StGB § 212 Darlegungsanforderungen beim Tötungsvorsatz

BGH, Urt. v. 22.09.2020 – 4 StR 147/20

Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt die Annahme von zumindest bedingtem Tötungsvorsatz zwar nahe. Auch hier kann es aber im Einzelfall am Vorsatz fehlen, wenn dem Täter das Risiko einer Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung oder alkoholischen Beeinflussung zur Tatzeit nicht bewusst ist. Hochgradige Alkoholisierung und psychische Beeinträchtigungen gehören daher zu den Umständen, die der Annahme eines bedingten Vorsatzes entgegenstehen können und deshalb ausdrücklicher Erörterung in den Urteilsgründen bedürfen.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 22. September 2020 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 24. Oktober 2019 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte in den Fällen II. B. Taten 2 und 3 verurteilt wurde,

b) im Ausspruch über die Einzelstrafe im Fall II. A. Tat 1,

c) sowie in den Aussprüchen über die Gesamtstrafe, die Maßregelanordnung und die Einziehung.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Totschlag, und wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und versuchter vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Außerdem hat es zwei näher bezeichnete Messer eingezogen und von einer Entscheidung über einen Adhäsionsantrag abgesehen. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Während der Schuldspruch im Fall II. A. Tat 1 (im Folgenden: Tat 1) keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist, hält die Verurteilung im Fall II. B. 2. Tat 2 (im Folgenden:

Tat 2) rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die tateinheitliche Verurteilung wegen versuchten Totschlags weist durchgreifende Rechtsfehler auf. Die Aufhebung der Tat 2 zieht die Aufhebung der Tat II. B. 3. Tat 3 (im Folgenden: Tat 3) nach sich.

a) Nach den Feststellungen des Landgerichts zur Tat 2 kehrte der Angeklagte nach einem Streit mit dem Zeugen G., aufgrund dessen er eines Lokals verwiesen worden war, mit zwei etwa 30 cm langen Messern in das Lokal zurück. Er ging auf den Zeugen zu, holte mit einem der Messer aus und stach im Sprung von oben mit voller Wucht in Richtung der Schädeldecke des Zeugen. Dabei erkannte er die Möglichkeit, dass das Messer dem Zeugen tödliche Verletzungen beibringen könnte, was er zumindest billigend in Kauf nahm. Der Zeuge wich zurück und erlitt nur eine nicht allzu tiefe Wunde an der Stirn. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit im Sinne des § 21 StGB aufgrund einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis nach ICD-10: F 20.0 in Kombination mit einer Mischintoxikation durch Alkohol und Cannabis zwar erheblich eingeschränkt, aber nicht vollständig aufgehoben war.

b) Die Feststellung eines auf ein vorsätzliches Tötungsdelikt gerichteten Tatentschlusses des Angeklagten ist nicht tragfähig begründet.

aa) Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen. Dabei ist die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ein wesentlicher Indikator. Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt die Annahme von zumindest bedingtem Tötungsvorsatz zwar nahe (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2018 - 2 StR 428/17, NStZ-RR 2018, 373). Das Wissens- oder das Willenselement des Vorsatzes können aber auch hier im Einzelfall fehlen, etwa wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko einer Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung oder alkoholischen Beeinflussung zur Tatzeit nicht bewusst ist (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2013 - 2 StR 176/13, NStZ-RR 2013, 341; Beschluss vom 15. Januar 1987 - 1 StR 704/86, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 7). Hochgradige Alkoholisierung und psychische Beeinträchtigungen gehören daher zu den Umständen, die der Annahme eines bedingten Vorsatzes entgegenstehen können und deshalb ausdrücklicher Erörterung in den Urteilsgründen bedürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2018 - 4 StR 251/18, NStZ-RR 2018, 332 mwN).

bb) Das Landgericht hat entgegen den Feststellungen im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, dass es Hinweise darauf gebe, dass die „Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit“ des Angeklagten bei den Taten beeinträchtigt war (UA S. 35). Zur Begründung des auf ein vorsätzliches Tötungsdelikt gerichteten Tatentschlusses hat das Landgericht hinsichtlich des Wissenselements auf die „jedem Laien“ erkennbare Gefährlichkeit der Stichführung abgestellt. Es hat in diesem Zusammenhang zwar berücksichtigt, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit erheblich eingeschränkt war, diesem Umstand aber keine das Wissen um die Gefährlichkeit seines Tuns einschränkende Bedeutung beigemessen, weil die „Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ des Angeklagten nicht vollständig aufgehoben und der Angeklagte auch nicht wahnhaft gewesen sei. Bereits diese Erwägungen lassen besorgen, dass das Landgericht die Auswirkungen des festgestellten psychischen Zustands des Angeklagten auf seine Kognitionsfähigkeit im Hinblick auf die Lebensgefährlichkeit seines Angriffs nicht ausreichend als vorsatzkritischen Umstand in die gebotene Gesamtbetrachtung eingestellt hat. Denn das Landgericht hat nicht erkennbar bedacht, dass sich bereits aus den Hinweisen auf die (erhebliche) Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit ein Anhaltspunkt dafür ergeben kann, dass auch die Fähigkeit des Angeklagten, die Lebensgefährlichkeit seines Vorgehens gegen das Tatopfer zu erkennen, beeinträchtigt gewesen sein kann. Allein der Umstand, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht vollständig aufgehoben waren, schöpft diesen Erörterungsbedarf nicht aus.

