StGB § 228 Schlägerei unter Strafgefangenen mit tödlichem Ausgang
BGH, Urt. v. 26.01.2021 – 1 StR 463/20
1. Auch ein in einer Justizvollzugsanstalt einsitzender Strafgefangener kann über das Rechtsgut seiner körperlichen Unversehrtheit disponieren. Eine körperliche Auseinandersetzung in einer Justizvollzugsanstalt kann zwar disziplinarisch geahndet werden, ist aber als solche nicht sittenwidrig iSd § 228 StGB.
2. Die Unvereinbarkeit einer Körperverletzung mit den „guten Sitten“ i.S.d § 228 StGB hängt ab von der ex ante zu bestimmenden Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des eingetretenen Körperverletzungserfolgs sowie des damit einhergehenden Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers.
3. Der für eine Unterbringung nach § 64 StGB notwendige symptomatische Zusammenhang zwischen Hang und Tat liegt vor, wenn der Hang allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat beging. Die Symptomtat muss allerdings positiv feststehen und darf nicht nach dem Zweifelssatz angenommen werden (stRspr).
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Januar 2021 nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts – zu 2. auf dessen Antrag – gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 8. Juli 2020 – mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen – aufgehoben (§ 349 Abs. 2 StPO).
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen (vorsätzlicher) Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, mit der er insbesondere die Nichtanordnung der Maßregel (§ 64 StGB) beanstandet.
Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts verbüßten der Angeklagte und der Geschädigte in verschiedenen „Häusern“ der Justizvollzugsanstalt B. ihre Strafhaft. Zwischen ihnen war es seit längerer Zeit zu Streitigkeiten mit wechselseitigen Beleidigungen gekommen. Allen Strafgefangenen war klar, dass eine körperliche Auseinandersetzung bevorstand. Die Gelegenheit hierzu ergab sich anlässlich des für den 15. August 2019 angesetzten Volleyballspiels zwischen den beiden „Häusern“. Nach dem Einlass seines „Hauses“ zum Sporthofgang wartete der Geschädigte im Basketballfeld auf den Angeklagten. Als auch dessen „Haus“ eingelassen wurde, teilte ein Strafgefangener dem Angeklagten mit, dass sich der Geschädigte nun mit ihm schlagen wolle. Der Angeklagte lief auf den Geschädigten zu. Beide schlugen sodann mit Fäusten aufeinander ein, wobei nicht mehr festgestellt werden konnte, wer die tätliche Auseinandersetzung begann. Der Angeklagte versetzte dem Geschädigten kurz nach Beginn der Auseinandersetzung einen wuchtigen Faustschlag gegen den Kopf. Aufgrund der dadurch bedingten starken Beschleunigung des Kopfes kam es zu einem Gefäßabriss im Bereich der Hirnbasis mit ausgeprägten Blutungen, der den Tod des Geschädigten verursachte; jedenfalls aber ist zugunsten des Angeklagten nicht auszuschließen, dass bereits dieser Schlag todesursächlich war. Der Geschädigte stürzte zu Boden und schlug mit dem Hinterkopf auf. Zugunsten des Angeklagten ist nicht auszuschließen, dass der am Boden liegende Geschädigte noch kurz eingeschränkt handlungsfähig war und versuchte, sich am T-Shirt des Angeklagten festzuhalten und zurückzuschlagen. Weiterhin ist es zugunsten des Angeklagten nicht auszuschließen, dass er dem Geschädigten deshalb noch einmal mit der Faust in das Gesicht schlug. Dann versetzte ihm der Angeklagte zur Bekräftigung seiner Überlegenheit noch einen stampfenden Tritt mit dem Fuß auf die Stirn, der eine streifenförmige Zeichnung seines Turnschuhs hinterließ.
2. Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten im Rahmen des nur wenige Sekunden dauernden Gesamtgeschehens als natürliche Handlungseinheit gewertet (UA S. 43) und als Körperverletzung mit Todesfolge geahndet. Es fehle an einer Einwilligung des Geschädigten nach § 228 StGB, weil keine „einvernehmliche oder ausgemachte Prügelei“ vorgelegen habe; denn ein konkreter Zeitpunkt und Ort hierfür sei nicht vereinbart gewesen, auch wenn den Kontrahenten klar gewesen sei, dass es bei einer Begegnung zu einer Auseinandersetzung kommen würde. Im Übrigen sei eine Einwilligung in eine körperliche Auseinandersetzung in einer Justizvollzugsanstalt sittenwidrig. Solche Auseinandersetzungen seien verboten und würden disziplinarisch geahndet. Zudem bestehe die große Gefahr, dass andere in die Auseinandersetzung verwickelt würden, das Geschehen ausarte und zu einem Gefängnisaufstand führe, zumal ohnehin nur sehr wenige JVA-Bedienstete anwesend gewesen seien und die Stimmung nach der Tat sehr aufgeheizt gewesen sei.
