StGB § 212 – Wissenselement des bedingten Vorsatzes

StGB § 212 – Wissenselement des bedingten Vorsatzes 

BGH, Beschl. vom 06.03.2007 – 3 StR 497/06
 
Zur Begründung des bedingten Tötungsvorsatzes. „Das Wissenselement des bedingten Tötungsvor­satzes ist nur dann gegeben, wenn der Angeklagte die Möglichkeit tatsächlich erkannt hat, ohne ärztliche Hilfe werde sein Freund zu Tode kommen.“
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 6. März 2007 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
 
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aurich vom 7. September 2006 a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig ist;
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 
2. Die weitergehende Revision wird verworfen. 
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "Totschlags durch Unter-lassen" zu einer Freiheitsstrafe von siebenJahren und sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision führt zur Änderung des Schuldspruchs undAufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
 
1. Nach den Feststellungen lebte der von Schmerz- und Beruhigungsmitteln abhängige Angeklagte mit seinem quer­schnittsgelähmten Freund S. , dessen umfassende Betreuung er gegen Bezahlung übernommen hatte, in häuslicher Gemeinschaft zusammen. Ab Mitte Mai 2005 vernachlässigte er die Pflege und die Versorgung des hilflos im Bett liegenden S. . Obwohl sich für ihn erkennbar der Gesundheitszustand seines Freundes so dramatisch verschlechterte, dass jede Erkrankung zum Tode führen konnte, holte der Angeklagte keine ärztliche Hilfe. Dabei sah er den mögli­chen tödlichen Verlauf voraus, den er aus Gleichgültigkeit in Kauf nahm. S. verstarb zwischen dem 5. und 7. Juni 2006 infolge unzureichender Versorgung und fehlender ärztlicher Betreuung an einer Lungenentzündung. 
 
2. Der Angeklagte hat die Vernachlässigung der Pflege eingeräumt und sich hinsichtlich der letzten Wochen des Zusammenlebens mit S. weitgehend auf Erinnerungslücken berufen. Die Strafkammer hat - ausgehend von der Ein­lassung des Angeklagten, seinem Freund sei es zuletzt schlecht gegangen, er habe ihm Medikamente geben müssen - auf einen bedingten Tötungsvorsatz geschlossen und hierzu im Wesentlichen ausgeführt: Auch wenn der Angeklagte die Diagnose einer Lungenentzündung nicht habe stellen können, sei in Anbetracht des sichtbar geschwächten Ge­samtzustandes des S. für ihn die konkrete Todesgefahr erkennbar gewesen. Es sei ihm bewusst gewesen, dass ohne ärztliche Hilfe jede Erkrankung tödlich verlaufen könne. Dennoch habe er nicht reagiert und sei bis zuletzt untätig geblieben. Zwar könnten der verwahrloste Zustand der Wohnung sowie das Fehlen eines Tötungsmotivs gegen einen bedingten Tötungsvorsatz sprechen. Dies sei jedoch nicht entscheidend, weil bei einer Tötung durch Unterlassen nur der Impuls zum Tätigwerden unterdrückt werden müsse und daher die zu überwindende Hemmschwelle geringer sei als bei einem aktiven Tun. Dieser Impuls sei beim Angeklagten durch die Beschäftigung mit seiner eigenen Person überlagert gewesen. Bei vernünftiger Betrachtung komme als Motiv für die von ihm behaupteten Erinnerungslücken lediglich der Versuch in Betracht, dadurch den Nachweis eines Tötungsvorsatzes zu verhindern. 
 
