StGB § 274 – Urkundenunterdrückung – Vorsatz zur Nachteilszufügung

BGH, Urt. v. 25.11.2009 – 2 StR 430/09 = wistra 2010, 104

Zur Feststellung der Nachteilsabsicht des § 274 StGB ist nicht die Vorstellung des Täters, dass die Verwendung der Urkunde die unterdrückt wird, unmittelbar bevorstehe oder jedenfalls in absehbarer Zeit zu erwarten sei, erforderlich. Es genügt vielmehr, wenn er weiß, dass der Urkunde eine potentielle Beweisbedeutung innewohnt, die sich jederzeit realisieren kann, und es ihm auf die Beeinträchtigung eines sich darauf beziehenden Beweisführungsrechts ankommt oder er dies als notwendige Folge seines Handelns hinnimmt.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. November 2009 für Recht erkannt:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 10. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Urkundenunterdrückung freigesprochen. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.

I. Nach den Feststellungen war der Angeklagte im Tatzeitraum Amtsleiter des Straßenverkehrsamtes in K.. Dort waren im Jahr 2004 Planungsleistungen für die Erneuerung der Hafenbrücke zu vergeben, für die der Magistrat der Stadt K. 200.000 € zur Verfügung gestellt hatte. Zwei Ingenieurbüros wurden gebeten, Angebote abzugeben. Die E. GmbH aus L. übermittelte mit Schreiben vom 6. Dezember 2004 ein Angebot über 197.553,60 €, die W. und P. GmbH aus K. einen Tag später ein solches über 258.808,56 €. Der Angeklagte, der die in K. ansässige Firma W. und P. GmbH bevorzugte, besprach diese Angebote mit dem zuständigen Stadtbaurat, der sich mit der Beauftragung der K. er Firma einverstanden zeigte. Nach einem Gespräch des Angeklagten mit dem Geschäftsführer der W. und P. GmbH legte diese ein neues günstigeres Angebot über 194.465,53 € vor. Zwischenzeitlich hatte der Angeklagte das Schreiben mit dem ursprünglichen Angebot dem Vorgang entnommen und in seinen Dienstschrank gelegt. Der Angeklagte besprach sich erneut mit dem Stadtbaurat. Nach dessen Zustimmung beauftragte er einen Mitarbeiter des Straßenverkehrsamtes, den Zeugen S., mit der Fertigung einer Magistratsvorlage, die eine Vergabe an die Firma W. und P. GmbH vorsah. Auf dessen Nachfrage, ob mit der Firma E. GmbH nachverhandelt werden solle, ließ er wissen, dass der Oberbürgermeister die Vergabe so wünsche. Tatsächlich hatte dieser zu keinem Zeitpunkt einen entsprechenden Wunsch geäußert. Daraufhin fertigte der Zeuge S., der den bisherigen Ablauf des Verfahrens zuvor in einem Vermerk festgehalten hatte, die Magistratsvorlage nach Anweisung. Sie enthielt lediglich das Angebot, welchem der Zuschlag erteilt werden sollte, sowie eine schriftliche Ausfertigung des Beschlusses. Das ursprüngliche Angebot der Firma W. und P. GmbH wäre der Magistratsvorlage auch nicht beigefügt worden, wenn es dem Zeugen S. vorgelegen hätte. Das Revisionsamt, dem die Angelegenheit zur Prüfung vorgelegt worden war, beanstandete die vorgesehene