StGB § 226 Abs. 1 Nr. 2 Wann ist ein Glied wichtig?

BGH, Urt. vom 15.03.2007 - 4 StR 522/06 -NJW 2007, 1988 f.
 
LS: Bei Beurteilung der Frage, ob ein Körperglied im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB wichtig ist, sind auch individuelle Körpereigenschaften und dauerhafte körperliche (Vor-)Schädigungen des Verletzten zu berücksichtigen. 
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 15. März 2007 für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 5. Mai 2006, soweit es den Angeklagten B. betrifft,  a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der absichtlichen schweren Körperverletzung schuldig ist,  b) im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. 
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Die Staatsanwaltschaft stützt ihr zu Ungunsten des Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, auf die Sachrüge und erstrebt eine Verurteilung wegen absichtlicher oder wissentlicher schwerer Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 StGB. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Revision des Angeklagten ist hingegen unbegründet. 
I. 1. Nach den Feststellungen kamen der Angeklagte und der Mitangeklagte Bi. überein, Safder S. zu verprügeln und ihm auf diese Weise einen Denkzettel zu verpassen, weil er im Verdacht stand, das Patenkind des Mitangeklagten sexuell missbraucht zu haben. Sie lockten S. deshalb mit seinem Fahrzeug an eine abgelegene Stelle, zogen ihn dort aus seinem Pkw heraus, brachten ihn zu Boden und schlugen und traten zunächst auf ihn ein. Sodann fixierten sie die rechte Hand S. s durch Festhalten seines Unterarms so, dass die Hand flach auf dem asphaltierten Boden lag. Der Angeklagte schlug daraufhin mit einem scharfen Gipserbeil mehrfach und mit erheblicher Wucht gezielt auf die zu Boden gedrückte Hand des Tatopfers. Er trennte S. zwei Glieder des rechten Mittelfingers vollständig, den Zeige-und Ringfinger der rechten Hand nahezu vollständig ab. Während die Verletzung am Ringfinger folgenlos ausheilte, musste der Zeigefinger versteift werden und ist seither im Mittelgelenk nicht mehr beweglich. S. kann deshalb seine Faust nicht mehr schließen. Es ist ein erheblicher Kraftverlust in der rechten Hand eingetreten, ihre Funktionsfähig­keit ist erheblich eingeschränkt. S. ist verletzungsbedingt eine Minderung seiner Erwerbsfähigkeit in Höhe von 20 % zuerkannt worden. 
2. Das Landgericht hat den Angeklagten (nur) wegen gefährlicher Körperverletzung für schuldig befunden, da er die Tat gemeinschaftlich mit dem Mitangeklagten Bi. (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) und -in Form eines Mittäterexzesses ­mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) begangen hat. Die Voraussetzungen einer (absicht­lichen oder wissentlichen) schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 2, (Abs. 2) StGB hat es indes in ob­jektiver Hinsicht nicht für gegeben erachtet. Die Abtrennung lediglich der ersten beiden Glieder des rechten Mittel­fingers stelle keinen Verlust eines wichtigen Körpergliedes im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar. Die Verstei­fung des rechten Zeigefingers habe keine dauernde Unbrauchbarkeit im Sinne dieser Vorschrift zur Folge, da dem Finger "die ihm im sozialen Leben zugewiesene Zeigefunktion" erhalten geblieben sei. Schließlich sei auch durch die Verletzung beider Finger die Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand nicht insgesamt aufgehoben, sondern nur erheblich eingeschränkt.
II. Die Revision der Staatsanwaltschaft 
1. Die Begründung, mit welcher das Landgericht die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer schweren Kör­perverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB abgelehnt hat, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beschwer­deführerin beanstandet zu Recht, dass die Strafkammer ihrer Wertung, die Versteifung des rechten Zeigefingers stelle keine dauernde Gebrauchsunfähigkeit eines wichtigen Körpergliedes dar, einen zu engen Maßstab zu Grunde gelegt hat. 
a) Der Zeigefinger der rechten Hand stellt, was das Landgericht letztlich offen gelassen hat, unter den hier gegebenen Umständen ein wichtiges Glied des Körpers im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar. 
