StGB § 32 Sozialethische Notwehrbeschränkung
BGH, Urt. v. 03.06.2015 – 2 StR 473/14 – NStZ 2016, 84
1. Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss der Angegriffene grundsätzlich nur dann zurückgreifen,wenn deren Abwehrwirkung unter den gegebenen Umständen unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Angesichts der schweren Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die regelmäßig in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht jedoch dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt, wenn mithin zwischen dem sozialethisch zu missbilligenden Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3. Juni 2015 für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 29. Juli 2014 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
1 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, wovon es neun Monate als vollstreckt erklärt hat. Die auf eine Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.
I. 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wohnte der zum Tatzeitpunkt 47 Jahre alte und bislang unbestrafte Angeklagte mit seiner Familie in unmittelbarer Nachbarschaft des Nebenklägers.
Im vorderen Bereich ihrer beiden angrenzenden Grundstücke befand sich jeweils das Wohnhaus, dahinter ein Garten. Die Gärten waren der Länge nach durch einen Zaun getrennt und gingen nach hinten ohne eine Umzäunung ins freie Feld über. Seit 2003 kam es zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger zu wiederholten und fortdauernden Streitigkeiten, die regelmäßig mit wechselseitigen Beleidigungen einhergingen. Daraus entwickelte sich in einem Fall auch eine körperliche Auseinandersetzung, in deren Verlauf sich der Nebenkläger den Arm brach. Am Tattag, dem 25. August 2007, arbeiteten sowohl der Angeklagte als auch der Nebenkläger in ihrem Garten. Alsbald entwickelte sich eine über den Zaun hinweg geführte verbale Auseinandersetzung, im Rahmen derer wechselseitig Beleidigungen ausgetauscht wurden. Als der Sohn des Nebenklägers, der Zeuge S., hinzukam und sich einmischte, drohte der Angeklagte ihm, er werde beide "platt machen"; zuerst aber sei der Nebenkläger dran. Dabei stand der Angeklagte mit einem Rundspaten in der Hand am Zaun und rief in Richtung des Nebenklägers, er solle herüber kommen, er schlage ihn tot. Dem Zeugen S., der dem Angeklagten weiter Vorhaltungen machte, rief er mit dem erhobenen Spaten zu, er solle sich da raus halten, er komme später dran. Zum Nebenkläger äußerte er wiederum, er solle herüber kommen, er warte auf ihn. Der Nebenkläger ergriff nunmehr einen 95 cm langen Axtstiel und ging um den im hinteren Bereich des Gartens endenden Zaun herum und betrat das Grundstück des Angeklagten. Sein Sohn, der eine ernsthafte Auseinandersetzung befürchtete, folgte ihm kurz darauf mit einem Rechteckspaten in der Hand. Der Nebenkläger ging zwischenzeitlich auf den Angeklagten zu, der zurückwich und ihn dabei aufforderte: "Komm, komm, komm!". Als der Nebenkläger mit dem Axtstiel seitlich ausholend in Richtung des Angeklagten schlug, holte dieser mit dem Spaten, den er in beiden Händen hielt,über seinen Kopf hinweg aus und schlug ihn mit voller Wucht mit dem nach unten geneigten Spatenblatt senkrecht auf den Kopf des Nebenklägers. Die Spatenkante durchschlug die Schädeldecke, drang weitere 5 cm tief in den Schädel ein und durchschnitt über eine Länge von 15 cm das Hirngewebe. Der Nebenkläger erlitt ein offenes Schädel-Hirn-Trauma 3. Grades mit Impressionsfraktur und sackte sofort in sich zusammen. Der Angeklagte erlitt durch den Schlag mit dem Axtstiel eine leichte Rötung und eine Beule. Der Zeuge S., der zum Zeitpunkt des Schlages an dem rund 10 Meter vom Tatort entfernten hinteren Ende des Zauns angelangt war, lief nun auf den Angeklagten zu und schlug mindestens einmal mit seinem Spaten in dessen Richtung. Diesen Schlag konnte der Angeklagte abblocken.
