StGB § 223, 227 „Berliner Drogenarzt“

 

StGB § 223, 227 „Berliner Drogenarzt“

BGH, Beschl. v. 11.01.2011 - 5 StR 491/10 - NStZ 2011, 341

Es bestehen grundlegende Bedenken dagegen, die Grundsätze der Aufklärungspflicht bei ärztlicher Heilbehandlung uneingeschränkt in Fällen anzuwenden, in denen sich selbstverantwortliche Perso­nen auf eine Behandlung einlassen, die offensichtlich die Grenzen auch nur ansatzweise anerken­nenswerter ärztlicher Heilkunst überschreitet.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. Januar 2011 beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Mai 2010 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststel­lungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit­tels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen. 

G r ü n d e

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen einer tateinheitlichen Tat der Körperverletzung mit Todesfolge und der Überlassung von Betäubungsmitteln mit Todesfolge (zwei tateinheitliche Fälle) sowie der gefährlichen Körperverlet­zung und der vorsätzlichen Überlassung von Betäubungsmitteln (fünf tateinheitliche Fälle) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt und ihn mit einem dauerhaften Berufsverbot für eine Tätigkeit als nie­dergelassener Arzt und als Psychotherapeut belegt. Seine hiergegen gerichtete Revision hat mit der Sachrüge Erfolg. 

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts führte der Angeklagte, ein auf psychotherapeutische Behandlungen spezialisierter Arzt, sogenannte psycholytische Sitzungen durch. Bei diesen Gruppensitzungen werden die Patienten – so der Ansatz der Psycholyse – durch Drogen in ein Wachtraumerleben der Objektumgebung versetzt. Ziel dieser in Deutschland wissenschaftlich nicht anerkannten Methode soll es sein, an unbewusste Inhalte der Psyche zu gelan­gen. Am 19. September 2009 führte der Angeklagte mit einer Gruppe von zwölf Personen eine Intensivsitzung durch. Nach einer „Einstimmungs-und Befindlichkeitsrunde“ stellte er die zur Einnahme bereitgehaltenen Substan­zen Neocor und MDMA vor. Nachdem der Angeklagte an neun der Gruppenmitglieder zunächst eine Tablette des nicht als Arzneimittel zugelassenen Neocor verabreicht hatte, fragte er, wer von den Anwesenden MDMA einneh­men wolle. Daraufhin meldeten sich sieben Mitglieder der Gruppe, darunter die später verstorbenen K. und Kn.. Von dem MDMA, das von dem Nebenkläger N. beschafft worden war, sollten sechs Mitglieder der Gruppe, die sich zur Einnahme entschlossen hatten, 120 mg, der Nebenkläger N. 140 mg erhalten. Der Angeklagte übernahm das Abwie­gen des Rauschgifts. Dabei wunderte er sich zwar über das Volumen der abgewogenen Menge, verließ sich aber auf die Anzeige seiner Waage. Tatsächlich übergab er an die zum Drogenkonsum bereiten Gruppenmitglieder jedoch mindestens die zehnfache Menge. Etwa zehn bis 15 Minuten nach der Einnahme kam es bei diesen zu heftigen kör­perlichen Reaktionen. Einige erlitten Spasmen und waren unfähig, sich zu bewegen, mussten sich übergeben oder fingen an, um sich zu schlagen. Die körperlichen Ausfälle aufgrund der Vergiftung verstärkten sich zunehmend. Trotz der vom Angeklagten und der herbeigerufenen Notärztin veranlassten Hilfsmaßnahmen verstarben Kn. und K. an Multiorganversagen aufgrund der Überdosis MDMA. Der Nebenkläger N. war lebensgefährlich erkrankt, konnte jedoch nach Intensivbehandlung gerettet werden; die übrigen vier Gruppenmitglieder wurden nach einigen Tagen stationärer Behandlung wegen Vergiftungserscheinungen wieder entlassen.