Vergabe auf das günstigste Angebot nicht. Es äußerte allerdings - in Kenntnis des Umstandes, dass es ein erstes Angebot der Firma W. und P. GmbH gegeben hatte, das nachgebessert worden war - Bedenken, ob dies mit dem auch bei freiwilliger Vergabe zu berücksichtigenden Grundsatz des chancengleichen Wettbewerbs in Einklang stehe. Am 7. Februar 2005 kam es zur antragsgemäßen Vergabe der Planungsleistungen an die Firma W. und P. GmbH, noch bevor der dem Oberbürgermeister und dem Baustadtrat zugeleitete Vermerk des Revisionsamtes von diesen zur Kenntnis genommen worden war. Bei der Stadt K. gibt es keine Aktenordnung. Die Akten in den jeweiligen Vergabeverfahren werden - wie auch im Vergabeverfahren "Hafenstraße" - im Fachamt geführt. Dem Angeklagten war dies bewusst; ihm war auch klar, dass es sich bei dem ersten Angebot der Firma W. und P. GmbH um eine Urkunde handelte, die ihm nicht gehörte und die er durch das Ablegen in seinem Dienstschrank der Beweisführungsberechtigten entzogen hatte. Er rechnete allerdings weder mit einer Anforderung des Angebots durch Bedienstete der Stadt K. noch erwartete er, dass die nicht berücksichtigte Firma E. GmbH die Rechtmäßigkeit des Vergabeprozesses gerichtlich überprüfen lassen würde. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Urkundenunterdrückung freigesprochen. Es ist zwar davon ausgegangen, dass er eine ihm nicht gehörende Urkunde durch Ablegen in seinem Dienstschrank unterdrückt und damit der beweisführungsberechtigten Stadt K. entzogen habe (UA S. 9). Dies habe er getan, "um sicher zu stellen, dass die Vergabe auch an das Büro W. erfolge und auch später kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens aufkomme" (UA S. 10). Es fehle jedoch an der für den subjektiven Tatbestand erforderlichen Nachteilszufügungsabsicht. Nachteil im Sinne von § 274 StGB sei ein Nachteil in der Beweisführung. Ein solcher Nachteil liege vor, wenn durch das Fehlen der Urkunde das Beweisführungsrecht des Beweisführungsberechtigten in einer aktuellen Beweissituation vereitelt werde. Daran fehle es jedoch. Denn die möglichen Situationen, in denen die Urkunde als Beweismittel hätte eingesetzt werden können, seien nicht eingetreten (UA S. 11). Abstrakte, lediglich denkmögliche Beweissituationen - wie sie vorliegend gegeben seien - seien aber vom Begriff des Nachteils nicht umfasst (UA S. 13). Schließlich habe sich der Angeklagte auch keiner versuchten Urkundenunterdrückung schuldig gemacht. Er sei nicht vom Vorliegen einer aktuellen Beweissituation ausgegangen, denn er habe weder damit gerechnet, dass die Urkunde seitens eines Bediensteten im Zuge des Vergabeverfahrens der Stadt K. angefordert werden würde, noch habe er erwartet, dass die Firma E. GmbH das Vergabeverfahren in einem Zivilverfahren überprüfen lassen würde. Auch habe er sich keine sonstige Situation vorgestellt, in der die Urkunde von Bedeutung für die Beweisführung gewesen wäre.

