StGB § 242 Gewahrsamsbruch beim Diebstahl
BGH, Urt. v. 03.03.2021 – 4 StR 338/20
Zur Annahme einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung iSd § 338 Nr. 8 StPO muss dargelegt werden, dass tatsächlich bestimmte und möglicherweise entscheidungserhebliche Umstände infolge der vom Gericht bestimmten Sitzordnung nicht zur Sprache gekommen sind.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 3. März 2021 gemäß § 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 31. März 2020 werden als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagten L. und B. R. wegen „Diebstahls in einem besonders schweren Fall in fünf Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Nötigung“, den Angeklagten T. wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls sowie „Diebstahls in einem besonders schweren Fall“ und den Angeklagten D. R. wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu Gesamtfreiheitsstrafen zwischen zwei Jahren und zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Der Erörterung bedarf nur die Verurteilung der Angeklagten wegen der Diebstahlstaten.
1. Nach den hierzu rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen stellten sich die Angeklagten L. und B. R. jeweils neben die Geschädigten, nachdem diese in der Absicht, Bargeld abzuheben, ihre „EC-Karte“ in einen Geldautomaten eingeführt und ihre PIN-Nummer eingegeben hatten.
Sodann verdeckten sie das Bedienfeld mit Zeitungen und gaben als auszuzahlende Geldsumme jeweils Beträge von 500,00 bzw. 800,00 € ein. Das anforderungsgemäß ausgegebene Bargeld entnahmen sie dem Automaten und entfernten sich. In einem Fall bedrängten sie hierbei die Geschädigte, nachdem diese ihre PIN-Nummer eingegeben hatte, indem sie sie schubsten, woraufhin die Geschädigte erfolglos versuchte, den Vorgang abzubrechen. Die Angeklagten T. und D. R. wirkten bei einigen Fällen mit, indem sie absprachegemäß die Flucht der beiden anderen Angeklagten unterstützten, wobei der Angeklagte T. in einem Fall Verfolger mit einem Radschlüssel bedrohte.
2. Das Landgericht hat das Ansichnehmen des von den Geldautomaten ausgegebenen Bargelds zutreffend als Diebstahl gewertet. Es hat insbesondere zu Recht angenommen, dass die Angeklagten die Geldscheine, bei denen es sich um für sie fremde Sachen handelte (BGH, Beschlüsse vom 21. März 2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726, 727; vom 16. November 2017 – 2 StR 154/17, NStZ 2018, 604, 605 mwN), wegnahmen.
a) Wegnahme im Sinne des § 242 StGB ist der Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams. Ein Bruch fremden Gewahrsams liegt vor, wenn der Gewahrsam gegen oder ohne den Willen des Inhabers aufgehoben wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. März 2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726, 727; vom 16. November 2017 – 2 StR 154/17, NStZ 2018, 604, 605; vom 16. Dezember 1987 – 3 StR 209/87, BGHSt 35, 152, 158). Dies hat das Landgericht hier im Ergebnis zu Recht angenommen.
aa) Allerdings ist die Frage, ob die Herausnahme von Bargeld, das ein Geldautomat nach äußerlich ordnungsgemäßer Bedienung ausgibt, den Bruch des (gelockert fortbestehenden) Gewahrsams des den Automaten betreibenden Geldinstituts bzw. der für dieses handelnden natürlichen Personen (vgl. Vogel in LK-StGB, 12. Aufl., § 242 Rn. 57 mwN) darstellt oder ob die Freigabe des Geldes als willentliche Aufgabe des Gewahrsams zu werten ist, umstritten. Die Frage ist auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht einheitlich beantwortet worden. Der 2. Strafsenat hat in einem Fall, in dem ein Geldautomat durch Eingabe einer Bankkarte nebst zugehöriger PIN-Nummer äußerlich ordnungsgemäß bedient worden ist, angenommen, dass der Gewahrsam an dem Bargeld mit der Ausgabe durch das Geldinstitut preisgegeben wird und daher dessen Gewahrsam nicht mehr gebrochen werden kann (BGH, Beschluss vom 16. November 2017 – 2 StR 154/17, NStZ 2018, 604, 605; krit. dazu El-Ghazi, jurisPRStrafR 6/2018 Anm. 1; zust. hingegen Brand, ZWH 2020, 125, 129). Demgegenüber hat der 3. Strafsenat in einem Anfrageverfahren nach § 132 GVG die Auffassung vertreten, dass in einer solchen Fallkonstellation der Gewahrsam des Geldinstituts gebrochen werde, weil dieser noch fortbestand, als die Geldscheine im Ausgabefach bereitlagen und nach dem maßgeblichen Willen des Instituts der Gewahrsam nur an denjenigen übertragen werden sollte, der den Geldautomaten durch Eingabe der Bankkarte und der PIN-Nummer ordnungsgemäß bedient hatte, nicht aber an einen erst später in den Vorgang eingreifenden Täter (BGH, Beschluss vom 21. März 2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726, 727).
