StGB § 32 Notwehrprovokation

BGH, Urt. v. 17.06.2020 – 2 StR 398/19
Eine schuldhafte Provokation kann zur Einschränkung des Notwehrrechts führen, wenn bei vernünftiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine
Notwehreinschränkung allerdings voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht. Erforderlich ist zudem ein motivationaler Zusammenhang, mithin Feststellungen dazu, ob und inwieweit die Pflichtverletzung des Angegriffenen zum Verhalten des Angreifers beigetragen hat. Fehlt ein solcher Zusammenhang, ist ein pflichtwidriges Vorverhalten des Angegriffenen für die Beurteilung der Notwehrlage ohne Bedeutung.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts – zu Ziff. 2 auf dessen Antrag – am 17. Juni 2020 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 10. Juli 2019, soweit es ihn betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) soweit der Angeklagte im Fall 2 der Urteilsgründe wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde;
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.


Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Der Angeklagte wendet sich gegen dieses Urteil mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne
von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
1. Der Angeklagte und die Mitangeklagten H. und B. fuhren am 26. Juni 2018 um die Mittagszeit zur Wohnung des Geschädigten D., um erneut die Rückzahlung von 800 Euro zu verlangen, die der Angeklagte dem Geschädigten geliehen hatte. Sie planten, die Forderung gewaltsam durchzusetzen. Tatplangemäß schlugen der Angeklagte und B. - in der Annahme, es handele sich um D. - auf die Person ein, die ihnen die Tür geöffnet hatte. Als sie erkannten, dass es sich tatsächlich um den Zeugen M. handelte, ließen sie von ihm ab. Die Angeklagten durchsuchten die Wohnung nach Bargeld oder sonstigen wertvollen Gegenständen.
M., der von B. mit einer Pfanne bedroht wurde, ließ die Durchsuchung unter dem Eindruck der Bedrohung geschehen. Die Angeklagten nahmen eine Spielkonsole des Geschädigten D. an sich und verließen die Wohnung. Sie beabsichtigten, die Spielkonsole später im Tausch gegen die Zahlung der ausstehenden Geldsumme an D. zurück zu geben (Fall 1).
2. M. unterrichtete D. von dem Vorfall. Gegen 22.30 Uhr am selben Tag kündigte D. den Angeklagten an, dass er den Geldbetrag gegen Rückgabe der Spielkonsole in seiner Wohnung zurückzahlen werde. Aus Furcht vor einer körperlichen Auseinandersetzung und ggf. zur gewaltsamen Durchsetzung der Forderung bewaffneten sich der Angeklagte und H. je mit einem Wurfmesser und B. mit einem Teleskopschlagstock. D., der ebenfalls mit einer körperlichen Auseinandersetzung rechnete, holte neben M. zwei weitere Beteiligte und den Nebenkläger zur Unterstützung zu sich. D. selbst ging unbewaffnet zusammen mit M., der mit einer Aluminiumstange ausgerüstet war, den Angeklagten am Hauseingang entgegen. Der Nebenkläger, der einen Golfschläger als Bewaffnung an sich nahm, und die beiden anderen Beteiligten sollten für die Angeklagten unerwartet über einen Nebeneingang von der Seite hinzutreten. Das Landgericht hat offengelassen, ob sie nur für den Fall einer körperlichen Auseinandersetzung eingreifen sollten. Es hat aber nicht auszuschließen vermocht, dass diese Gruppe in jedem Fall die Angeklagten angreifen sollte. Als D. vor der Haustür die Zahlung verweigerte, ergriff ihn der Angeklagte und drückte ihn gegen
die Briefkastenanlage. In diesem Moment stieß die Gruppe um den Nebenkläger dazu und es entwickelte sich eine körperliche Auseinandersetzung zwischen allen Beteiligten. Dabei wurden im Handgemenge zwischen dem Angeklagten und D. zunächst keine Gegenstände eingesetzt. Der Nebenkläger kam hinzu und schlug dem Angeklagten mit dem Golfschläger fest auf den rechten Beckenknochen und den linken Arm, um ihn davon abzuhalten, weiter auf D. einzuschlagen. Der Angeklagte zog sodann unvermittelt das mitgeführte Wurfmesser und stach mit Körperverletzungsvorsatz dem ihm bis dahin unbekannten Nebenkläger mindestens sechs Mal in den Bereich zwischen Hals und Unterleib, wodurch dieser lebensgefährliche Verletzungen erlitt (Fall 2).