II. Dies hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei oder sieht er von einer weiterreichenden Verurteilung ab, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Dieses hat insoweit nur zu beurteilen, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 238; 2005, 147).

2. Gemessen hieran erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts als rechtsfehlerhaft. Die Ausführungen der Kammer zum Nichtvorliegen der Nachteilsabsicht stellen sich als widersprüchlich dar. So stellt das Landgericht zum einen fest, dass der Angeklagte mit dem Ablegen des Angebots in seinem Dienstschrank eine Urkunde dem Beweisführungsberechtigten entzogen und dies auch gewollt habe (UA S. 7, 9). Dabei geht es von der Einlassung des Angeklagten aus, der eine Vergabe der Planungsarbeiten an die Firma W. und P. GmbH habe erreichen wollen. Um dies sicher zu stellen und das spätere Entstehen von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens auszuschließen, habe er verhindern müssen, dass die Urkunde zur Akte genommen und so aktenkundig werde, dass mit einem Bieter nachverhandelt worden sei (UA S. 10). Zum anderen verneint das Landgericht an anderer Stelle eine Strafbarkeit mit der Erwägung, der Angeklagte habe weder mit der Anforderung der Urkunde im Rahmen des laufenden Vergabeverfahrens bei der Stadt K. gerechnet noch erwartet, dass das Vergabeverfahren in einem Zivilprozess überprüft werden würde. Auch habe er sich keine sonstige Situation vorgestellt, in der die Urkunde von Bedeutung für die Beweisführung gewesen wäre (UA S. 14). Diese Feststellungen der Kammer zum Vorstellungsbild des Angeklagten sind miteinander nicht in Einklang zu bringen. Fehlte es dem Angeklagten an jeglicher Vorstellung einer Situation, in welcher die Urkunde von Bedeutung gewesen sein könnte, kann sein Handeln nicht zugleich von dem Bestreben geleitet gewesen sein, gerade durch Unterdrückung der Urkunde das spätere Entstehen von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens auszuschließen. Die Vorstellung, durch das Beiseiteschaffen der Urkunde möglicherweise aufkommenden Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Vergabe entgegenwirken zu können, setzt vielmehr gerade die - von der Kammer geteilte - Einschätzung voraus, dass die Urkunde Einfluss auf die Beurteilung des Vergabeverfahrens haben und damit für die Beweisführung von Bedeutung sein konnte (vgl. UA S. 12). Warum der Angeklagte schließlich verhindern "musste", es aktenkundig werden zu lassen, dass mit einem Bieter nachverhandelt worden war, erschließt sich nicht, wenn er zugleich davon ausgegangen sein soll, dass es zu einer späteren Überprüfung des Verfahrens vor den Zivilgerichten nicht kommen würde.

3. Darüber hinaus ist zu besorgen, dass die Strafkammer ihrer Entscheidung eine unzutreffende Auslegung des Begriffs der Nachteilsabsicht zugrunde gelegt hat. Ohne Rechtsfehler geht die Kammer zwar davon aus, dass ein Nachteil in jeder Beeinträchtigung des Beweisführungsrechts eines Dritten liegen kann (vgl. BGHSt 29, 192, 196) und darunter vor allem die Vereitelung der Nutzung des gedanklichen Inhalts einer Urkunde in einer aktuellen Beweissituation zu verstehen ist (vgl. BGHR StGB § 274 Nachteil 1). Nachvollziehbar geht sie auch davon aus, dass letztendlich kein (objektiver) Nachteil eingetreten ist, weil sich eine Situation, in der es zu einer Verletzung des Beweisführungsinteresses eines Berechtigten gekommen wäre, nicht eingestellt hat. Daraus aber den Schluss zu ziehen, die Nachteilsabsicht des § 274 StGB habe nicht vorgelegen, greift zu kurz. Bei der Prüfung, ob die für die Tatbestandsverwirklichung erforderliche, auf einen entsprechenden Nachteil bezogene Absicht gegeben ist, verkennt das Landgericht nämlich, dass es hierfür nicht darauf ankommt, ob der Nachteil - was es ausführlich erörtert (UA S. 11 - 13) - tatsächlich eingetreten ist; ausreichend ist es, dass es dem Täter auf die Verwirklichung des Nachteils ankommt oder ihm zumindest bewusst ist, dass seine Tat einen Nachteil zur Folge haben muss (vgl. BGH NJW 1953, 1924). Erforderlich ist dabei nicht die Vorstellung des Täters, dass die Verwendung der Urkunde, die unterdrückt wird, unmittelbar bevorstehe oder jedenfalls in absehbarer Zeit zu erwarten sei. Es genügt vielmehr, wenn er weiß, dass der Urkunde eine potentielle Beweisbedeutung innewohnt, die sich jederzeit realisieren kann, und es ihm auf die Beeinträchtigung eines sich darauf beziehenden Beweisführungsrechts ankommt oder er dies als notwendige Folge seines Handelns hinnimmt. Auf eine bestimmte konkret bevorstehende Situation, in der die unterdrückte Urkunde für die Beweisführung beachtlich werden könnte, braucht sich die Vorstellung des Täters nicht zu beziehen. Lässt sich der Täter ein, überhaupt nicht mit einer möglichen späteren Verwendung der Urkunde durch Dritte gerechnet zu haben, kann dies im Übrigen nur dann zum Fehlen der Nachteilsabsicht führen, wenn sich zugleich eine Erklärung dafür finden lässt, warum die Urkunde dennoch unterdrückt worden ist.

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