Der Zeuge S. warf nun seinen Spaten weg und wandte sich seinem reglos am Boden liegenden Vater zu. Während er am Boden kniend erste Hilfe leistete, drohte ihm der Angeklagte, er werde auch ihn "platt machen", wenn er aufstehe. Als der Nebenkläger kurz darauf wieder erwachte, drohte der Angeklagte auch ihm, er bringe ihn um. Tatsächlich unternahm der Angeklagte aber nichts dergleichen und ließ es zu, dass der Nebenkläger gestützt von seinem Sohn und seiner herbeigeeilten Schwiegertochter das Grundstück verließ.
Der Nebenkläger wurde notoperiert. Er konnte sich nach einem Aufenthalt in der neurochirurgischen Intensivstation rund ein Jahr lang nur noch im Rollstuhl fortbewegen. Er ist nunmehr in der Lage, kurze Strecken mit einem Gehstock zurückzulegen. Als Folge der Hirnverletzung hat er sein Sprach-, Schreib- und Lesevermögen irreversibel verloren. Verblieben sind auch spastische Lähmungen in der rechten Körperhälfte, was ihm die Verrichtung von Alltagstätigkeiten erheblich erschwert. Er ist dauerhaft arbeitsunfähig.
2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Spatenhieb des Angeklagten nicht durch Notwehr gerechtfertigt sei. Zwar habe dieser sich in einer Notwehrlage befunden und mit Verteidigungswillen gehandelt. Es fehle aber an der Erforderlichkeit seiner Verteidigungshandlung. Der Angeklagte sei in seinem Notwehrrecht beschränkt gewesen, da er selbst den Angriff des Nebenklägers provoziert habe, weshalb seine Verteidigung im Rahmen des solchermaßen eingeschränkten Notwehrrechts unverhältnismäßig gewesen sei. Der Angeklagte hätte zunächst ausweichen können und müssen. Da er nur dem Nebenkläger gegenüber gestanden habe, der zudem mit dem objektiv weniger gefährlichen hölzernen Axtstiel bewaffnet gewesen war, hätte es auch ausgereicht, wenn er ihn mit seinem Rundspaten auf Distanz gehalten, also insbesondere den Schlag abgeblockt (Schutzwehr) oder aber nur auf den Körper oder die Beine geschlagen hätte (Trutzwehr ohne lebensgefährliche Behandlung). Ausgeschlossen hat das Landgericht auch, dass der Angeklagte die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten hat (§ 33 StGB), da er die Notwehrlage selbst provoziert habe.
II. 1. Die Verfahrensrüge hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg.
2. Die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat indes einen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Das Landgericht hat sich zwar rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass der vom Angeklagten geführte Angriff rechtswidrig war (a), nicht jedoch davon, dass der Angeklagte dabei auch schuldhaft handelte (b).
a) Die Annahme des Landgerichts, dass die Verteidigungshandlung des Angeklagten nicht erforderlich im Sinne des § 32 StGB war, hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand.
aa) Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss der Angegriffene grundsätzlich nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unter den gegebenen Umständen unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Angesichts der schweren Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die regelmäßig in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. Senatsurteil vom 2. November 2011 -2 StR 375/11, NStZ 2012, 272, 274). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht jedoch dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt (vgl. Senatsbeschluss vom 23.August 1995 -2StR 394/95, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 11 mwN; BGH, Beschluss vom 25. Juni 2009 - 5 StR 141/09, NStZ 2009,626, 627), wenn mithin zwischen dem sozialethisch zu missbilligenden Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. Senatsbeschluss vom 10. November 2010 -2 StR 483/10; NStZ-RR 2011, 74, 75; Senatsbeschluss vom 2. November 2005 -2 StR 237/05, NStZ 2006, 332, 333; BGH, Urteil vom 21. März 1996 -5 StR 432/95, BGHSt 42, 97, 100). Wer durch ein solchermaßen sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten einen Angriff auf sich schuldhaft provoziert hat, darf nicht bedenkenlos von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen, auch wenn er den Angriff nicht in Rechnung gestellt haben sollte oder gar beabsichtigt hat. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährdenden Waffe erst übergehen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit verschließt, ist er zu entsprechend weitreichender Verteidigung befugt (BGH, Urteil vom 25. März 2014 -1 StR 630/13, NStZ 2014, 451, 452 mwN; BGH, Urteil vom 15. Mai 1975 -4 StR 71/75, BGHSt 26, 143, 145).
