StGB § 21 – Schwachsinn: Auswirkungen auf die Steuerungsfähigkeit für Sexualdelikte

StGB § 21 – Schwachsinn: Auswirkungen auf die Steuerungsfähigkeit für Sexualdelikte

BGH, Beschl. v. 02.06.2010 - 5 StR 171/10 = BeckRS 2010, 15110

Bei einer aufgrund Schwachsinns verminderten Steuerungsfähigkeit darf die Strafkammer in ihrer Subsumtion nicht davon absehen, die gebotene fachwissenschaftliche Beurteilung der Auswirkungen der Intelligenzminderung des Angeklagten auf die Steuerungsfähigkeit gerade hinsichtlich der ausgeführten Sexualdelikte darzulegen.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bautzen vom 8. Januar 2010 nach § 349 Abs. 4 StPO im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

G r ü n d e

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die dagegen gerichtete, mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Das Landgericht hat festgestellt:

a) Der 25 Jahre alte Angeklagte leidet unter Schwachsinn (Gesamtintelligenzquotient von 61). Im Jahr 2003 wurde er unter anderem wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern unter Einbeziehung eines weiteren Urteils wegen mehrfachen Diebstahls zu einer einheitlichen Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Deren Vollstreckung hatte das Jugendgericht zur Bewährung ausgesetzt. Für das damalige Tatgeschehen hatte es den Angeklagten als strafrechtlich voll verantwortlich angesehen; im Bewährungsbeschluss wurde er unter anderem angewiesen, eine im Rahmen einer einstweiligen Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik begonnene stationäre Behandlung solange in Anspruch zu nehmen, wie dies von ärztlicher Seite für erforderlich gehalten werde und anschließend eine ambulante psychiatrische Behandlung durchzuführen. Die Jugendstrafe ist inzwischen erlassen und der Strafmakel beseitigt.

b) Der Angeklagte hatte im Frühjahr 2008 die Familie der am 9. März 1999 geborenen Geschädigten M. F. kennen gelernt, zu der er ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Unter dem Vorwand, mit M. Fußball spielen zu gehen, holte der Angeklagte das Kind im Tatzeitraum an drei nicht mehr konkret feststellbaren Tagen von ihrer Wohnung ab und führte sie in ein Wäldchen. Dort veranlasste er M., sich Hose und Schlüpfer auszuziehen und sich auf den Erdboden zu legen. Der Angeklagte führte seinen Penis jeweils zumindest in den Scheidenvorhof des Kindes ein. An einem weiteren nicht mehr konkret feststellbaren Tag im Tatzeitraum vollzog er mit M. in deren Kinderzimmer den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss, wobei er erneut zumindest in den Scheidenvorhof des Mädchens eindrang.

2. Der Rechtsfolgenausspruch hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten mit rechtsfehlerhafter Begründung verneint.

a) Sachverständig beraten hat es festgestellt, dass der Angeklagte unter Schwachsinn im Sinne von § 20 StGB leidet und bei ihm darüber hinaus Verhaltensstörungen und sexuelle Auffälligkeiten vorhanden sind, die sich unter anderem in den Taten äußern. Diese beiden Beeinträchtigungen hätten aber keine eigenständige Bedeutung; es handele sich um keine separaten Persönlichkeitsstörungen, sondern um unmittelbare Ausflüsse der geistigen Behinderung des Angeklagten. Sie wirke sich insofern erschwerend auf seine soziale Handlungskompetenz aus, als „er in der Fähigkeit komplexere soziale Situationen in Bedeutung und Wertgehalt zu erfassen und daraus korrekte und nachvollziehbare Lösungsmechanismen zu finden, eingeschränkt sei“ (UA S. 21). Eine Pädophilie liege bei ihm nicht vor.

b) Die Strafkammer ist zu dem Schluss gelangt, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seines Schwachsinns zwar tatbezogen vermindert gewesen sei, jedoch nicht erheblich im Sinne von § 21 StGB. Im Ansatz zutreffend führt sie aus, dass es sich bei der Frage der Erheblichkeit der Verminderung der Schuldfähigkeit um eine Rechtsfrage handelt, die das Tatgericht ohne Bindung an die Äußerungen der Sachverständigen unter Beachtung normativer Gesichtspunkte in eigener Verantwortung zu entscheiden hat (vgl. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 11; BGHSt 8, 113, 124). Indes durfte die Strafkammer in ihrer Subsumtion nicht davon absehen, die gebotene fachwissenschaftliche Beurteilung der Auswirkungen der Intelligenzminderung des Angeklagten auf die Steuerungsfähigkeit gerade hinsichtlich der ausgeführten Sexualdelikte darzulegen (vgl. Fischer, StGB 57. Aufl. § 20 Rdn. 63). Diese anspruchsvolle Beurteilung durfte das Tatgericht nicht – wie hier geschehen – ausschließlich durch eigene Erwägungen ersetzen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Sachkunde 1; BGH NStZ 1997, 296).

c) Die Begründung, mit der das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit verneint hat, ist zudem unklar und widersprüchlich. Die Strafkammer hat insoweit berücksichtigt, dass der Angeklagte durch seine geistige Behinderung in seinem sozialen Fortkommen „nicht nur leicht beeinträchtigt“ war (UA S. 22) und dass er sich im Tatzeitraum „aufgrund seines Alleingestelltseins in der eigenen Wohnung und fehlender Hilfe bei der Strukturierung des Tagesablaufs in einer erschwerten Situation befand und dies seinen Problemen, sich sozial kompetent zu verhalten, Vorschub leistete“ (UA S. 23). Als mitbestimmend für die Verneinung einer erheblichen Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit hat die Strafkammer indes auf un-klar gebliebene gegenläufige Umstände abgestellt. Der Angeklagte habe bei allen Tathandlungen die Fähigkeit offenbart, „Situationen auch zum Teil in Einzelheiten zu erkennen und zu bewerten, sowie sie handlungsmäßig strukturiert aufzuarbeiten“ (UA S. 23). Soweit das Landgericht darauf abhebt, „dass der Angeklagte [nicht] auch nur bei einer Tat aufgrund seines Schwachsinns den Überblick verloren oder nicht mehr zielgerichtet gehandelt“ habe, vielmehr „sehr wohl planvoll und zielgerichtet vorgegangen“ sei (UA S. 23), besorgt der Senat, dass es der Zweckgerichtetheit und Planmäßigkeit des Handelns des Angeklagten bei der Tatausführung einen zu hohen Beweiswert für die Beurteilung seiner Steuerungsfähigkeit zugemessen hat (vgl. BGHSt 34, 22, 26; BGH StV 1993, 466; BGH, Beschluss vom 16. Oktober 1987 – 4 StR 522/87 – und vom 21. April 1999 – 5 StR 115/99).

3. Der Senat hat das angefochtene Urteil im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Sollte nämlich das neue Tatgericht zu einer sicheren Feststellung eines länger andauernden psychischen Defekts im Sinne des § 20 StGB im Umfang des § 21 StGB gelangen, so wird es sich angesichts der einschlägigen Vorstrafe des Angeklagten auch mit der Frage einer Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB (vgl. BGHSt 34, 22, 26 ff.; BGHR StGB § 63 Zustand 2 und 17) zu befassen haben (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).

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