StGB § 21 Verminderte Schuldfähigkeit führt regelmäßig zu einer Strafrahmenverschiebung

BGH, Urt. v. 12.01.2021 – 1 StR 488/20 

1. Ob nach Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen oder zu versagen ist, hat der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen aufgrund einer Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände zu entscheiden. Dabei ist bei verminderter Schuldfähigkeit grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt der Tat verringert ist, sodass eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen ist, wenn nicht andere, schulderhehende Gesichtspunkte dem entgegenstehen.

2. Rechtsfehlerhaft ist eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB nur deshalb abzulehnen, weil dem Angeklagten auf Grund seiner langjährigen multiplen Betäubungsmittelproblematik und der damit einhergehenden Delinquenz bekannt und bewusst gewesen ist, welche Auswirkungen Alkohol und Benzodiazepine bei ihm haben.

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts – zu Ziffer 2. auf dessen Antrag – am 12. Januar 2021 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Offenburg vom 14. August 2020 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Privatwohnungseinbruchdiebstahls, Diebstahls mit Waffen sowie wegen Beleidigung in drei Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Angriff auf Vollstreckungsbeamte, mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, mit vorsätzlicher Körperverletzung und mit versuchter Körperverletzung sowie in einem Fall in vier tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Übrigen wurde der Angeklagte freigesprochen. Zudem hat das Landgericht die Einziehung von beim Angeklagten aufgefundenen Gegenständen angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Strafausspruch hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Trotz der bei allen Taten rechtsfehlerfrei festgestellten verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten hat das Landgericht bei der Strafzumessung dem Angeklagten die fakultative Strafmilderung nach § 21 StGB mit rechtlich fehlerhafter Begründung versagt.

1. Ob nach Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen oder zu versagen ist, hat der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen aufgrund einer Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände zu entscheiden (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 24. Juli 2017 – GSSt 3/17, BGHSt 62, 247; vom 22. Mai 2019 – 1 StR 651/18 Rn. 17 und vom 26. Februar 2019 – 1 StR 614/18 Rn. 14; Urteil vom 17. August 2004 – 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239, 241). Dabei ist bei verminderter Schuldfähigkeit grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt der Tat verringert ist (BGH, Urteile vom 10. November 1954 – 5 StR 476/54, BGHSt 7, 28, 30 f.; vom 17. August 2004 – 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239, 241 und vom 7. Mai 2009 – 5 StR 64/09 Rn. 8 f.), sodass eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen ist, wenn nicht andere, schulderhöhende Gesichtspunkte dem entgegenstehen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 15. Februar 2006 – 2 StR 419/05 Rn. 10; vom 26. Mai 2004 – 2 StR 386/03 Rn. 10 und vom 17. August 2004 – 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239, 246; Beschlüsse vom 18. Juni 1985 – 4 StR 232/85 und vom 25. März 2014 – 1 StR 65/14 Rn. 4 mwN). Bei der tatgerichtlichen Ermessensentscheidung über die Strafrahmenverschiebung kann nach den Grundsätzen der actio libera in causa (Grundsatz der Vorverlagerung der Schuld) allerdings eine spätere Minderung der Verantwortlichkeit des Täters zur Tatzeit ohne Bedeutung bleiben (BGH, Beschlüsse vom 26. Februar 2019 – 1 StR 614/18 Rn. 17 und vom 24. Juli 2017 – GSSt 3/17, BGHSt 62, 247). Auch Vorverschulden des Täters kann schulderhöhend berücksichtigt werden, sodass an ein konkret tatbezogenes Verschulden des Täters vor Tatbeginn angeknüpft und eine Strafmilderung trotz Tatbegehung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit aufgrund vorhergehender schulderhöhender Momente versagt werden kann (BGH, Beschluss vom 26. Februar 2019 – 1 StR 614/18 Rn. 18; Urteil vom 17. August 2004 – 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239, 245). Das gilt stets dann, wenn der Täter die Wirkung des auf einer psychischen Störung beruhenden, in der konkreten Tatsituation zur erheblichen Minderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit führenden Defekts vorwerfbar verursacht oder verstärkt hat oder damit hätte rechnen können, Straftaten solcher Art zu begehen. Dies ist grundsätzlich auch bei allen Persönlichkeitsstörungen denkbar, deren tatfördernde Wirkung der Täter kennt. Die Zurechnung eines Vorverschuldens kommt aber nur in Betracht, wenn das betreffende Verhalten sich nicht seinerseits als Ausdruck der Störung darstellt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26.Februar 2019 –1StR 614/18 Rn.18 und vom 17. Januar 1995 – 4 StR 694/94 Rn. 6).

