StGB § 230: Haftbefehl bei Ausbleiben des Angeklagten - Sitzungshaftbefehl - Entschuldigungsgründe

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  • Lassen Sie sich unbedingt anwaltlich beraten, bevor Sie einen Fehler machen und das Gericht einen Haftbefehl anordnet.

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1. Anwesenheitspflicht des Angeklagten in der Hauptverhandlung 
2. Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten
3. Unentschuldigtes Nichterscheinen zur Hauptverhandlung - Haftbefehl ?

1. Anwesenheitspflicht des Angeklagten in der Hauptverhandlung 

Gemäß § 230 Abs. 1 StPO, § 231 Abs. 1 StPO findet grundsätzlich eine Hauptverhandlung gegen den ausbleibenden bzw. ohne den Angeklagten nicht statt. Der Angeklagten muss demgemäß während der gesamten Hauptverhandlung anwesend sein, soweit nicht die Ausnahmeregeln der §§ 231ff StPO greifen.

Der Vorsitzende des Gerichtes kann gemäß § 231 Abs. Satz 2 StPO die geeigneten Maßregeln treffen, um die Entfernung zu verhindern; auch kann er den Angeklagten während einer Unterbrechung der Verhandlung in Gewahrsam halten lassen.

2. Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten

Das Gericht kann jedoch, wenn sich der Angeklagte dennoch entfernt oder bei der Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung, d.h. zum folgenden Termin ausbleibt bzw. nicht erscheint, die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten unter bestimmten Voraussetzungen verhandeln oder etwa bei Fehlen der Voraussetzungen den Termin aufheben bzw. bei unentschuldigten Ausbleiben des Angeklagten; andernfalls wird die (polizeiliche) Vorführung angeordnet oder es ergeht ein Haftbefehl (siehe auch allgemein zum Haftbefehl).

Die Hauptverhandlung kann, wenn das Gericht nicht von Gesetzes wegen grundsätzlich auf die Anwesenheit des Angeklagten besteht, in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, wenn

  • das Gericht die Anwesenheit des Angeklagten nicht für erforderlich erachtet und er in der Ladung zur Hauptverhandlung darauf hingewiesen worden ist, dass die Verhandlung in diesen Fällen in seiner Abwesenheit durchgeführt werden kann.
  • der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft einen die Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand herbeiführt bzw. verursacht und dadurch wissentlich die ordnungsmäßige Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung in seiner Gegenwart verhindert, soweit 
    1. das Gericht seine Anwesenheit nicht für unerlässlich hält,
    2. der Angeklagte vor Gericht oder dem beauftragten Richter Gelegenheit hatte sich zur Anklage zu äußern (§ 231 Abs. 1 Satz 1, 2 StPO) und
    3. eine amtsärztliche Untersuchung die Verhandlungsunfähigkeit bestätigt (§ 231 Abs. 3 Satz 1 StPO).
  • die Entfernung wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungssaal oder Abführung in die Haft abgeführt (§ 177 GVG), wenn 
    1. das Gericht seine fernere Anwesenheit nicht für unerlässlich hält,
    2. solange zu befürchten ist, dass die Anwesenheit des Angeklagten den Ablauf der Hauptverhandlung in schwerwiegender Weise beeinträchtigen würde und
    3. der Angeklagten Gelegenheit hatte, sich zur Anklage zu äußern.
  • die Beurlaubung des einzelnen Angeklagten von der Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte durch Gerichtsbeschluss
    1. im Falle der notwendigen Verteidigung oder Wahlverteidigung auf Antrag und 
    2. soweit der Angeklagte von diesen Verhandlungsteilen der Hauptverhandlung nicht betroffen ist.
  • 1. der Angeklagte ordnungsgemäß geladen und
    2. in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann, und
    3. eine Geldstrafe von bis zu einhundertachtzig Tagessätzen, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung, allein oder nebeneinander, zu erwarten ist,
    4. keine höhere Strafe oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu verhängen ist,
    5. in der Ladung auf die Möglichkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis hingewiesen worden ist.
  • der Angeklagte auf seinen Antrag hin von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden wurde, wenn
    1. nur Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten, Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung, allein oder nebeneinander, zu erwarten ist,
    2. keine höhere Strafe oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu verhängen ist; die Entziehung der Fahrerlaubnis ist zulässig.
    3. der Angeklagte durch einen beauftragten oder ersuchten Richter über die Anklage vernommen worden ist und
    4. über die bei Verhandlung in seiner Abwesenheit zulässigen Rechtsfolgen belehrt,
    5. sowie befragt wurde, ob er seinen Antrag auf Befreiung vom Erscheinen in der Hauptverhandlung aufrechterhalte.
  • der Angeklagte sich gemäß § 411 Abs. 2 StPO im Strafbefehlsverfahren oder gemäß § 329 Abs. 2 StPO im Berufungsverfahren durch einem mit schriftlicher Vollmacht über die Vertretung in Abwesenheit versehenen Verteidiger, der in der Hauptverhandlung anwesend und verteidigungsbereit ist, vertreten lässt, wenn das Gericht nicht das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet hat oder die obigen Gründe für ein Nichterscheinen in der Hauptverhandlung nachgewiesen wurden,
  • der Betroffene im Bußgeld- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß § 73 Abs. 2 OWiG auf seinen Antrag hin von der Verpflichtung, zur Hauptverhandlung er erscheinen, entbunden wurde, wenn
    1. er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und
    2. seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist.

