tatbestände des § 177 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB nF und die Qualifikationsnorm des § 177 Abs. 4 StGB nF ausschließlich an die Fähigkeit zur Bildung und Äußerung eines entgegenstehenden Willens anknüpfen, wird die nach altem Recht unter den Begriff der Widerstandsunfähigkeit subsumierte Unfähigkeit, einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter zu realisieren, von diesen Vorschriften des neuen Rechts nicht erfasst (vgl. Renzikowski in MKStGB, 3. Aufl., § 177 nF Rn. 60; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 177 Rn. 59). Das Hinwegsetzen über den artikulierten entgegenstehenden Willen des Tatopfers unterfällt vielmehr unabhängig von einer zustandsbedingten habituellen Unfähigkeit zur Durchsetzung dieses Willens lediglich dem Grundtatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB nF, der mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren eine gegenüber § 179 Abs. 1 StGB aF deutlich niedrigere Strafandrohung enthält. Bei der Vornahme des Beischlafs oder ähnlicher sexueller Handlungen, die das Opfer besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind, sieht das neue Recht in § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren vor.

3. Ob die nach § 354a StPO auch im Revisionsverfahren zu beachtende Änderung des materiellen Rechts bei der gebotenen konkreten Betrachtungsweise nach § 2 Abs. 3 StGB die Anwendung des neuen Rechts zur Folge hat, hängt von der als Strafzumessungsakt allein dem Tatrichter obliegenden Entscheidung über die Regelwirkung des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF ab und kann daher vom Senat auf der Grundlage der bisherigen, sich hierzu nicht verhaltenden Urteilsausführungen nicht abschließend beurteilt werden. Bei Annahme eines besonders schweren Falls entsprechend dem Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF ist das neue Recht nicht milder und es verbleibt bei der Anwendung des § 179 StGB aF, während sich bei einem Absehen von der Regelwirkung des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF das neue Recht für den Angeklagten mit der Strafandrohung aus § 177 Abs. 1 StGB nF als günstiger darstellt, sodass es nach § 2 Abs. 3 StGB anzuwenden ist. Da das Landgericht von dem Normalstrafrahmen des § 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB aF, der wie § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren vorsieht, abgewichen ist und einen minder schweren Fall gemäß § 179 Abs. 6 StGB aF mit einem Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren angenommen hat, kann der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen, dass der Tatrichter bei Zugrundelegung des neuen Rechts die Regelwirkung des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF verneint hätte. Der Senat hebt daher den Schuld- und Strafausspruch auf. Die rechtsfehlerfrei getroffenen tatsächlichen Feststellungen können bestehen bleiben. Ergänzende, zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehende Feststellungen durch den neu zur Verhandlung und Entscheidung berufenen Tatrichter bleiben möglich.