II.
Die rechtliche Würdigung des Landgerichts hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Angeklagte hat sich, anknüpfend an die Erfüllung des Grundtatbestands der vorsätzlichen Körperverletzung zu Beginn der Auseinandersetzung, nicht der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) schuldig gemacht, weil das Grunddelikt gerechtfertigt war und die Todesfolge – jedenfalls nicht ausschließbar – bereits zu diesem Zeitpunkt verursacht worden ist.
1. Die Kontrahenten hatten konkludent vereinbart, sich bei ihrem nächsten Aufeinandertreffen zu schlagen. Diese Abrede spiegelte sich auch im tatsächlichen Verlauf wider. So wartete der Geschädigte auf den Angeklagten, um sich mit diesem zu schlagen. Der Angeklagte wiederum lief genau zu diesem Zweck auf den Geschädigten zu. Der Vereinbarung von Zeit und Ort bedurfte es nicht und wäre auch auf Grund ihrer Unterbringung in verschiedenen Häusern nicht sinnvoll gewesen.
2. Die durch den Angeklagten in der ersten Phase des Geschehens durch seinen wuchtigen und seinen Gegner niederstreckenden Faustschlag begangene Körperverletzung war nicht rechtswidrig. Die Kontrahenten waren stillschweigend davon ausgegangen, dass es bei ihrer Auseinandersetzung zu gegenseitigen Schlägen, insbesondere auch Faustschlägen in das Gesicht, gegen den Kopf und den Körper mit entsprechenden Verletzungen kommen würde. Der Geschädigte hatte stillschweigend und wirksam in solche Körperverletzungshandlungen eingewilligt. Jeder Rechtsgutträger – seine Einwilligungsfähigkeit vorausgesetzt – kann in diesem Umfang über das Rechtsgut seiner körperlichen Unversehrtheit disponieren (vgl. bereits BGH, Urteil vom 12. Mai 2020 – 1 StR 368/19 Rn. 41 ff. zu 14- bzw. 15-jährigen Kontrahenten). Dies gilt auch für in einer Justizvollzugsanstalt einsitzende Strafgefangene. Das beabsichtigte Geschehen war daher einer rechtswirksamen Einwilligung zugänglich (§ 228 StGB).
a) Die Tat in Gestalt des ersten wuchtigen Faustschlags des Angeklagten gegen den Kopf seines Kontrahenten zu Beginn der Auseinandersetzung verstieß nicht gegen die guten Sitten (zum Bezugspunkt der Prüfung der Sittenwidrigkeit vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2020 – 1 StR 368/19 Rn. 42 mwN). Die Unvereinbarkeit einer Körperverletzung mit den „guten Sitten“ im Sinne von § 228 StGB trotz der Einwilligung des betroffenen Rechtsgutsinhabers hängt von der ex-ante zu bestimmenden Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des eingetretenen Körperverletzungserfolgs sowie des damit einhergehenden Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers ab (BGH, Urteil vom 12. Mai 2020 – 1 StR 368/19 Rn. 42 mwN).
b) Nach diesem Maßstab ist die Körperverletzung jedenfalls dann als sittenwidrig zu bewerten, wenn bei objektiver Betrachtung unter Einbeziehung aller maßgeblichen Umstände die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird (BGH, Urteil vom 12. Mai 2020 – 1 StR 368/19 Rn. 43 mwN). Findet die Tat unter Bedingungen statt, die den Grad der aus ihr hervorgehenden Gefährlichkeit für die körperliche Unversehrtheit oder das Leben des Verletzten begrenzen, ist die Körperverletzung durch die erklärte Einwilligung gerechtfertigt, wenn das Vereinbarte in ausreichend sicherer Weise für die Verhütung gravierender, sogar mit der Gefahr des Todes einhergehender Körperverletzungen Sorge tragen kann; insoweit ist auch die Eskalationsgefahr zu berücksichtigen, die sich aus der Unkontrollierbarkeit gruppendynamischer Prozesse ergibt (vgl. zum Ganzen, BGH, Beschluss vom 20. Februar 2013 – 1 StR 585/12, BGHSt 58, 140 Rn. 13, 15, 16).
c) Hieran gemessen war die Tat nicht sittenwidrig. Bei der rechtlich gebotenen Betrachtung zu Beginn der wechselseitigen Körperverletzungshandlungen, die auf diese Weise zwischen abwehrfähigen und abwehrbereiten, unbewaffneten erwachsenen Strafgefangenen stattfinden sollten, standen keine schweren Gesundheitsschäden im Raum und war keine konkrete Todesgefahr zu erwarten. Insoweit ist der Sachverhalt mit anderen Fällen aus der Rechtsprechung nicht vergleichbar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20.Juli 2010– 5 StR 255/10; vom 16. Januar 2013 – 2 StR 520/12 [zu § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB] und vom 20. Februar 2013 – 1 StR 585/12, BGHSt 58, 140 Rn. 18).