bb) Der Senat braucht diese Rechtsfrage nicht zu entscheiden, denn vorliegend war in sämtlichen Fällen im Zeitpunkt der Entnahme des Geldes durch die Angeklagten bereits ein (Mit-)Gewahrsam der Geschädigten, also des jeweiligen Nutzers der Bankkarte, an dem Geld begründet worden. Die Angeklagten verwirklichten das Tatbestandsmerkmal der Wegnahme jedenfalls dadurch, dass sie diesen Gewahrsam brachen.
(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Gewahrsam die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Diese liegt vor, wenn jemand auf eine Sache unter normalen Umständen einwirken kann und seiner Herrschaft keine Hindernisse entgegenstehen. Wer die tatsächliche Sachherrschaft innehat, bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens (zum Ganzen: BGH, Urteile vom 9. Dezember 1993 – 4 StR 416/93, BGHSt 40, 8, 23; vom 17. Dezember 1986 – 2 StR 537/86, BGHR StGB § 242 Abs. 1 Wegnahme 2; vom 21. April 1970 – 1 StR 45/70, BGHSt 23, 254, 255; vom 12. Juni 1968 – 2 StR 106/68, BGHSt 22, 180, 182 f.; vom 28. Oktober 1955 – 2 StR 171/55, BGHSt 8, 273, 274 f.; Beschlüsse vom 28. Juli 2020 – 2 StR 229/20, NStZ 2021, 42; vom 14. April 2020 – 5 StR 10/20, NStZ 2020, 483; vom 21. März 2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726, 727; vom 9. Januar 2019 – 2 StR 288/18, juris Rn. 5; vom 6. Oktober 1961 – 2 StR 289/61, BGHSt 16, 271, 273 f.). Hiernach kommt es für die Sachherrschaft zwar nicht auf eine Berechtigung an der Sache an, denn sonst könnte ein deliktischer Gewahrsam niemals erlangt werden (vgl. Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 242 Rn. 25); vielmehr ist der Gewahrsam ein faktisches Herrschaftsverhältnis über eine Sache. Dessen Bestehen oder Nichtbestehen beurteilt sich auch danach, ob Regeln der sozialen Anschauung bestehen, nach denen die Sache einer bestimmten, ihr nicht unbedingt körperlich am nächsten stehenden Person zugeordnet wird (vgl. Schmitz in MK-StGB, 3. Aufl., § 242 Rn. 70). Infolgedessen hat die Rechtsprechung etwa angenommen, dass ein Landwirt Gewahrsam an seinem auf dem Feld zurückgelassenen Pflug behält, mag dieser auch dem leichteren Zugriff einer anderen Person offenstehen (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1961 – 2 StR 289/61, BGHSt 16, 271, 273); ebenfalls mit den Anschauungen des täglichen Lebens ist es begründet worden, dass ein Ladeninhaber Gewahrsam an Waren hat, die mit seinem Einverständnis vor seiner noch verschlossenen Ladentür abgestellt worden sind (BGH, Urteil vom 1. Dezember 1967 – 4 StR 516/67, NJW 1968, 662). Der in subjektiver Hinsicht erforderliche Herrschaftswille wird ebenfalls durch die Verkehrsanschauung geprägt. Es genügt daher ein genereller, auf sämtliche in der eigenen Herrschaftssphäre befindlichen Sachen bezogener Wille ebenso wie der nur potentielle Beherrschungswille des schlafenden Gewahrsamsinhabers und ein antizipierter Erlangungswille in Bezug auf Sachen, die erst noch in den eigenen Herrschaftsbereich gelangen werden (vgl. zum Ganzen: Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 242 Rn. 29 mwN).