cc) Durchgreifend rechtsfehlerhaft ist jedenfalls die unzureichende Berücksichtigung der Auswirkungen des psychischen Zustands des Angeklagten bei der Prüfung des voluntativen Vorsatzelements. Zwar ist die Annahme des Landgerichts, die psychische Erkrankung des Angeklagten gegebenenfalls im Zusammenwirken mit seiner Beeinträchtigung durch Drogen und Alkohol habe zu einer Herabsetzung der Hemmschwelle für gravierende Gewalthandlungen geführt, rechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat indes nicht in Betracht gezogen, dass der psychische Zustand des Angeklagten durchaus auch dazu geführt haben kann, dass er das in seinem Tun enthaltene Risiko falsch eingeschätzt und eine Tötung des Tatopfers deshalb nicht gebilligt hat.

c) Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Totschlags. Dies hat auch die Aufhebung der tateinheitlichen Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung zur Folge (vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2011 - 3 StR 231/11, NJW 2012, 325, 328). Wegen des engen zeitlichen Zusammenhangs der Tat 2 mit der Tat 3 hebt der Senat auch den Schuldspruch zu Tat 3 auf.

2. Während der Schuldspruch zur Tat 1 keinen Rechtsfehler aufweist, da für das Vorliegen einer Schuldunfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 20 StGB keine Anhaltspunkte bestehen, hebt der Senat den Strafausspruch zur Tat 1 auf, um dem Tatrichter widerspruchsfreie Feststellungen zur psychischen Verfassung des Angeklagten zu ermöglichen.

Die Teilaufhebung entzieht der Gesamtstrafe, der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Einziehungsentscheidung die Grundlage.

3. Für den weiteren Fortgang des Verfahrens weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten Beeinträchtigung bzw. Aufhebung der Schuldfähigkeit, die Voraussetzung für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Taten auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Schließt sich das Landgericht insoweit der Beurteilung des Sachverständigen an, sind dessen dafür wesentliche Anknüpfungs- und Befundtatsachen im Urteil so wiederzugeben, wie es zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12). Im Übrigen können die Anwendung des § 21 StGB und darauf aufbauend der Maßregelausspruch nach § 63 StGB nicht auf beide Alternativen - erheblich verminderte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit - zugleich gestützt werden (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2007 - 4 StR 7/07, NStZ-RR 2008, 274; Beschluss vom 28. Januar 2005 - 2 StR 445/04, StraFo 2005, 207; Urteil vom 25. Januar 1995 - 3 StR 535/94, NJW 1995, 1229; Beschluss vom 9. September 1986 - 4 StR 470/86, BGHR StGB § 63 Schuldunfähigkeit 1). Der neue Tatrichter wird zu erwägen haben, ob er einen weiteren Sachverständigen hinzuzieht.

b) Da beim Angeklagten nach den bisherigen Feststellungen zu den Tatzeitpunkten neben der Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis eine Mischintoxikation aus Alkohol und Cannabis vorlag, ist zu beachten, dass sich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus grundsätzlich verbietet, wenn der Ausschluss oder die erhebliche Minderung der Schuldfähigkeit nicht schon allein durch einen länger andauernden psychischen Defekt, sondern erst durch aktuell hinzutretenden Genuss berauschender Mittel, insbesondere Alkohol, herbeigeführt worden ist. In solchen Fällen kommt die Unterbringung nach § 63 StGB aber ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Täter in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist, an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder aufgrund eines psychischen Defektes alkoholsüchtig ist, der, ohne pathologisch zu sein, in seinem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichsteht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 2006 - 2 StR 430/06, NStZ-RR 2007, 73; Urteil vom 8. Januar 1999 ‒ 2 StR 430/98, BGHSt 44, 338, 339 mwN).

Ein Zustand im Sinne des § 63 StGB liegt aber ‒ entsprechend obiger Rechtsprechung ‒ auch dann vor, wenn der Täter an einer länger dauernden geistig-seelischen Störung leidet, bei der bereits geringer Alkoholkonsum oder andere alltägliche Ereignisse die akute erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auslösen können und dies getan haben (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juni 2016 ‒ 4 StR 161/16; Urteil vom 29. September 2015 ‒ 1 StR 287/15, NJW 2016, 341 f.; Beschluss vom 1. April 2014 ‒ 2 StR 602/13, NStZ-RR 2014, 207), wenn tragender Grund seines Zustandes mithin die länger andauernde krankhafte geistig-seelische Störung und die Alkoholisierung lediglich der auslösende Faktor war und ist (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1999 ‒ 2 StR 483/98, BGHSt 44, 369, 374). Entsprechende Feststellungen sind vom Tatgericht zu treffen.