2. Das Landgericht hat in der Verabreichung des MDMA eine vorsätzliche Körperverletzung gesehen. Der Ange­klagte habe die Tatherrschaft über den Vorgang innegehabt, indem er das MDMA abgewogen und den Gruppenmit­gliedern zur Verfügung gestellt habe. Eine Einwilligung fehle, weil er die Gruppenmitglieder nicht ausreichend auf­geklärt habe. Der durch diese Körperverletzungshandlung herbeigeführte Todeseintritt sei für ihn voraussehbar ge­wesen. Dies führe zugleich zu einer Strafbarkeit wegen des Überlassens von Betäubungsmitteln mit Todesfolge, weil der Angeklagte den Tod von K. und Kn. auch leichtfertig verursacht habe. 

II. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts, das der Einlassung des Angeklagten im Hinblick auf eine versehentliche Überdosierung gefolgt ist, erweist sich die Revision des Angeklagten als begründet. Die Annahme einer vorsätzlichen Körperverletzung zu Lasten der MDMA konsumierenden Gruppenmitglieder begegnet durchgrei­fenden Bedenken. 

1. Das Landgericht grenzt allerdings im Ansatz zutreffend die strafbare Körperverletzung von der straflosen Beteili­gung an einer Selbstgefährdung ab. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unterfällt die eigen­verantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs­- oder Tötungsdelikts verurteilt werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches – soweit es um die Strafbar­keit wegen Tötung oder Körperverletzung geht – kein tatbestandsmäßiger und damit kein strafbarer Vorgang ist (BGH, Urteile vom 14. Februar 1984 – 1 StR 808/83, BGHSt 32, 262; vom 11. Dezember 2003 – 3 StR 120/03, BGHSt 49, 34, 39; vom 29. April 2009 – 1 StR 518/08, BGHSt 53, 288, 290). Da sämtliche Mitglieder der Gruppe das Betäubungsmittel MDMA eigenhändig und wissentlich zu sich nahmen, liegt eine eigenverantwortliche Selbst­gefährdung vor. Dies schließt eine Strafbarkeit wegen einer vorsätzlichen Körperverletzung aus. 

2. Eine strafrechtlich relevante Handlungsherrschaft wäre dem Angeklagten nur dann zugewachsen, wenn und soweit die Freiverantwortlichkeit des Selbstgefährdungsentschlusses der Gruppenteilnehmer beeinträchtigt gewesen wäre. Dies ist der Fall, wenn der Täter kraft überlegenen Fachwissens das Risiko besser erfasst als der Selbstgefährdende, namentlich wenn das Opfer einem Irrtum unterliegt, der seine Selbstverantwortlichkeit ausschließt (vgl. BGH, Urtei­le vom 29. April 2009 – 1 StR 518/08, BGHSt 53, 288, 290; vom 9. November 1984 – 2 StR 257/84, NStZ 1985, 319, 320), oder es infolge einer Intoxikation zu einer Risikoabwägung nicht mehr hinreichend in der Lage ist (BGH, Urteil vom 27. November 1985 – 3 StR 426/85, NStZ 1986, 266). Eine solche besondere Situation belegen die Ur­teilsgründe nicht.

a) Sämtliche Mitglieder der Gruppe nahmen das Betäubungsmittel MDMA willentlich zu sich. Ungeachtet der Tat­sache, dass der Angeklagte die Dosierung bestimmte und die Betäubungsmittelportionen auch selbst abwog, verblieb ihnen ohne jede Einschränkung die letzte Entscheidung über die Einnahme.

b) Auch der von der Strafkammer angeführte Gesichtspunkt, der Angeklagte als Arzt und ehemaliger Suchtberater habe das Risiko besser erfasst als seine Gruppenmitglieder, die ihm vertraut hätten, begründet noch keine strafrecht­lich relevante Handlungsherrschaft (vgl. Roxin, Strafrecht AT Bd. 1, 4. Aufl., § 11 Rdn. 111; vgl. sehr weitgehend BGH, Urteil vom 18. Juli 1978 – 1 StR 209/78, JR 1979, 429). Alle Gruppenmitglieder kannten die Illegalität der Droge. Bei der Psycholyse handelt es sich um eine in Deutschland wissenschaftlich nicht anerkannte Therapieme­thode. Folglich mussten sie mit besonderen medizinischen Risiken rechnen. Darüber hinaus verfügten alle bereits über Erfahrungen mit der Droge; der später Verstorbene Kn. hatte nach der Einnahme von MDMA überdies bereits früher Spasmen und Halluzinationen erlitten. Die Droge wurde vom Nebenkläger N. aus nicht näher geklärten – notwendigerweise jedoch illegalen – Quellen beschafft.