II. 
1. Die Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs lässt im Fall 1 keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen (§ 349 Abs. 2 StPO). 
2. Dagegen kann die Verurteilung im Fall 2 nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr mit nicht tragfähiger Begründung abgelehnt hat. 
a) Das Landgericht hat - wohl zugunsten des Angeklagten - angenommen, dass sich der Angeklagte in einer Notwehrlage befand, als er dem Nebenkläger die Stichverletzungen zufügte. Jedoch habe der Angeklagte die Notwehrlage selbst in rechtswidriger Weise herbeigeführt, sodass sein Notwehrrecht eingeschränkt gewesen sei. Durch sein Verhalten in der Wohnung im Fall 1 und durch das Vorgehen gegenüber D. habe der Angeklagte den Angriff des Nebenklägers auf
sich leichtfertig provoziert. Daher hätte er, statt ein lebensgefährliches Mittel einzusetzen, dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen müssen, wobei ihm eine Flucht auch möglich gewesen wäre.
Das Landgericht ist im Ansatz zu Recht davon ausgegangen, dass eine schuldhafte Provokation zur Einschränkung des Notwehrrechts führen kann, wenn bei vernünftiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine Notwehreinschränkung allerdings voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 2. November
2005 - 2 StR 237/05, NStZ 2006, 332; Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 StR 208/18; Urteil vom 17. Januar 2019 − 4 StR 456/18, NStZ 2019, 263). Erforderlich ist zudem ein motivationaler Zusammenhang, mithin Feststellungen dazu, ob und inwieweit die Pflichtverletzung des Angegriffenen zum Verhalten des Angreifers beigetragen hat (vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12; Beschluss vom 25. Juni 2009 - 5 StR 141/09). Fehlt ein solcher Zusammenhang, ist ein pflichtwidriges Vorverhalten des Angegriffenen für die Beurteilung der Notwehrlage ohne Bedeutung.
Hiervon ausgehend gilt das Folgende:
Es kann dahinstehen, ob das Vorverhalten des Angeklagten in D. s Wohnung im Fall 1 angesichts des zeitlichen Ablaufs und der unterschiedlichen beteiligten Personen noch als eine das Notwehrrecht des Angeklagten einschränkende Provokation zu werten ist (vgl. zu den Anforderungen BGH, Urteil vom 12. Februar 2003 - 1 StR 403/02; Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 StR 208/18). Jedenfalls kann angesichts der vom Landgericht getroffenen Feststellungen nicht ausgeschlossen werden, dass weder die Mitnahme der Spielkonsole zur Mittagszeit noch das Vorgehen des Angeklagten gegen D. an der Haustür in einem motivationalen Zusammenhang mit dem Schlag des Nebenklägers auf den Angeklagten standen. Denn das Landgericht hat es jedenfalls auch für möglich gehalten, dass der Angeklagte bewusst in einen Hinterhalt gelockt werden sollte, um ihn in jedem Fall überraschend anzugreifen. Angesichts der Feststellungen des Landgerichts ist deshalb nicht auszuschließen, dass das Vorverhalten des Angeklagten am Mittag lediglich einen Vorwand dafür bildete, den Angeklagten
aus dem Hinterhalt anzugreifen. Unter Zugrundelegung dieses möglichen Geschehensablaufs hätte sich auch das Vorgehen des Angeklagten auf D. vor der Haustür nicht mehr auf das Verhalten des Nebenklägers ausgewirkt, da der Nebenkläger davon unabhängig zum Angriff auf den Angeklagten bereits entschlossen war, bevor er über einen Nebeneingang zu dem Handgemenge hinzukam. Das Landgericht hätte diesen dem Angeklagten günstigeren Sachverhalt nach dem Zweifelsgrundsatz seiner Entscheidung zugrunde legen und auf dieser Grundlage eine Rechtfertigung durch Notwehr prüfen müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. November 1994 ‒ 3 StR 393/94, NJW 1995, 973; Urteil vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12). Das ist rechtsfehlerhaft unterblieben. Damit erweist sich die Ablehnung der Rechtfertigung wegen der Einschränkungen des Notwehrrechts nach einer Provokation als nicht tragfähig. 
b) Eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr kann auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe unter anderen Gesichtspunkten ausgeschlossen werden.
aa) Soweit das Landgericht an anderer Stelle festgestellt hat, der Nebenkläger habe mit dem Golfschläger den Angeklagten abhalten wollen, auf D. einzuschlagen, ist diese einen rechtswidrigen Angriff des Nebenklägers möglicherweise in Frage stellende Sachverhaltsvariante nicht belegt.
bb) Darauf, dass der Angeklagte seinerseits mit Angriffswillen gegen den Nebenkläger vorgegangen wäre und ihm deshalb der Verteidigungswille gefehlt hätte, hat das Landgericht nicht abgestellt. Ein derartiger Angriffswille des Angeklagten ergibt sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe.
cc) Zur Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB bei bestehender Notwehrlage hat sich das Landgericht nicht verhalten. Es hat insoweit allein auf die Ausweichpflicht des Angeklagten wegen der vom Landgericht angenommenen Einschränkung des Notwehrrechts nach leichtfertiger Provokation abgestellt. Eine Prüfung, ob der Einsatz des bis dahin noch nicht in Erscheinung getretenen Messers gegen den Nebenkläger in der gegebenen
Kampflage ohne Androhung erforderlich war (vgl. BGH, Urteile vom 19. Dezember 2013 - 4 StR 347/13; vom 8. Juni 2016 - 5 StR 564/15; Beschluss vom 13. September 2018 - 5 StR 421/18), hat es nicht vorgenommen.
3. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall 2 entzieht auch dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage.
4. Die Aufhebung ist nicht auf die beiden nicht revidierenden Mitangeklagten gemäß § 357 StPO zu erstrecken, gegen die das Landgericht wegen derselben Schuldsprüche jugendrichterliche Maßnahmen ergriffen hat. Der Rechtsfehler bei der Prüfung einer Einschränkung des Notwehrrechts des Angeklagten hat sich nicht auf die Verurteilungen der Mitangeklagten ausgewirkt, da das Landgericht den Mitangeklagten die Messerstiche in den Hals und Bauch des Nebenklägers nicht zugerechnet hat und die Mitangeklagten im Übrigen mit Angriffswillen handelten.
5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) § 33 StGB entfällt nicht schon, wenn der Täter den Angriff provoziert hat oder sich dem Angriff hätte entziehen können. Für seine Anwendung ist vielmehr grundsätzlich auch dann Raum, wenn infolge der von dem Angegriffenen schuldhaft mit verursachten Notwehrlage ein nur eingeschränktes Notwehrrecht nach § 32 StGB besteht, sofern der Täter die Grenzen der (eingeschränkten) Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1993 ‒ 3 StR 356/92, BGHSt 39, 133, 140; Beschluss vom 15. November 1994 ‒ 3 StR 393/94, NJW 1995, 973; Urteil vom 3. Juni 2015 - 2 StR 473/14). 
b) Für den Fall einer Verurteilung ist zu beachten, dass es zur Begründung einer etwaigen beträchtlichen Übersetzung der erhöhten Mindeststrafe des § 224 Abs. 1 StGB bei Vorliegen von zahlreichen Milderungsgründen rechtlich bedenklich ist, als einzigen Strafschärfungsgrund nur eine nicht einschlägige und lange zurückliegende Vorbelastung „in sehr geringem Umfang“ einzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 2009 - 5 StR 241/09).