StGB § 46, § 64 Revisionsteilerfolg wegen fehlerhafter Zumessungserwägungen zum Einlassungsverhalten und zur Mittäterschaft und Nichterörterung der Unterbringung in Entziehungsanstalt
BGH, Urt. v. 20.05.2020 – 2 StR 62/20
1. Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.
2. Es ist rechtsfehlerhaft, zulasten des Angeklagten zu berücksichtigen, er habe die Tat mit einem Mittäter gemeinschaftlich begangen, da allein der Umstand mittäterschaftlichen Handelns noch nichts über das Maß der Tatschuld des einzelnen Beteiligten besagt.
3. Eine suchtbedingte Abhängigkeit kann auch dann einen Hang iSv § 64 StGB begründen, wenn sie nicht den Schweregrad einer seelischen Störung iS der §§ 20, 21 StGB erreicht.
4. Das Tatgericht muss bei Prüfung der konkreten Aussicht auf einen Behandlungserfolg iSv § 64 S. 2 StGB auch die Sprachkenntnisse und die Bleibeperspektive des Angeklagten in den Blick nehmen.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 20. Mai 2020 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 354 Abs. 1 analog StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 28. Oktober 2019, soweit es ihn betrifft,
a) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
- im Strafausspruch,
- soweit eine Entscheidung über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist,
b) im Ausspruch über die Einziehung dahin geändert, dass gegen den Angeklagten die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 2.000 € als Gesamtschuldner angeordnet wird; die Entscheidung über die Einziehung von Tatmitteln hat Bestand. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln unter Mitsichführen einer Waffe“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Es hat ferner - gestützt auf §§ 73a, 73c StGB - „die Einziehung eines Geldbetrages“ von 2.000 € gegen den Angeklagten als Gesamtschuldner sowie die Einziehung eines Einhandmessers, eines Mobiltelefons sowie von 198,04 g einer näher bezeichneten Kokainzubereitung angeordnet.
Die Revision des Angeklagten, die er auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts stützt, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die umfassende Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgezeigt. Indes kann der Strafausspruch keinen Bestand haben.
Rechtlich nicht unbedenklich erscheint bereits die Formulierung, ein Geständnis habe nicht berücksichtigt werden können, weil sich der Angeklagte „nicht eingelassen“ habe. Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 2015 - 3 StR 11/15, NStZ 2016, 59). Durchgreifend rechtsfehlerhaft ist die Wertung der Strafkammer zulasten des Angeklagten, er habe „die Tat mit wenigstens einem Mittäter gemeinschaftlich begangen“. Allein der Umstand mittäterschaftlichen Handelns besagt noch nichts über das Maß der Tatschuld des einzelnen Beteiligten (vgl. Senat, Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 124/15, NStZ-RR 2016, 74; BGH, Beschluss vom 5. April 2016 - 3 StR 428/15, NStZ 2016, 525; SSW-StGB/Eschelbach, 4. Aufl., § 46 Rn. 80).
2. Die Einziehungsentscheidung bedarf aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegten Gründen der Korrektur. Die Feststellungen belegen das Vorliegen einer auf §§ 73 Abs. 1, § 73c StGB gestützten Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 2.000 €, für die der Angeklagte gesamtschuldnerisch haftet.
3. Das Urteil kann auch insoweit keinen Bestand haben, als das Landgericht die Voraussetzungen des § 64 Satz 1 StGB nicht erörtert hat, obwohl hierzu Anlass bestand. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausführt, konsumierte der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen seit 2006 Kokain und befand sich in der Vergangenheit mehrfach wegen Alkohol und Drogenüberdosierungen „notfallmäßig“ im Krankenhaus. Auch im Tatzeitraum konsumierte er Kokain. Die hier gegenständlichen Taten beging er nach den Urteilsfeststellungen zur Mitfinanzierung des eigenen Drogenkonsums.
Die unterbliebene Prüfung stellt sich deshalb als durchgreifender sachlich-rechtlicher Mangel dar. Erwägungen zu einer Anordnung nach § 64 StGB waren auch nicht deshalb entbehrlich, weil sich die Strafkammer - für sich genommen rechtsfehlerfrei - von der uneingeschränkten Schuldfähigkeit des Angeklagten überzeugt hat. Eine suchtbedingte Abhängigkeit kann auch dann die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 StGB begründen, wenn sie nicht den Schweregrad einer seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB erreicht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 22. Februar 2007 - 4 StR 26/07, NStZ-RR 2007, 193, 194 mwN). Die unterbliebene Prüfung wird der neue Tatrichter - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) - nachzuholen haben. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, würde eine Unterbringungsanordnung im weiteren Verfahren nicht hindern (§ 358 Abs. 2 StPO). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen. Der neue Tatrichter wird im Hinblick auf die erforderliche konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg (§ 64 Satz 2 StGB) beim Angeklagten allerdings auch die Sprachkenntnisse und die Bleibeperspektive des Angeklagten in den Blick zu nehmen haben (vgl. Senat, Beschlüsse vom 12. März 2014 - 2 StR 436/13 und vom 16. Juli 2019 - 2 StR 241/19 mwN).