StGB § 46 Strafzumessung - Rechtstreues Leben nach der Tat

 

BGH, Urt. v. 13.07.2010 – 1 StR 277/10 - BeckRS 2010, 18801

Vergleichbar dem Umstand, dass ein Täter bislang unbestraft war, kann sich auch der Tat nachfol­gendes "bloßes gesetzeskonformes Verhalten" als Rückkehr zur Rechtstreue strafmildernd auswir­ken.

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 5. Februar 2010 wird verwor­fen. Die Kosten des Rechtsmittels und die durch dieses dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse. 

Gründe:

1. a) Das Landgericht hatte den Angeklagten durch Urteil vom 19. Februar 2009 wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 38 Fällen - davon in 37 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung - (Fälle II. 1. bis 3. der Urteilsgründe) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung (Fall II. 4. der Urteilsgründe; acht Monate Freiheitsstrafe) und Körperverletzung (Fall II. 5. der Urteilsgründe; drei Monate Freiheitsstrafe) zu einer zweijährigen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und deren Vollstre­ckung zur Bewährung ausgesetzt. Auf die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, wirksam auf den Rechtsfolgen­ausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat der Senat dieses Urteil im Ausspruch über die für die zu II. 1. bis 3. der Urteilsgründe festgestellten Taten verhängten Einzelstrafen und die Gesamtstrafe - unter Aufrechter­haltung der zugehörigen Feststellungen - aufgehoben, die weitergehende Revision verworfen und die Sache im Um­fang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen (Urt. vom 27. Oktober 2009 -1 StR 343/09).

b) Nach den somit bestandskräftigen Feststellungen beging der Angeklagte im Zeitraum von März 2002 bis Juli 2004 folgende 38 Sexualdelikte zum Nachteil seiner am 26. Juli 1990 geborenen Stieftochter M.: In 24 Fällen (II. 1. der Urteilsgründe) berührte er unter M. s Bekleidung deren Schamlippen, ohne mit dem Finger in die Vagina einzudrin­gen. Dabei masturbierte er meistens, kam häufig zum Samenerguss und ejakulierte auf den Rücken- oder Gesäßbe­reich seiner wie er selbst bekleideten Stieftochter. In 13 Fällen (II. 2. der Urteilsgründe) legte er sich auf M., die ihrerseits entweder auf dem Bauch oder auf dem Rücken lag, wobei beide zumindest noch mit einer Unterhose bzw. Boxershorts bekleidet waren. Sodann rieb er seinen Penis an der Scheide oder dem Gesäß des Mädchens bis zum Samenerguss. Als M. kurz nach ihrem 14. Geburtstag erstmals die Annäherung des Angeklagten ablehnte und aufzu­stehen versuchte, drückte dieser ihren Oberkörper auf das Bett, hielt sie an den Schultern fest und führte wiederum beischlafähnliche Bewegungen oberhalb der Kleidung bis zum Samenerguss aus, obwohl das Mädchen sich dem widersetzte (Fall II. 3. der Urteilsgründe). Im Januar 2007 sowie am 26. Juli 2007 beging der Angeklagte zudem zwei Körperverletzungen ebenfalls zum Nachteil seiner Stieftochter (II. 4. und 5. der Urteilsgründe). 

c) Auf der Basis dieser bestandskräftigen sowie ergänzender Feststellungen hat das Landgericht nunmehr Einzelstra­fen in derselben Höhe wie im Urteil vom 19. Februar 2009 verhängt (jeweils vier Monate Freiheitsstrafe für die 24 Fälle zu II. 1. der Urteilsgründe, jeweils sieben Monate Freiheitsstrafe für die 13 Fälle zu II. 2. der Urteilsgründe sowie ein Jahr Freiheitsstrafe für die tateinheitlich mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen begangene se­xuelle Nötigung [II. 3. der Urteilsgründe]). Hieraus sowie aus den beiden rechtskräftigen Strafen wegen der Körper­verletzungsdelikte hat es wiederum eine zweijährige Gesamtfreiheitsstrafe gebildet und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte, zu Ungunsten des Angeklagten eingeleg­te Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg. 

2. Die Beschwerdeführerin beanstandet insbesondere, das Landgericht habe bei seiner Strafzumessung rechtsfehler­hafte tat- und täterbezogene Erwägungen angestellt und die Sexualdelikte infolgedessen zu Unrecht als minder schwere Fälle bewertet; ferner habe es die gebildete Gesamtstrafe und die Entscheidung, die Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung auszusetzen, unzureichend begründet. 