c) Angesichts dieser Umstände liegt eine eigenverantwortliche Selbstschädigung vor, selbst wenn der Angeklagte die einzelnen Gruppenmitglieder nicht über sämtliche – auch die eher seltenen – Risiken der MDMA-Einnahme bei gängiger Verbrauchsdosierung, insbesondere nicht über ein bestehendes Todesrisiko, aufgeklärt hat, zumal sich diese Risiken im vorliegenden Fall nicht realisierten. Es bestehen zudem grundlegende Bedenken dagegen, die Grundsätze der Aufklärungspflicht bei ärztlicher Heilbehandlung uneingeschränkt in Fällen anzuwenden, in denen sich selbst­verantwortliche Personen auf eine Behandlung einlassen, die offensichtlich die Grenzen auch nur ansatzweise aner­kennenswerter ärztlicher Heilkunst überschreitet (vgl. auch § 13 BtMG).

3. Ein die Tatherrschaft des Angeklagten begründender Umstand wäre allerdings die Überdosierung mit der mindes­tens zehnfachen Menge des MDMA, weil hierdurch die Konsumenten der Drogen über einen ganz wesentlichen Gesichtspunkt im Unklaren gelassen wurden. Die wesentlich höhere Dosis hatte nämlich eine erhebliche Vergröße­rung des Risikos zur Folge, das die Konsumenten nicht einschätzen konnten und auch tatsächlich verkannten. Diese Fehldosierung durfte dem Angeklagten jedoch auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht als vorsätzli­che Körperverletzung zugerechnet werden. Das Landgericht folgt nämlich der Einlassung des Angeklagten, aufgrund einer Fehlfunktion seiner Waage sei es zur Überdosierung gekommen. Demnach fehlt es an einer Vermittlung der Tatherrschaft durch Irrtumsherrschaft, die bei der vorsätzlichen Körperverletzung nur durch ein vorsätzliches Han­deln bewirkt werden kann. Wenn der Angeklagte die maßgebliche Risikoerhöhung durch die Falschdosierung nicht erkannt hat, liegt lediglich ein durch fahrlässiges Tun herbeigeführter Irrtum der Gruppenmitglieder vor. Der Ange­klagte hätte deshalb auf der Basis der nach seiner Einlassung getroffenen Feststellungen – abhängig von den Folgender Überdosierung bei den einzelnen Gruppenmitgliedern – lediglich wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) verurteilt werden können.

III. Der Rechtsfehler nötigt angesichts der tateinheitlichen Verknüpfung sämtlicher verwirklichter Straftatbestände zu einer umfassenden Aufhebung des Schuldspruchs (vgl. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2003 – 3 StR 120/03,BGHSt 49, 34, 45). Abgesehen davon begegnet auch die Annahme einer Strafbarkeit wegen Überlassens der Betäu­bungsmittel mit Todesfolge (§ 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG) auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen Bedenken. Die Tatbestandsverwirklichung setzt im Hinblick auf die Todesfolge Leichtfertigkeit voraus (§ 18 StGB). Hierfür ist das Maß der Pflichtwidrigkeit im Moment des Wiegevorgangs entscheidend, weil der vom Landgericht angenomme­ne Wiegefehler die den Todeserfolg auslösende Bedingung gesetzt hat. Das Landgericht hätte sich deshalb mit der Frage der Erkennbarkeit des Wiegefehlers vor dem Erfahrungshintergrund des Angeklagten als Arzt näher auseinan­dersetzen müssen. Von einer Aufrechterhaltung von Teilen der Feststellungen sieht der Senat ab, um dem neuen Tatgericht eine umfassende Aufklärung zu ermöglichen. Das neue Tatgericht wird sich dabei kritisch mit der Einlas­sung des Angeklagten auseinandersetzen müssen, dass er infolge eines Fehlers der Waage die zehnfache Überdosie­rung des MDMA nicht erkannt habe (vgl. BGH, Beschluss vom 15. April 2010 – 5 StR 75/10, NStZ 2010, 503).

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