StGB § 63 Gefährlichkeitsprognose und Defektzustand
StGB § 63 Gefährlichkeitsprognose und Defektzustand
BGH, Beschluss v. 21. Dezember 2016 – 1 StR 594/16
1. Hat sich das Krankheitsbild des Täters im Verlauf der Erkrankung bis zur Tat verändert und haben die Ärzte wechselnden Diagnosen gestellt, bedarf es besonders detaillierter Darlegungen zu den Voraussetzungen des § 63 StGB im Urteil, namentlich zum Defektzustand und seinen Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit.
2. In die Gefährlichkeitsprognose sind die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung sowie die auf die Person des Beschuldigten und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren einzubeziehen, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Straftaten jenseits der Anlasstaten belegen können. 3. Zwar kann bei einer Schizophrenie der Tatrichter auch in Bezug auf einen Täter, der zuvor noch nicht oder kaum mit Gewaltdelikten aufgefallen ist, die Überzeugung gewinnen, dieser werde mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zukünftig erhebliche Straftaten, wie etwa Körperverletzungsdelikte, begehen. Dazu bedarf es aber gerade der sorgfältigen Darlegung derjenigen Umstände, die die entsprechende tatrichterliche Überzeugung tragen. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts am 21. Dezember 2016 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Würzburg vom 19. August 2016 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Gründe:
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen zwei jeweils als Bedrohung (§ 241 StGB) gewerteter, im Zustand aufgehobener Einsichtsfähigkeit begangener Anlasstaten angeordnet. Die auf eine ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten hat Erfolg.
I. Die Anordnung der Maßregel hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um die notwendige Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Prognostisch muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB). Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; etwa BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2016 – 4 StR 78/16 Rn. 9; vom 15. Januar 2015 – 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395 und vom 10. November 2015 – 1 StR 265/15, NStZ-RR 2016, 76 f. mwN; siehe Beschluss vom 13. Oktober 2016 – 1 StR 445/16 Rn. 16).
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
a) Bereits die Voraussetzungen einer aufgrund aufgehobener Einsichtsfähigkeit ausgeschlossenen Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) des Beschuldigten bei Begehung der beiden Anlasstaten werden nicht in für den Senat nachvollziehbarer Weise dargestellt und beweiswürdigend belegt. Erforderlich ist auf der Ebene der Darlegungsanforderungen stets eine konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die näher festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten bzw. Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; etwa BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2016 – 4 StR 78/16 Rn. 11; vom 17. Juni 2014 – 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306 und vom 23. August 2012 – 1 StR 389/12, NStZ 2013, 98). Daran fehlt es bezüglich beider Anlasstaten.
aa) Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Beschuldigte an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, aufgrund dessen er „oftmals die Realität (verkennt) und nach seinen objektiv falschen Vorstellungen (handelt)“ (UA S. 7, siehe auch UA S. 10). Im Rahmen der Beweiswürdigung ordnet das Landgericht, dem Sachverständigen folgend, den psychischen Zustand des Beschuldigten als akute polymorphe psychotische Störung (ICD-10 F.23.1.) ein. Beide Anlasstaten würden auf dieser Störung beruhen, weil sich die krankheitsbedingt wahnhaften Vorstellungen des Beschuldigten über einen Zeitraum erstreckt hätten, der beide Tatzeiten umfasse (UA S. 15).
bb) Die Ausführungen im angefochtenen Urteil zu der konkreten Ausprägung der psychotischen Störung beschränken sich auf die Beschreibung, der Beschuldigte leide unter der wahnhaften Vorstellung, bereits mehrfach gelebt zu haben und in einem seiner früheren Leben mit der Zeugin S. verlobt gewesen und auch aktuell noch mit ihr verlobt zu sein. Wie sich die „psychotisch intendierte(n) wahnhaft geprägte(n) Psychopathologie“ konkret auf die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten bezüglich der Anlasstaten ausgewirkt haben soll, wird in dem angefochtenen Urteil nicht näher ausgeführt. Die Einschätzung des Sachverständigen, der sich das Tatgericht anschließt, erschöpft sich in der Aussage, die Kritikfähigkeit des Beschuldigten sei derart tiefgreifend verändert gewesen, dass die Einsichtsfähigkeit in das Unrecht seines Handelns sowie in den Realcharakter der Situationen als aufgehoben bewertet werden müsse (UA S. 16). Das lässt eine Darstellung der auf den Beschuldigten bezogenen konkreten Auswirkungen seiner allein konkret benannten wahnhaften Vorstellung mehrfacher Wiedergeburt und des (vermeintlichen) Verlöbnisses mit S. auf die Unrechtseinsichtsfähigkeit bei den beiden Anlasstaten nahezu vollständig vermissen. Näherer Ausführungen sowohl zum psychischen Zustand des Beschuldigten und der Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit bei Begehung der Anlasstaten hätte es aber auch deshalb bedurft, weil sich das Krankheitsbild seit der ersten festgestellten stationären Behandlung des Beschuldigten im November 2008 bis zu den Taten im September 2015 bzw. Januar 2016 verändert hat und im Verlaufe seiner mehrfachen stationären Aufenthalte wechselnde Diagnosen seitens der behandelnden Ärzte gestellt worden sind (UA S. 4 und 5).