In den Fällen des Fernbleibens in der Hauptverhandlung muss oder kann sich der Angeklagte unter den oben genannten Voraussetzungen jeweils nach der anzuwendenden Vorschrift durch einen Pflichtverteidiger*in oder Wahlverteidiger*in der Hauptverhandlung mit Wirkung für ihn und gegen ihn vertreten lassen. 

Das Gericht kann jederzeit das persönliche Erscheinen des Angeklagten anordnen (§ 236 StPO)

3. Unentschuldigtes Nichterscheinen zur Hauptverhandlung - Haftbefehl ?

Besteht das Gericht von Gesetzes wegen auf der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung und erscheint der Angeklagte „unentschuldigt“ nicht, kann das Gericht die polizeiliche Vorführung zwischen 06:00 und 21:00 Uhr innerhalb von 24 Stunden vor dem Termin oder durch Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO auch Tage und Wochen vor der Hauptverhandlung veranlassen. Dies bedeutet, dass der Angeklagte meist ein bis zwei Wochen Untersuchungshaft erleiden muss. In der Regel wird durch das Gericht ohne Strafverteidiger seht leichtfertig auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Haftbefehl erlassen.

Entschuldigt ist der Angeklagte nur bei einer 

  • bettlägerigen,
  • fiebrigen oder
  • anderen Erkrankung z.B. Gastroenteritis (Durchfallerkrankung), welche das Verlassen der Wohnung unmöglich macht, wenn
  • die Erkrankung einschließlich der ärztlichen Anordnung in einem ärztlichen Attest, nicht Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, dokumentiert ist und
  • ggbfs. die Verhandlungsunfähigkeit verursachende Erkrankung amtsärztlich bestätigt respektive der anordnende Arzt/Ärztin vorsorglich von der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht entbunden wurde.

Zur Gewährleistung der Durchführung der Hauptverhandlung nach unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten kann das Gericht als milderes Mittel zunächst einen Vorführungsbefehl erlassen, § 230 Abs. 2 Alt. 1 StPO. Zu diesem Zwecke wird das Gericht einen neuen Hauptverhandlungstermin ansetzen und anordnen, dass der Angeklagte zu diesem Termin von zu Hause ab 6:00 Uhr morgens abzuholen und zu Gericht zu bringen ist.