3. a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf Grund der Hauptverhand­lung die wesentlichen ent- und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Das Revisionsgericht kann nach ständiger Rechtsprechung nur eingreifen, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen wird oder sich die verhängte Strafe von ihrer Be­stimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatgericht einge­räumten Spielraums liegt (BGHSt 34, 343, 349; 29, 319, 320). 

b) An diesen Grundsätzen gemessen, deckt die Revision keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Das Landgericht hat seine Rechtsfolgenentscheidung aufgrund einer sorgfältigen Gesamtabwägung der insoweit maßgeblichen Um­stände getroffen und hierbei nicht zuletzt den vom Senat in seinem ersten Urteil in dieser Sache dargelegten rechtli­chen Bedenken hinreichend Rechnung getragen. 

aa) Insbesondere unterliegt die Wahl des Strafrahmens für die 38 Sexualstraftaten keinen rechtlichen Einwänden. Das Landgericht ist von zutreffenden Maßstäben ausgegangen. Bei seiner Abwägung hat es die gegen den Angeklag­ten sprechenden Gesichtspunkte - namentlich die Vielzahl der Fälle, den langen Tatzeitraum, den besonderen Ver­trauensbruch sowie das Gewicht der sexuellen Handlungen - hinreichend berücksichtigt und dabei auch die beim Opfer aufgetretenen negativen Tatfolgen (seit Sommer 2009 „heftige Wut- und Ekelgefühle gegenüber dem Ange­klagten sowie starke Stimmungsschwankungen“, so dass die Durchführung einer psychotherapeutischen Behandlung angestrebt ist) ausdrücklich in die Bewertung einbezogen. Es stellt entgegen der Ansicht der Revision keinen Wer­tungsfehler dar, wenn es diese Folgen als „jedenfalls nicht außergewöhnlich schwer“ eingestuft hat. Im Hinblick darauf schließt der Senat aus, dass sich die unter Hinweis auf § 46 Abs. 3 StGB vom Landgericht rechtlich unzutref­fend geäußerte Auffassung, durch derartige Taten typischerweise eintretende seelische Schäden gehörten bereits zum gesetzlichen Tatbestand, bei der durchgeführten Gesamtwürdigung ausgewirkt hat. Das Landgericht hat zudem den Umstand, dass die Geschädigte bei der Begehung der Taten elf Jahre und älter gewesen ist, nicht für sich genommen strafmildernd berücksichtigt, ihn vielmehr ersichtlich bei der Gewichtung der sexuellen Handlungen neben anderen mit herangezogen. Dies begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Insgesamt war es dem Landgericht danach und angesichts der zahlreichen für den Angeklagten sprechenden Umstände (z.B. keine Vorstrafen bei Begehung der Sexualstraftaten, eigene psychotherapeutische Behandlung, Taten liegen fünfeinhalb bis acht Jahre zurück) aus Rechtsgründen nicht verwehrt, „gerade noch“ die Strafrahmen für minder schwere Fälle zugrundezulegen, die im Tatzeitraum jeweils gesetzlich vorgesehen waren (§§ 176 Abs. 1, 177 Abs. 5 StGB). In seine Abwägung durfte das Landgericht das umfassende Geständnis einfließen lassen, dem eigenständiges Gewicht zukam, auch wenn es durch eine Erklärung des Verteidigers abgelegt wurde. Das Beenden der Tatserie, nachdem sich die Geschädigte dem An­geklagten erstmals widersetzt hatte, durfte ebenfalls zu dessen Gunsten gewertet werden. Vergleichbar dem Um­stand, dass ein Täter bislang unbestraft war, kann sich entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts auch der Tat nachfolgendes „bloßes gesetzeskonformes Verhalten“ als Rückkehr zur Rechtstreue strafmildernd auswirken. 

bb) Auch die Gesamtstrafe ist ohne Rechtsfehler gebildet worden. Soweit die Revision erhöhte Begründungsanforde­rungen daraus herleiten möchte, „dass sich die Gesamtstrafenhöhe der unteren Grenze des rechtlich Zulässigen nä­hert“, überzeugt dies nicht. Denn die verhängte zweijährige Strafe ist nahezu doppelt so hoch wie die durch Erhö­hung der einjährigen Einsatzstrafe (§ 54 Abs. 1 Satz 2 StGB) um eine Einheit - also gemäß § 39 StGB um einen Monat -mindestmögliche Gesamtstrafe. Bestimmende Strafumstände hat das Landgericht bei seiner Abwägung nicht außer Acht gelassen. 

cc) Der Entscheidung des Landgerichts, die Vollstreckung der Gesamtstrafe zur Bewährung auszusetzen, liegt eben­falls kein Rechtsfehler zugrunde und ist daher vom Senat hinzunehmen. Das Landgericht hat dem Angeklagten im Hinblick auf dessen persönliche Entwicklung und den erheblichen Zeitablauf seit der Begehung der Taten nachvoll­ziehbar eine positive Kriminalprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) gestellt. Zur Begründung der besonderen Umstände (§ 56 Abs. 2 StGB) durfte es auf die Gesichtspunkte Bezug nehmen, die es zur Annahme minder schwerer Fälle i.S.d. Gesetzes bewogen haben. Insofern gilt, dass auch eine Vielzahl allgemeiner Milderungsgründe den Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 StGB genügen kann. Dies hat das Landgericht vorliegend vertretbar bejaht.

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