(2) Nach diesem Maßstab steht Bargeld, das ein Geldautomat am Ende eines ordnungsgemäßen Abhebevorgangs ausgibt, mit der Bereitstellung im Ausgabefach und der hierdurch eröffneten Zugriffsmöglichkeit regelmäßig (auch) im Gewahrsam desjenigen, der diesen Vorgang durch Eingabe der Bankkarte und der PIN-Nummer in Gang gesetzt hat (aA ohne Begründung KG, Beschluss vom 16. Januar 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), wie hier LG Duisburg, Urteil vom 31. Januar 2018 – 33 KLs – 722 Js 115/17 – 24/17, juris Rn. 153). Der Verkehr ordnet das Geld ab diesem Zeitpunkt jedenfalls auch dieser Person als das „ihre“ zu, wie sich auch daran zeigt, dass es sozial üblich ist und teils auch durch entsprechende Hinweise oder Vorrichtungen der Banken eingefordert wird, dass Dritte während des Abhebevorgangs Abstand zu dem Automaten und dem an ihm tätigen Kunden halten. Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn der Karteninhaber vor der Bereitstellung des Geldes im Ausgabefach durch Gewalt oder Androhung von Gewalt von der Ausübung seines Gewahrsams ausgeschlossen wird (vgl. zu einer solchen Fallkonstellation BGH, Beschluss vom 16. November 2017 – 2 StR 154/17, NStZ 2018, 604), braucht der Senat nicht zu entscheiden, denn derartiges hat das Landgericht in keinem Fall festgestellt. In subjektiver Hinsicht wird der Gewahrsam des Karteninhabers auch von dem erforderlichen Herrschaftswillen getragen (vgl. hierzu Schmitz in MK-StGB, aaO, Rn. 54 mwN). Dieser besteht jedenfalls in Gestalt eines antizipierten Beherrschungswillens. Der Abhebevorgang wird gerade zu dem Zweck und mit dem Willen zur Sachherrschaft über das ausgegebene Bargeld in Gang gesetzt. Dabei bezieht sich der antizipierte Herrschaftswille jedenfalls dann, wenn es sich – wie hier – bei dem Kartennutzer um den Kontoinhaber handelt, auf sämtliches Bargeld, das infolge des von ihm ausgelösten Vorgangs durch den Automaten ausgegeben wird. Denn das Bargeld wird – wie ihm bewusst ist – gerade unter entsprechender Belastung seines Bankkontos freigegeben. Für die Frage des Herrschaftswillens ist es deshalb unerheblich, dass im vorliegenden Fall jeweils nicht die Geschädigten, sondern die Angeklagten den Auszahlungsbetrag eingaben. Auch kommt es nicht darauf an, ob das Ansichnehmen des im Ausgabefach liegenden Geldes durch die Angeklagten von den Geschädigten wahrgenommen wurde oder ob dies heimlich geschah. Denn auch ein vom Bankkunden unbemerktes Ansichnehmen des Geldes änderte nichts an dessen Willen, an dem infolge seiner Eingabe bereitgestellten Geld die Sachherrschaft auszuüben.
b) Den somit begründeten Gewahrsam der jeweils geschädigten Karteninhaber an dem Geld brachen die Angeklagten, indem sie dieses dem Geldautomaten entnahmen.
3. Eines Anfrage- und Vorlageverfahrens gemäß § 132 GVG bedurfte es nicht. Dem Beschluss des
2. Strafsenats vom 16. November 2017, in dem eine Wegnahme verneint wurde, liegt eine andere Sachverhaltskonstellation zugrunde.