3. Die Verurteilung des Angeklagten wegen durch Unterlassen begangenen Totschlags kann nicht bestehen bleiben. a) Zu Bedenken Anlass geben schon die vom Landgericht zur Begründung des bedingten Tötungsvorsatzes im Urteil mehrfach verwendeten Formulierungen, für den Angeklagten seien der schlechte Gesundheitszustand des Tatopfers und die konkrete Todesgefahr "erkennbar gewesen". Durch sie wird das Wissenselement des bedingten Tötungsvor­satzes nicht belegt. Dieses ist nur dann gegeben, wenn der Angeklagte die Möglichkeit tatsächlich erkannt hat, ohne ärztliche Hilfe werde sein Freund zu Tode kommen (vgl. BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 7; Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 15 Rdn. 9 a, 17). b) Selbst wenn der Angeklagte - was aufgrund der festgestellten objektiven Tatumstände nicht fern liegend ist - ab einem bestimmten Zeitpunkt damit gerechnet hat, sein Freund S. könne wegen des sich ständig verschlechternden Gesundheitszustandes ohne sofortige ärztliche Hilfe zu Tode kommen, und er den Todeseintritt billigend in Kauf genommen hat, tragen die Feststellungen den Schuldspruch nicht. Wegen Totschlags durch Unterlassen hat sich der Angeklagte nur strafbar gemacht, wenn das gebotene Handeln, insbesondere die Herbeiholung ärztlicher Hilfe, den als möglich erkannten Tod noch hätte verhindern können und er sich dessen bewusst war (vgl. Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/ Schröder, StGB 27. Aufl. § 15 Rdn. 94; Tröndle/Fischer aaO § 13 Rdn. 18). Dazu enthält das angefochtene Urteil keine Feststellungen. Es ist schon nicht dargelegt, zu welchem Zeitpunkt während der lang an­dauernden Vernachlässigung der Pflege der Angeklagte aufgrund welcher Indizien die Todesgefahr erkannte und der Körperverletzungsvorsatz in einen Tötungsvorsatz umgeschlagen ist. Auch enthält das Urteil keine Aussage dazu, ob zu diesem Zeitpunkt bei sofortiger ärztlicher Hilfe die Verhinderung des Todeseintritts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (vgl. Tröndle/Fischer aaO vor § 13 Rdn. 20) noch möglich und dem Angeklagten die Möglich­keit einer Rettung überhaupt bewusst war. Angesichts der besonderen Umstände des Falles erscheint nicht ausge­schlossen, dass der Angeklagte auf Grund seines eigenen schlechten Gesundheitszustandes die Todesgefahr nicht oder jedenfalls so spät erkannte, dass eine Rettung des schwer kranken S. nicht mehr in Betracht kam.
4. Demnach hat die Verurteilung wegen Totschlags keinen Bestand. Es ist auszuschließen, dass in einer neuen Hauptverhandlung die für eine Verurteilung wegen Totschlags durch Unterlassen erforderlichen Feststellungen, insbesondere die Möglichkeit der Erfolgsverhinderung nach Erkennen der Todesgefahr, getroffen werden könnten.
Aufgrund des festgestellten Sachverhalts ist der Angeklagte jedoch der Körperverletzung mit Todesfolge (durch Unterlassen) gemäß § 227 StGB schuldig. Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert. § 265 Abs. 1StPO steht der Änderung nicht entgegen, weil sich der Angeklagte nicht anders als geschehen hätte verteidigen kön­nen. Die Änderung des Schuldspruchs führt schon deshalb zur Aufhebung des Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen, weil die Mindeststrafe der Körperverletzung mit Todesfolge deutlich geringer ist als die des Tot­schlags. 
5. Die Strafzumessung in dem angefochtenen Urteil gibt Anlass zu folgendem Hinweis: Die zu Lasten des Angeklag­ten berücksichtigten Strafzumessungsgründe, er habe letztlich sein Wohlbefinden "ohne Not" über das des Getöteten gestellt, das Opfer sei auf Grund der Querschnittslähmung ohne fremde Hilfe überhaupt nicht überlebensfähig gewe­sen, so dass sich die Untätigkeit nur wenig von einer aktiven Tötung unterscheide, ist im Hinblick auf das Doppel­verwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB bedenklich. Denn mit diesen Erwägungen wird dem Angeklagten straf­schärfend angelastet, dass er seine Garantenpflicht gegenüber dem hilflosen S. verletzt hat, obwohl ihm ein Tätig­werden zumutbar gewesen wäre. Bei der Festsetzung der für die Körperverletzung mit Todesfolge schuldangemesse­nen Strafe wird der neue Tatrichter auch den sich aufdrängenden Umstand berücksichtigen müssen, dass der noch junge Angeklagte mit der Betreuung und Pflege seines querschnittsgelähmten Freundes offensichtlich überfordert war.
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