Die Anwesenheit von weiteren Strafgefangenen der Häuser, in denen die Kontrahenten jeweils untergebracht waren, führt nicht zu einem anderen Ergebnis; denn deren Eingreifen war nicht verabredet. Ein solches wäre zwar bei einem Kampf innerhalb einer Justizvollzugsanstalt ein naheliegendes Verhalten (Eskalationsgefahr). Dieser Aspekt darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden; denn die Anwesenheit zahlreicher weiterer Personen innerhalb des geschützten und durch Wachpersonal kontrollierten Bereichs einer Haftanstalt birgt auch die Möglichkeit eines deeskalierenden Eingreifens und ist daher doppelrelevant (vgl. hierzu bereits BGH, Urteil vom 12. Mai 2020 – 1 StR 368/19 Rn. 45 mwN). Zudem ist eine sofortige Hilfe durch Ersthelfer und eine schnelle Verständigung des Rettungsdienstes gewährleistet. Dass eine körperliche Auseinandersetzung in einer Justizvollzugsanstalt unerwünscht ist und disziplinarisch geahndet wird, ist lediglich eine Folge des Kampfes und macht die Tat als solche nicht sittenwidrig. Dieses ordnungsrechtliche Verbot berührt nämlich allein den äußeren Rahmen der einverständlichen Körperverletzungshandlungen; es genügt für sich genommen nicht, dass die wechselseitigen Einwilligungen hierdurch sittenwidrig werden.
3. Der Sturz des Kontrahenten auf den Boden, jedenfalls aber der Übergang zu dem Stampftritt stellte eine Zäsur im Handlungsgeschehen dar, so dass weitere körperliche Attacken gegen den am Boden liegenden und bereits besiegten Gegner nicht von der Einwilligung gedeckt sind. Abgesehen davon, dass sich darauf die nur stillschweigend erteilte Einwilligung nicht beziehen kann, wäre das (hier im Übrigen massive) Einwirken auf den am Boden liegenden Gegner jedenfalls sittenwidrig.
III.
Die Entscheidung der Strafkammer, von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abzusehen, hält rechtlicher Nachprüfung stand, weil die Strafkammer das Vorliegen eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen Hang und Tat frei von Rechtsfehlern
verneint hat. Ein symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang und Tat liegt vor, wenn der Hang allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Juli 2020 – 1 StR 196/20 Rn. 9; vom 18. Dezember 2019 ‒ 2 StR 331/19 Rn. 8; vom 6. November 2013 ‒ 5 StR 432/13 Rn. 4 und vom 25. November 2015 ‒ 1 StR 379/15 Rn. 8). Die Symptomtat muss allerdings positiv feststehen und darf nicht nach dem Zweifelssatz angenommen werden, da die Unterbringung nach § 64 StGB eine den Angeklagten beschwerende Maßregel darstellt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Juli 2020 – 4 StR 89/20 Rn. 8 und vom 12. März 2014 ‒ 4 StR 572/13 Rn. 4 mwN).
Die Ursache der Streitigkeiten zwischen dem Angeklagten und dem Verstorbenen konnte nicht geklärt werden. Anhaltspunkte dafür, dass die Tat auf die Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten oder sein Suchtverhalten zurückging, bestehen nicht. Es handelte sich – wie die Strafkammer zutreffend ausgeführt hat – um eine Konflikttat im „Haftmilieu“, wobei die Kontrahenten aufgrund des Umfeldes und des eigenen Geltungsbedürfnisses nicht fähig waren, von dem sich erkennbar auf eine körperliche Auseinandersetzung zuspitzenden Geschehen Abstand zu nehmen. Auch wenn ein Betäubungsmittelgeschäft den Hintergrund für die Schlägerei gebildet hätte, wäre die Rechtslage nicht anders zu beurteilen. Denn auch ein solches Geschehen hat seine Ursache dann nicht in einem suchtbedingten Zusammenhang, sondern erschöpft sich in einem eher unspezifischen Aggressionsgeschehen. Bei Konflikttaten oder Taten, denen eine Provokation des Täters durch das Opfer vorausgegangen ist, liegt jedoch die Annahme eines Zusammenhangs mit einem Hang zum Missbrauch berauschender Mittel nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls wenig nahe (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 20. September 2011 – 1 StR 120/11 Rn. 26).
IV.
Einer Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, weil diese von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Der neue Tatrichter kann ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen. Zum genauen Todeszeitpunkt wird er – zur Abgrenzung der versuchten von der vollendeten Körperverletzung – präzisere Feststellungen zu treffen haben.
Der Senat verweist die Sache entsprechend § 354 Abs. 3 StPO an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, da eine Zuständigkeit des Schwurgerichts nicht mehr besteht.