aa) Die Rechtsfrage, ob ein Körperglied im Sinne dieser Vorschrift "wichtig" ist, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Das Reichsgericht hat die Wichtigkeit eines Körperglieds rein abstrakt und generalisierend danach be­stimmt, ob dessen Verlust "für jeden normalen Menschen eine wesentliche Beeinträchtigung des gesamten Körpers in seinen regelmäßigen Verrichtungen" bedeutet. Es hat also allein darauf abgestellt, welche Bedeutung das Körper­glied für den Menschen überhaupt hat, unabhängig von den individuellen Besonderheiten des Verletzten (vgl. RGSt 6, 346, 347; 62, 161, 162; 64, 201, 202; RG GA Bd. 47 (1900), 168; Bd. 52 (1905), 91). Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof im Grundsatz fortgeführt (ebenso vgl. Paeffgen in NK-StGB 2. Aufl. § 226 Rdn. 29). So hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28. Mai 1953 (MDR bei Dallinger 1953, 597) ausgeführt, der Zeigefin­ger der rechten Hand sei ein wichtiges Körperglied, da sein Verlust eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensfüh­rung "für jedermann" bedeute. Eine etwas differenzierendere Betrachtung findet sich in der Entscheidung des 5. Strafsenats in NJW 1991, 990, wonach jedenfalls bei dem Verlust eines Fingers das Tatbestandsmerkmal nur dann zu bejahen sei, wenn "zusätzliche Umstände" festgestellt werden können. Demgegenüber beurteilt ein Teil des Schrifttums die Wichtigkeit eines Körpergliedes maßgeblich nach der Individualität des Tatopfers, namentlich nach seinen beruflichen Verhältnissen (Stree in Schönke/Schröder 27. Aufl. § 226 Rdn. 2; Lackner/Kühl StGB 25. Aufl. § 226 Rdn. 3). Hierfür wird ausgeführt, dass die Bedeutung bestimmter Körperglieder und damit das Gewicht ihres Verlustes bei einzelnen Personen (z.B. ein Finger bei einem Berufspianisten) größer als im Normalfall sein kann. Eine andere Meinung stellt unter Bezug auf den Schutzzweck der Norm auf die individuelle Wichtigkeit des Körper­gliedes für die generellen körperlichen Mindestfähigkeiten ab. Danach sollen bei der Beurteilung der Wichtigkeit eines Körpergliedes zwar berufliche, soziale oder private Sonderfähigkeiten oder Interessen des Tatopfers außer Acht bleiben, hingegen dessen individuelle Körpereigenschaften bzw. körperliche Besonderheiten Berücksichtigung finden (Hardtung in MünchKomm StGB § 226 Rdn. 27; Hirsch in LK 11. Aufl. § 226 Rdn. 15; Horn/Wolters in SK § 226 Rdn. 10).
bb) Der Senat hält mit der Literatur die Auslegung, die das Tatbestandsmerkmal der "Wichtigkeit" eines Körper­glieds durch das Reichsgericht erfahren hat, für zu eng und nicht mehr zeitgemäß. Er ist der Auffassung, dass bei Beurteilung der Frage, ob ein Körperglied im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB wichtig ist, auch individuelle Kör­pereigenschaften und dauerhafte körperliche (Vor-)Schädigungen des Verletzten zu berücksichtigen sind. Einer sol­chen Auslegung des Tatbestandsmerkmals stehen weder der Wortlaut des Gesetzes noch tragende Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs entgegen. Soweit eigene Rechtsprechung des Senats (MDR bei Dallinger 1953, 597) entgegensteht, wird diese aufgegeben. § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein konkretes Verletzungsdelikt, des­sen Erfolg auch von der jeweiligen körperlichen Beschaffenheit des Tatopfers abhängt. So hat ein Finger der linken Hand naturgemäß für einen Linkshänder eine größere Bedeutung als für einen Rechtshänder. Für einen Menschen ohne Hände, etwa infolge einer körperlichen Behinderung, der gelernt hat, seine Zehen als Fingerersatz einzusetzen, sind diese Zehen für das Hantieren ebenso wichtig wie die Finger für einen nicht behinderten Menschen (vgl. Hard­tung in MünchKomm StGB § 226 Rdn. 27). Solche dauerhaften körperlichen Besonderheiten eines Tatopfers bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Wichtigkeit eines Körperglieds entsprechend der vom Reichsgericht entwi­ckelten Rechtsprechung gänzlich außer Acht zu lassen, widerspräche dem heutigen Verständnis eines gleichberech­tigten Zusammenlebens von Menschen unter-schiedlicher körperlicher Beschaffenheit.
cc) Hiervon ausgehend ist im vorliegenden Fall der Zeigefinger der rechten Hand des Tatopfers ein wichtiges Kör­perglied im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB und zwar unabhängig davon, ob -was sich aus dem Urteil nicht zwei­felsfrei ergibt -der Verletzte Rechts- oder Linkshänder ist. Es ist nämlich auf die Besonderheit Bedacht zu nehmen, dass dem Opfer durch die Tat auch dessen rechter Mittelfinger teilweise abgetrennt wurde, sich die Verletzung mit­hin besonders schwerwiegend für das Tatopfer ausgewirkt hat, weil die durch die Versteifung des Zeigefingers ein­getretenen Funktionsverluste nicht einmal teilweise durch den Mittelfinger übernommen werden können.