2. Diesen Grundsätzen werden die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts zur Ablehnung einer Strafrahmenmilderung nach § 21 StGB nicht gerecht.

a) Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat das sachverständig beratene Landgericht beim Angeklagten bei allen abgeurteilten Taten, die am selben Tag innerhalb eines Zeitraums von wenigen Stunden begangen wurden, eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei vollständig erhalten gebliebener Einsichtsfähigkeit angenommen und ist vom Vorliegen des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB ausgegangen. Dieses Eingangsmerkmal hat das Landgericht auf Grund einer Doppeldiagnose als erfüllt angesehen: So besteht beim Angeklagten zum einen als Hauptdiagnose eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialer Hauptkomponente sowie emotional-instabilen und narzisstischen Anteilen. Zum anderen tritt zu dieser Erkrankung eine langjährige polytoxikomane Suchtmittelabhängigkeit hinzu, ohne dass beim Angeklagten aber bereits eine suchtbedingte Persönlichkeitsveränderung begründet werden kann (UA S. 4 f.; S. 33 f.). Trotz dieser Feststellungen zur Schuldfähigkeit lehnt das Landgericht eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB nur deshalb ab, weil dem Angeklagten auf Grund seiner langjährigen multiplen Betäubungsmittelproblematik und der damit einhergehenden Delinquenz bekannt und bewusst gewesen sei, welche Auswirkungen Alkohol und Benzodiazepine bei ihm haben, sodass er sich eigenverantwortlich in den Zustand verminderter Schuldfähigkeit versetzt habe (UA S. 37).

b) Damit hat das Landgericht im Rahmen der Prüfung einer Strafrahmenmilderung nach § 21 StGB zwar tatrichterliches Ermessen ausgeübt, seine Entscheidung aber nicht tragfähig begründet. Zur Ablehnung einer solchen Milderung wurde allein auf die Suchtmittelabhängigkeit des Angeklagten abgestellt, ohne die vom Sachverständigen sogar als Hauptdiagnose festgestellte kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialer Hauptkomponente und emotional-instabilen und narzisstischen Anteilen hier ebenfalls in die Gesamtwürdigung aller im Einzelfall schuldrelevanten Umstände einzubeziehen. Dies gilt umso mehr, als nach der Würdigung des Landgerichts im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 64 StGB (UA S. 45) die kombinierte Persönlichkeitsstörung derart massiv ist, dass sie einer eigenständigen sozialtherapeutischen Behandlung bedarf. Die Persönlichkeitsstörung kann im Übrigen auch das Gewicht der Vorstrafen mindern, die größtenteils ebenfalls vom Suchtmittelmissbrauch geprägt sind. Je weniger der Angeklagte nämlich störungsbedingt der Tatbegehung Widerstand entgegensetzen kann, umso geringer ist die ihn treffende Vorwerfbarkeit. Das Verhalten des Angeklagten hätte daher insgesamt als Ausdruck seiner psychischen Störung – und nicht nur beschränkt auf berauschende Mittel – beurteilt werden müssen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte keinerlei Einsicht gezeigt hat, an einer Persönlichkeitsstörung zu leiden, und seine Probleme ausschließlich in seinem Beikonsum zur Substitution sieht (UA S. 45).

3. Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler, weil der Senat nicht ausschließen kann, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beurteilung einer Strafrahmenverschiebung wegen verminderter Schuldfähigkeit nach §§ 21, 49 StGB auf eine mildere Strafe erkannt hätte. Die Nichtanordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hat aber Bestand, weil das Landgericht rechtsfehlerfrei das Vorliegen der Erfolgsaussichten verneint hat.

4. Die bisherigen Feststellungen zur Strafzumessung waren mit aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.