bb) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist die Annahme des Landgerichts einer dem Angeklagten vorwerfbaren Provokation der Notwehrlage und einer damit einhergehenden Einschränkung seiner Notwehrbefugnisse rechtsfehlerfrei. Der Angeklagte hat durch seine mit Beleidigungen verbundene wiederholte Aufforderung an den Nebenkläger, zu ihm auf das Grundstück zu kommen, den Angriff des Nebenklägers gegen sich in sozialethisch zu missbilligender Weise vorwerfbar provoziert. Der Angeklagte wusste nicht nur bzw. hätte wissen können, dass er den Nebenkläger durch sein Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlassen konnte (vgl. insoweit BGH, Urteil vom 12. Februar 2003 -1 StR 403/02, NJW 2003, 1955, 1959; Senatsbeschluss vom 4. August 2010 -2 StR 118/10, NStZ 2011, 82, 83). Er hat die körperliche Auseinandersetzung vielmehr als solche gezielt herausgefordert. Dies selbst dann noch, als der Nebenkläger sein Grundstück betreten hatte und mit dem Axtstiel in der Hand auf ihn zuging. Angesichts dessen, dass - worauf das Landgericht zu Recht abgestellt hat - der Nebenkläger in der Vergangenheit schon einmal auf das Grundstück des Angeklagten betreten und es auch bereits zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen beiden gekommen war, hat der Angeklagte auch erkannt, dass seine Beleidigungen und Aufforderungen den Nebenkläger veranlassen konnten, ihn anzugreifen. Richtig ist deshalb auch die Erwägung der Kammer in diesem Zusammenhang, der Angeklagte habe vor Ausführung des lebensgefährlichen Schlages zunächst ausweichen müssen oder jedenfalls von allen Möglichkeiten der Schutzwehr und einer weniger gefährlichen Trutzwehr Gebrauch machen können und müssen.
b) Die Begründung, mit der das Landgericht das Vorliegen eines Notwehrexzesses (§ 33 StGB) abgelehnt hat, ist indes rechtfehlerhaft. Die Überschreitung der Grenzen der Notwehr aus Furcht ist entschuldigt, wenn bei dem Täter ein durch das Gefühl des Bedrohtseins verursachter psychischer Ausnahmezustand mit einem solchen Störungsgrad vorliegt, dass er das Geschehen nur noch in erheblich reduziertem Maße verarbeiten kann (BGH, Urteil vom 30. Mai 1996 -4 StR 109/96, NStZ-RR 1997, 65 f. mwN).
Das Landgericht hat insoweit lediglich ausgeführt, dass es dem Angeklagten nicht folge, soweit er sich dahin eingelassen habe, er habe Todesangst verspürt, als der Nebenkläger mit dem Axtstiel in der Hand auf ihn zugekommen sei. Dem stehe "bereits entgegen, dass der Angeklagte die Notwehrlage selbst provoziert habe, weshalb eine Überschreitung der gebotenen Notwehrhandlung aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken nicht in Betracht komme" (UA S. 51). Diese Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es von einem falschen rechtlichen Maßstab ausgegangen ist. § 33 StGB entfällt nicht schon, wenn der Täter den Angriff aus rechtlichen Gründen provoziert hat oder wenn er sich dem Angriff hätte entziehen können. Für seine Anwendung ist vielmehr grundsätzlich auch dann Raum, wenn infolge der von dem Angegriffenen schuldhaft mitverursachten Notwehrlage ein nur eingeschränktes Notwehrrecht nach § 32 StGB besteht, sofern der Täter die Grenzen der (eingeschränkten) Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 1993 -3 StR 356/92, BGHSt 39, 133, 140; Beschluss vom 15. November 1994 -3 StR 393/94, NJW 1995, 973). Die zitierte Erwägung des Landgerichts legt nahe, dass es die Frage, ob ein asthenischer Affekt im Sinne des § 33 StGB vorgelegen habe, nicht als Tatsachenfrage einer Beweiswürdigung unterworfen hat, sondern eine solche schon aus rechtlichen Gründen - zu Unrecht - ausgeschlossen hat.
c) Die Feststellungen zum äußeren (objektiven) Tatgeschehen werden von dem Rechtsfehler nicht berührt und können deshalb aufrechterhalten bleiben.