cc) Hinsichtlich der Anlasstat zum Nachteil des früheren Betreuers des Beschuldigten, Rechtsanwalt Sc. , (Tat B.1. der Urteilsgründe) erweisen sich die Feststellungen und die zugehörige Beweiswürdigung zudem als in sich widersprüchlich. Das Landgericht hat festgestellt, der Beschuldigte sei bezüglich des an den Betreuer gerichteten Drohbriefs infolge seiner psychischen Erkrankung der Auffassung gewesen, Rechtsanwalt Sc. sei für die erfolgte Kürzung von Sozialleistungen verantwortlich (UA S. 7). Ein Zusammenhang mit dem dargestellten Störungsbild wahnhafter Annahme mehrfacher Wiedergeburt und eines Verlöbnisses mit der Zeugin S. ist insoweit nicht zu erkennen. Die referierte Einlassung des Beschuldigten, er habe durch den Brief den Wechsel seines Betreuers erreichen wollen (UA S. 10 unten), lässt sich mit der Feststellung krankheitsbedingter Fehlwahrnehmung jedenfalls nicht in Einklang bringen, wenn das Störungsbild ausschließlich als eines beschrieben wird, das sich allein auf die Wiedergeburt und das Verhältnis zur Zeugin S. bezieht. Soweit das Landgericht in der Beweiswürdigung zum symptomatischen Zusammenhang zwischen der psychotischen Störung und der Anlasstat zum Nachteil von Rechtsanwalt Sc. ausführt, der Beschuldigte habe – nach Begehung der Tat – gegenüber ihn behandelnden Ärzten im Bezirkskrankenhaus L. angegeben, sein Betreuer sei in seine Wohnung gegangen und habe seine Freundin geschwängert (UA S. 16), ist dies mit der Feststellung, die Verantwortungszuschreibung an den Betreuer für die erfolgte Kürzung der ALG II-Leistungen sei der auslösende Grund für den Drohbrief an den Betreuer gewesen (UA S. 7), ohne nähere Darlegungen kaum zu vereinbaren. Die Widersprüchlichkeiten zwischen Feststellungen und Beweiswürdigung können sich auf die Annahme der Unterbringungsvoraussetzungen ausgewirkt haben. Sowohl für die Beurteilung des symptomatischen Zusammenhangs zwischen der diagnostizierten Störung und der Anlasstat als auch für die Gefährlichkeitsprognose kommt dem Motiv der Tat zum Nachteil des früheren Betreuers Bedeutung zu.
b) Auch die Gefährlichkeitsprognose ist nicht tragfähig begründet.
aa) Die für die Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 StGB erforderliche Wahrscheinlichkeit höheren Grades, der Täter werde infolge seines fortdauernden psychischen Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der - 114 - von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 2. September 2015 – 2 StR 239/15; vom 7. Juni 2016 – 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306 f. und vom 13. Oktober 2016 – 1 StR 445/16 Rn. 15 mwN); die Prognose muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 – 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306 f.; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 2957/12 Rn. 27 sowie BT-Drucks. 18/7244 S. 23). Einzustellen in die Gefährlichkeitsprognose ist die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung sowie die auf die Person des Beschuldigten und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Straftaten jenseits der Anlasstaten belegen können (BGH aaO mwN).
bb) Dem genügt das angefochtene Urteil nicht, obwohl das Landgericht den zutreffenden rechtlichen Ausgangspunkt einer auf einer umfassenden Gesamtwürdigung aufbauenden Prognose erkannt hat. Es beschränkt sich jedoch darauf, dem Sachverständigen in dessen Einschätzung zu folgen, dass im Fall einer erneuten Zuspitzung des psychotischen Geschehens die „Wahninhalte des Beschuldigten impulshaft und handlungsleitend umgesetzt werden“. In solchen Situationen sei die Begehung von Aggressions- und Gewaltdelikten bis hin zu Tötungsdelikten sehr wahrscheinlich (UA S. 20). Anknüpfungstatsachen, die die Prognose derartiger zukünftiger Straftaten stützen, führt das angefochtene Urteil nicht auf. Die benannten Umstände der Wiederaufnahme von Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum durch den Beschuldigten sowie das Fehlen von Krankheitseinsicht und eines sozialen Empfangsraums stellen zwar allgemein prognostisch ungünstige Umstände dar. Angesichts seit 2008 bestehender – wenn auch bei sich im Verlaufe der Zeit veränderndem Krankheitsbild – psychischer Auffälligkeit, bislang weitgehend ausgebliebener Delinquenz sowie des bisherigen Fehlens von Gewaltdelikten können die genannten Aspekte allein aber nicht tragfähig begründen, warum nunmehr Gewaltdelikte bis hin zu Tötungsdelikten von dem Beschuldigten zu erwarten sein sollen. Konkrete Umstände, die ein Umschlagen von Drohungen hin zu deren Realisierung prognostizieren lassen, benennt das Landgericht nicht. Aus der Art der psychischen Erkrankung als psychische Störung aus dem Formenkreis der Schizophrenie folgt nichts anderes. Zwar kann bei einer derartigen Störung der Tatrichter auch in Bezug auf einen Täter, der zuvor noch nicht oder kaum mit „gewalttätigen Aggressionsdelikten“ aufgefallen ist, die Überzeugung gewinnen, dieser werde mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zukünftig erhebliche Straftaten, wie etwa Körperverletzungsdelikte, begehen (BGH, Beschluss vom 2. März 2011 – 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011, 240 f.; vgl. BT-Drucks. 18/7244 S. 23). Dazu bedarf es aber gerade der sorgfältigen Darlegung derjenigen Umstände, die die entsprechende tatrichterliche Überzeugung tragen (BGH aaO; siehe auch BT-Drucks. 18/7244 S. 23). Gerade diese Darlegung enthält das angefochtene Urteil aber aus den genannten Gründen nicht.
II. Der Senat hebt die getroffenen Feststellungen insgesamt auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter sowohl zu den für die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten bei Begehung der Anlasstaten bedeutsamen Umstände als auch zu sämtlichen prognoserelevanten Aspekten umfassende und in sich widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.