Wurde ein Vorführungsbefehl bereits erfolglos angeordnet oder erscheint dieser Befehl von vorneherein als aussichtslos, kann das Gericht einen Haftbefehl (Sitzungshaftbefehl) gemäß § 230 Abs. 1 Alt. 2 StPO erlassen. Der Haftbefehl dient der Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung und wird von der Polizei vollstreckt. Die Voraussetzungen der §§ 112 ff StPO müssen nicht vorliegen. Es bedarf daher keines dringenden Tatverdachts und keiner Haftgründe. Der Angeklagte wird in eine Untersuchungshaftanstalt oder JVA verbracht und bleibt dort bis zum nächsten Verhandlungstermin in Haft, wenn keine Verschonung von der Vollziehung des Haftbefahl ggfs. unter geeigneten Auflagen erreicht werden kann. Da es sich hierbei um einen schweren Grundrechtseingriff handelt, ist der Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 Alt 2 StPO das letzte geeignete Mittel zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung.

Der sogenannte Sitzungshaftbefehl wird gemäß § 126 Abs. 2 StPO durch das mit der Hauptsache befasste Gericht angeordnet. Streitig ist, ob die Schöffen an der Entscheidung mitwirken müssen. Aus § 30 GVG ergibt sich, dass Schöffen „auch an den im Laufe einer Hauptverhandlung zu erlassenden Entscheidungen teil (nehmen), die in keiner Beziehung zu der Urteilsfällung stehen und die auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden können.“

Es wird daher teilweise vertreten, dass die Schöffen beim Erlass eines Sitzungshaftbefehls mitwirken müssen (so z.B. OLG Brandenburg FD-StrafR 2019, 415711). Im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot wird vertreten, dass bei Haftsachen z.B. Anordnung von Untersuchungshaft bzw. deren Aufrechterhaltung ein Haftbefehl durch den / die Berufsrichter*in außerhalb der Hauptverhandlung und damit ohne Mitwirkung der Schöffen entschieden werden kann (BGH NStZ 2011, 356). Wird die Sitzungshaft in der Hauptverhandlung angeordnet, müssen die Schöffen mitwirken.

Gegen die Anordnung der Sitzungshaft und des Vorführungsbefehl ist die Beschwerde als Rechtsmittel möglich, §§ 304 ff StPO. Die Sitzungshaft kann zudem mit der Haftprüfung gemäß § 117 StPO angefochten werden. Natürlich kann die Verteidigung auch außerhalb dieser Rechtsbehelfe, wenn möglich eine Aufhebung oder eine Verschonung von der Vollziehung des Sitzungshaftbefehls erwirken.

Auf Antrag der Verteidigung oder der Staatsanwaltschaft kann ein Sitzungshaftbefehl gemäß §§ 407ff. 408a StPO durch Erlass eines Strafbefehls abgewendet werden. Dies kommt nur im Rahmen der möglichen Rechtsfolgen eines Strafbefehls in Betracht. Droht eine höhere Strafe ist eine Erledigung im Strafbefehlswege nicht möglich.

Durch Strafbefehl dürfen gemäß § 407 Abs. 2 StPO nur die folgenden Rechtsfolgen der Tat, allein oder nebeneinander, festgesetzt werden:

  1.  Geldstrafe, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung, Unbrauchbarmachung, Bekanntgabe der Verurteilung und Geldbuße gegen eine juristische Person oder Personenvereinigung,
  2. Entziehung der Fahrerlaubnis, bei der die Sperre nicht mehr als zwei Jahre beträgt,
  3. Verbot des Haltens oder Betreuens von sowie des Handels oder des sonstigen berufsmäßigen Umgangs mit Tieren jeder oder einer bestimmten Art für die Dauer von einem Jahr bis zu drei Jahren sowie
  4. Absehen von Strafe.
  5. Hat der Angeschuldigte einen Verteidiger, so kann auch Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr festgesetzt werden, wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Der vorherigen Anhörung des Angeschuldigten durch das Gericht (§ 33 Abs. 3 StPO) bedarf es nicht.

Mit dem Strafbefehl kann folglich eine Geldstrafe oder, soweit der Angeklagte einen Verteidiger hat, eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr auf Bewährung verhängt werden. Gegen diesen Strafbefehl kann der Angeklagte Einspruch gem. § 410 StPO einlegen.