b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts hat die verletzungsbedingte Versteifung auch zu einer dauernden Gebrauchsunfähigkeit des rechten Zeigefingers geführt. Konnte nach der ständigen Rechtsprechung zu der Gesetzes­fassung des § 224 Abs. 1 StGB a.F. nur der physische Verlust eines wichtigen Körpergliedes, nicht aber lediglich die Verminderung oder Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit dieses Gliedes den Tatbestand der schweren Körperverlet­zung begründen (vgl. BGH NJW 1988, 2622; BGH StV 1992, 115), so ist seit Inkrafttreten des 6. Strafrechtsreform­gesetzes in § 226 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. StGB die dauernde Gebrauchsunfähigkeit dem Verlust eines Körpergliedes gleichgestellt. Entgegen der Auffassung des Landgerichts setzt die dauernde Gebrauchsunfähigkeit jedoch keinen völligen, in jeder Hinsicht gegebenen Funktionsverlust des betroffenen Körpergliedes voraus. Eine so enge Ausle­gung entspräche weder dem Sinn des Gesetzes noch dem Willen des Gesetzgebers, der von der neu geschaffenen Tatbestandsalternative ausdrücklich jene von der Rechtsprechung nicht unter § 224 Abs. 1 StGB a.F. subsumierten Fälle der verletzungs-bedingten Versteifung eines wichtigen Körpergliedes (BGH NJW 1988, 2622) erfasst sehen wollte (BTDrucks. 13/9064, S. 16). Bei einem "nur" durch Versteifung beeinträchtigten Körperglied wird jedoch zumeist irgendeine Funktion erhalten bleiben. Für die Beurteilung, ob ein wichtiges Körperglied dauernd nicht mehr gebraucht werden kann, ist deshalb im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln, ob als Folge der vor­sätzlichen Körperverletzung so viele Funktionen ausgefallen sind, dass das Körperglied weitgehend unbrauchbar geworden ist und von daher die wesentlichen faktischen Wirkungen denjenigen eines physischen Verlusts entspre­chen (vgl. Rengier in ZStW 111 (1999), 1, 15 f.; im Ergebnis ebenso Horn/Wolters in SK § 226 Rdn. 11, Hardtung in Münch-Komm StGB § 226 Rdn. 30). Dies zu Grunde gelegt, hat die festgestellte Versteifung des Zeigefingers der rechten Hand des Tatopfers entgegen der Auffassung des Landgerichts eine dauernde Unbrauchbarkeit dieses (wich­tigen) Körpergliedes zur Folge (ebenso Horn/Wolters aaO). Wie der physische Verlust dieses Fingers führt dessen Versteifung zu einer - von der Strafkammer bei ihrer Abwägung gänzlich außer Acht gelassenen - massiven Ein­schränkung sowohl beim Greifen als auch beim Halten und Arbeiten. Gerade durch den sog. "Pinzetten-Griff" des Daumens und des Zeigefingers wird die menschliche Handgeschicklichkeit ganz entscheidend geprägt (vgl. RGSt 6, 346, 348; Paeffgen in NK-StGB 2. Aufl. § 226 Rdn. 29). Gegenüber dieser besonderen Bedeutung des Zeigefingers für alle Greiftätigkeiten tritt die aufrechterhalten gebliebene "Zeigefunktion" dieses Fingers in den Hintergrund.
2. Der Senat kann den Schuldspruch selbst ändern. Die vollständig und rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen eine Verurteilung wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB nicht nur in objektiver, sondern auch in subjektiver Hinsicht. Das Landgericht ist auf der Grundlage rechtlich beanstan­dungsfreier Erwägungen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte dem Tatopfer absichtlich die schwere Tat­folge beigebracht hat. Die Annahme absichtlichen Handelns im Sinne des § 226 Abs. 2 StGB war im Hinblick auf das Vorgehen des Angeklagten, der, ein Widerlager ausnutzend, mit einem scharfen Beil mehrfach kräftig auf die Finger der fixierten Hand des Tatopfers schlug, nicht nur möglich, sondern nahe liegend. § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen, da der Angeklagte wegen wissentlicher oder absichtlicher schwerer Körper­verletzung angeklagt war. 
3. Die Änderung des Schuldspruchs führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Obwohl das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung den einer absichtlichen schweren Körperverletzung entsprechenden Schuldumfang zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat, kann der Senat in Anbetracht des höheren Strafrahmens des § 226 Abs. 2 StGB nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass die Strafkammer bei Zugrundelegung des geänderten Schuldspruchs auf eine höhere Strafe erkannt hätte. 
III. Die Revision des Angeklagten  Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. 
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