StGB § 266 Vermögensbetreuungspflicht des Kassenarztes

BGH, Urt. v. 11.05.2021 – 4 StR 350/20

Bei der Verordnung von häuslicher Krankenpflege gem.. § 37 Abs. 2 SGB V obliegt dem verordnenden Kassenarzt keine Betreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs.1 StGB hinsichtlich des Vermögens der gesetzlichen Krankenkassen.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 11. Mai 2021 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 354 Abs. 1 StPO beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 3. März 2020 wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es den Angeklagten betrifft,

a) im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte der Beihilfe zum Betrug in 16 Fällen schuldig ist,

b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Untreue in 16 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Nach den Feststellungen betrieb der Angeklagte, ein Facharzt für Allgemeinmedizin mit kassenärztlicher Zulassung, eine Praxis in Bochum. In unmittelbarer räumlicher Nähe befand sich der von seiner Ehefrau mitgegründete Pflegedienst „E. “. Die Ehefrau des Angeklagten, die bis zur Rückgabe ihrer kassenärztlichen Zulassung und dem Verlust ihrer Approbation zum 31. Mai 2014 als Ärztin zusammen mit ihrem Ehemann gearbeitet hatte, verfolgte die Absicht, für einige ihrer ehemaligen gesetzlich krankenversicherten Patienten auf der Grundlage entsprechender ärztlicher Verordnungen Anträge auf häusliche Krankenpflege zu stellen und dabei lediglich vorzuspiegeln, dass diese Patienten nicht in der Lage seien, bestimmte näher angeführte Behandlungsmaßnahmen selbst vorzunehmen und deshalb der häuslichen Krankenpflege bedürften. Dabei ging sie davon aus, dass die beantragten Pflegeleistungen verordnungsgemäß genehmigt werden würden. Zu diesem Zweck veranlasste sie die jeweiligen Patienten mit der „E. “ Behandlungsverträge abzuschließen, um die jeweiligen Leistungen sodann gegenüber den Krankenkassen abrechnen zu können.

In der Zeit vom 31. Oktober 2014 bis zum 15. Dezember 2015 erstellte der Angeklagte auf „Anforderung“ der „E. “ in 16 Fällen für fünf Patienten Verordnungen für häusliche Krankenpflege, wobei er unter anderem wahrheitswidrig vorgab, dass die verordneten Pflegemaßnahmen auch erforderlich waren. Dabei nahm er es im finanziellen Interesse seiner Ehefrau zumindest billigend in Kauf, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für eine häusliche Krankenpflege nicht vorlagen, weil die Patienten keiner externen Unterstützung bedurften. Auf der Grundlage der Verordnungen des Angeklagten wurden in der Folge entsprechende Anträge bei verschiedenen gesetzlichen Krankenversicherungen und Ersatzkassen gestellt. Nachdem die erforderlichen Genehmigungen antragsgemäß erteilt worden waren, stellte die „E.“ unter Einschaltung eines Abrechnungsdienstes den Krankenkassen Rechnungen über die verordneten Leistungen. Da diese Leistungen zudem nicht oder nur zu einem ganz geringen Teil erbracht wurden, waren den Rechnungen auch noch inhaltlich falsche Leistungsnachweise beigefügt. Spätestens ab Herbst 2015 war dem Angeklagten auch dies bekannt. Im Vertrauen auf die Richtigkeit der Abrechnungsunterlagen wurden Zahlungen in einer Gesamthöhe von 35.014,34 Euro geleistet.

II.

Die Revision des Angeklagten führt zu einer Änderung des Schuldspruchs und zur Aufhebung des Strafausspruchs.

1. Die Verurteilung wegen Untreue in 16 Fällen kann nicht bestehen bleiben, weil dem Angeklagten bei der Verordnung häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V – in Abgrenzung zu den Fällen der Verordnung von Heilmitteln und von ärztlichem Sprechstundenbedarf – gegenüber den geschädigten Krankenkassen keine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB oblag.

a) Nach § 266 Abs. 1 StGB macht sich in beiden Alternativen nur strafbar, wer gegen eine ihm obliegende Vermögensbetreuungspflicht verstößt und hierdurch dem Vermögen des Treugebers einen Nachteil zufügt. Als Grundlage für eine solche Verpflichtung kommen nur Rechtsbeziehungen vertraglicher oder gesetzlicher Art in Betracht, bei denen die Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen inhaltlich besonders herausgehoben ist und über die allgemeine Pflicht hinausgeht, auf die Vermögensinteressen von Vertragspartnern oder anderen Personen Rücksicht zu nehmen, auf deren materielle Güter eine tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit besteht (st. Rspr.; vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08, NJW 2010, 2309 Tz. 93 und 109; BGH, Urteil vom 24. November 2020 – 5 StR 553/19, NJW 2021, 1473 Rn. 21; Urteil vom 8. Mai 1951 – 1 StR 171/51, BGHSt 1, 186, 188; weitere Nachweise bei Saliger in: SSW-StGB, 5. Aufl., § 266 Rn. 10). Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung, bei der unter anderem in Betracht zu ziehen ist, ob es sich bei der in Rede stehenden Verpflichtung, auf fremde Vermögensinteressen Rücksicht zu nehmen, um eine Hauptpflicht handelt, inwieweit dem Täter die ihm übertragene Tätigkeit durch ins Einzelne gehende Weisungen vorgezeichnet ist und in welchem Umfang Raum für eigenverantwortliche Entscheidungen besteht. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, welche Kontrollmöglichkeiten dem Treugeber verbleiben, inwieweit den Entscheidungen des Täters eine bindende Wirkung zukommt und in welchem Ausmaß es ihm möglich ist, ohne eine gleichzeitige Steuerung und Überwachung durch den Treugeber auf dessen Vermögen zuzugreifen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 7. September 2017 – 2 StR 24/16, NJW 2018, 1330 Rn. 49; Beschluss vom 16. August 2016 – 4 StR 163/16, NJW 2016, 3253 Rn. 10; Beschluss vom 5. März 2013 – 3 StR 438/12, NJW 2013, 1615 Rn. 9; weitere Nachweise bei Saliger in: SSWStGB, 5. Aufl., § 266 Rn. 10).

b) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat in Anwendung dieser Grundsätze eine Betreuungspflicht von Vertragsärzten für das Vermögen der gesetzlichen Krankenkassen im Fall der Verordnung von Heilmitteln nach § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V (vgl. BGH, Beschluss vom 16. August 2016 – 4 StR 163/16, NJW 2016, 3253; Nachweise zum Streitstand in der Literatur bei Saliger in: SSWStGB, 5. Aufl., § 266 Rn. 16) bejaht. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Arzt mit der in eigener Verantwortung zu erstellenden Verordnung den gesetzlichen Leistungsanspruch des Versicherten aus § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB V auf Sachleistungen gegen die Krankenkasse konkretisiert, indem er verbindlich feststellt, dass die medizinischen Voraussetzungen für den Eintritt des Versicherungsfalles vorliegen und das verordnete Heilmittel sowohl notwendig, als auch wirtschaftlich ist. Die sich aus der Verbindlichkeit der Bereicherung ergebende Rechtsmacht verschafft ihm gegenüber der Krankenkasse eine Stellung, die mit Rücksicht auf das Wirtschaftlichkeitsgebot durch eine besondere Verantwortung für deren Vermögen gekennzeichnet ist. Gleiches hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch bei der Verordnung von Sprechstundenbedarf durch einen Vertragsarzt angenommen und dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass es der verordnende Arzt insoweit in der Hand hat, die gesetzlichen Krankenkassen zu entsprechenden Zahlungen zu verpflichten, ohne dass diesen eine hinreichende Kontrollmöglichkeit zur Verfügung steht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 5 StR 46/17, NStZ-RR 2017, 313, 314).

c) Eine derartige die Annahme einer Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB begründende Rechtsmacht kommt dem Vertragsarzt bei der Verordnung von häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 Abs. 2 SGB V (Behandlungssicherungspflege) nicht zu, weil die gesetzlichen Krankenkassen über weiter gehende verfahrensrechtliche Kontrollmöglichkeiten verfügen und es deshalb nicht allein in der Hand des verordnenden Arztes liegt, ob es zu einer Leistungserbringung auf Kosten der Kassen kommt. Denn anders als bei Heilmitteln und beim ärztlichen Sprechstundenbedarf für Versicherte, bei denen der ärztlichen Verordnung keine Genehmigungsentscheidung der Krankenkasse nachfolgt (vgl. BSG, Urteil vom 13. September 2011 – B 1 KR 23/10 R, NZS 2012, 296 Rn. 13; Urteil vom 25. August 2009 – B 3 KR 25/08 Rn. 16 [jeweils zu Heilmitteln] sowie beispielhaft § 1 Abs. 1 der Sprechstundenbedarfsvereinbarung zwischen der KV Hessen und der AOK Hessen u.a. vom 1. Januar 2014), tritt der Leistungsfall bei der häuslichen Krankenpflege in formaler Hinsicht erst ein, wenn – wie hier geschehen – vor Leistungsbeginn eine Bewilligungsentscheidung der zuständigen gesetzlichen Krankenkasse ergeht (vgl. § 6 Abs. 1 HKP-RL; BSG, Urteil vom 24. September 2002 ‒ B 3 KR 2/02 R; Urteil vom 30. März 2000 – B 3 KR 23/99 R, NJWE-FER 2000, 326, 327; Nolte in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 112. EL (September 2020), SGB V § 37 Rn. 5a; Wagner in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 110 EL (März 2021), SGB V § 37 Rn. 3; Knispel in BeckOK SozR, 60. Ed. (1. März 2021), SGB V § 37 Rn. 45 mwN; a.A. Richter/Bohlken, NZS 2000, 236). Zwar bedarf es neben einem Antrag des Versicherten auch hier einer entsprechenden kassenärztlichen Verordnung (vgl. § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 SGB V, § 27 BMV-Ä). An diese Verordnung ist die gesetzliche Krankenkasse aber nicht ohne weiteres gebunden. Hält sie einzelne verordnete Maßnahmen für nicht erforderlich, etwa weil sie deren Vornahme durch den Versicherten selbst für möglich und zumutbar hält, so hat sie hierüber gemäß § 275 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, § 6 Abs. 2 HKP-RL eine gutachterliche Stellungnahme des medizinischen Dienstes einzuholen (vgl. BSG, Urteil vom 30. März 2000 – B 3 KR 23/99 R, NJWE-FER 2000, 326, 327; Knispel in BeckOK SozR, 60. Ed. (1. März 2021), SGB V § 37 Rn. 45; Nolte in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 112. EL (September 2020), SGB V § 37 Rn. 5a; Brosius-Gersdorf in Berchtold/Huster/Rehborn, Gesundheitsrecht, 2. Aufl., SGB V § 37 Rn. 17; zur Abgrenzung zur genehmigungsfreien Heilmittelverordnung vgl. BSG, Urteil vom 24. September 2002 ‒ B 3 KR 2/02 R). Eine Verurteilung des Angeklagten wegen Untreue scheidet somit aus.

2. Der Angeklagte hat sich jedoch durch seine Verordnungen der Beihilfe zum Betrug in 16 Fällen gemäß § 263 Abs. 1, § 27 StGB schuldig gemacht. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend ab (§ 354 Abs. 1 StPO). Durch die Annahme von Beihilfe kann der Angeklagte nicht beschwert sein. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, zumal die zugelassene Anklage jeweils von mittäterschaftlich begangenem Betrug ausgegangen ist. Die Änderung des Schuldspruchs entzieht den Einzelstrafen und der Gesamtstrafe – trotz ihrer milden Bemessung – die Grundlage.