StGB § StGB 66b Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 fehlende Feststellbarkeit einer günstigen Kriminalprognose

BGH, Beschl. v .25.03.2009 – 5 StR 21/09

Mit allein an der fehlenden Feststellbarkeit einer günstigen Kriminalprognose orientierten Erwä­gungen ist die für § 66 b Abs. 1 i.V.m. § 66 b Abs. 2 StGB erforderliche positive Entscheidung über eine vom Verurteilten ausgehende gegenwärtige erhebliche Gefahr schwerster Straftaten nicht nachvollziehbar belegt.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. März 2009 beschlossen: 

1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 2. Oktober 2008 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.  

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.  Gründe Das Landgericht hat gegen den Verurteilten nachträglich die Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel hat Erfolg.  

1. Der Verurteilte ist strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten: 

a) Das Landgericht Frankfurt (Oder) hat ihn am 8. Juli 1998 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in acht Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 17 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Die Einzelstrafen für die Vergewaltigungsfälle betrugen jeweils vier Jahre und sechs Monate. Dem lag zugrunde, dass der Verurteilte in den Jahren 1992 und1993 inBrandenburg wiederholt sexuelle Handlungen an seiner acht bzw. neun Jahre alten Stieftochter vorgenommen hat. In 20 Fällen vollzog er – zumeist unter Mitwirkung seiner Ehefrau, die das Kind festhielt – den vaginalen Geschlechtsverkehr mit dem Mädchen. Den in den ersten acht dieser Fälle von der Geschädigten noch geleisteten Widerstand  überwand der Verurteilte mit Gewalt. 

Das Urteil wurde am 6. Januar 1998 hinsichtlich des Schuld- und Strafausspruchs rechtskräftig, hinsichtlich der Frage der Anordnung einer Maßregel – zunächst war der Verurteilte im psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden, nach insoweit erfolgter Aufhebung durch den Bundesgerichtshof wurde eine Maßregel nicht erneut ange­ordnet – trat Rechtskraft am 8. Juli 1998 ein. Die Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verbüßte der Verurteilte vollständig. Seit dem 15. August 2008 befindet er sich aufgrund des Beschlusses des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. August 2008 im Vollzug der einstweili­gen Unterbringung gemäß § 275a Abs. 5 StPO.  

b) Bereits vor dieser Anlassverurteilung war der Verurteilte von DDR-Gerichten wegen sexuell motivierter Delikte bestraft worden, so 1963 wegen versuchter Notzucht (Zuchthausstrafe ein Jahr) und erneut wegen versuchter Notzucht in Tateinheit mit gewaltsamer Unzucht (Zuchthausstrafe zwei Jahre und sechs Monate), 1968 wegen Unzucht mit Kindern (Zuchthausstrafe von zwei Jahren), 1972 wegen Vornahme sexueller Handlungen in der Öffentlichkeit (Freiheitsstrafe fünf Monate). Sodann erfolgte am 10. Mai 1979 durch das Kreisgericht Seelow eine Verurteilung wegen Nötigung zu sexuellen Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Nach den Feststellungen zog der Verurteilte eine etwa 20 Jahre alte Frau vom Fahrrad und brachte sie zu Boden, um sie zu vergewaltigen. Hiervon nahm er aber Abstand und berührte ihr bedecktes Geschlechtsteil. Als es der Geschädigten gelang, aufzuspringen, onanierte er in ihrer Gegenwart und wies sie an, solange zu bleiben.   Am 30. Juli 1981 wurde er durch das Kreisgericht Frankfurt (Oder) wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass er ein elfjähriges Mädchen in seine Wohnung gelockt, ihm dort Alkohol zu trinken gegeben und an ihm sexuelle Handlungen, wie Küssen, Berühren und Lecken des nackten Geschlechtsteils, vorgenommen hatte. Am 10. März 1986 wurde gegen den Verurteilten wegen mehrfacher Vornahme sexueller Handlungen in der Öffentlichkeit und sexuellen Missbrauchs von Kindern auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten erkannt. Der Verurteilte hatte sein Geschlechtsteil vor Kindern entblößt, ein Kind hatte er dabei über der Hose an dessen Geschlechtsteil gestreichelt. Das Kreisgericht Frankfurt (Oder) erkannte gegen den Verurteilten am 4. Dezember 1989 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern auf eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Dem lag zugrunde, dass er das unbedeckte Geschlechtsteil seiner fünfjährigen Stieftochter berührt und erfolglos versucht hatte, seinen Finger in ihre Scheide einzuführen.

2. Das Landgericht ist nunmehr sachverständig beraten zu der Überzeugung gelangt, dass der Verurteilte aufgrund eines Hangs zur Begehung erheblicher Sexualstraftaten gefährlich sei. Es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung solcher Taten, da nicht ersichtlich sei, dass sich die für die Delinquenz bedeutsamen Persönlichkeitseigenschaften des Verurteilten – seine im sexuellen Bereich bestehende moralische Verwahrlosung, seine Egozentrik und sein Mangel an Empathie – gewandelt hätten; eine Auseinandersetzung mit seinen Taten sei nicht erfolgt, dies sei aber Voraussetzung für den Aufbau eines Wertesystems gewesen. Auch das Alter des Verurteilten „spreche nicht gegen eine ungünstige Prognose“. Dies lasse zwar eine Abnahme der sexuellen Spannkraft erwarten, entsprechend seiner früheren Delinquenz seien aber „Taten zu befürchten, in welchen primär die Unterwerfung des Opfers Ziel des Übergriffs ist, und nicht das Ausleben einer sexuellen Potenz“ (UA S. 33).  Dass die vom Verurteilten ausgehende Gefahr schon bei der Anlassverurteilung vom 1. Juni 1993 erkennbar gewesen sei, bleibe gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB unschädlich, da zum damaligen Zeitpunkt eine Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen nicht möglich gewesen sei. 

3. Das Urteil hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat zwar zutreffend die formellen Voraussetzungen gemäß § 66b Abs. 1 i.V.m. § 66 Abs. 2 StGB zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung angenommen. Rechtsfehlerfrei hat es zunächst die Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB aufgrund der Anlassverurteilung durch das Landgericht Frankfurt (Oder) vom 8. Juli 1998 bejaht. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen beurteilt sich gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB allein nach der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung geltenden Rechtslage (vgl. BGHSt 52, 205, 207).

b) Auch die sachlichen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 2 liegen vor, da gegen den Verurteilten aus rechtlichen Gründen bei der Verurteilung vom 8. Juli 1998 keine Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte. Denn Art. 1a EGStGB ließ zum damaligen Zeitpunkt die Anwendung der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung im Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik nur zu, wenn wenigstens einer der in diesem Gebiet begangenen Anlasstaten nach dem 1. August 1995 begangen worden war (zusammenfassend BVerfG – Kammer – Beschluss vom 22. Oktober 2008, insoweit in StraFo 2008, 516 nicht abgedruckt; vgl. auch BGHSt 52, 205). Diese Begrenzung entfiel erst zum 29. Juli 2004 mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (BGBl I 1838).  

c) Indes begegnet die Feststellung der Gefährlichkeit des Verurteilten – selbst eingedenk des nur eingeschränktenrevisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabs (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 40, 41) – durchgreifenden Bedenken. Die äußerst belastende Maßregel der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ist nur in außergewöhnlichen, seltenen Ausnahmefällen gegen verurteilte Straftäter berechtigt, bei denen aufgrund ihres bisherigen Werdegangs ein „hohes Maß an Gewissheit“ über die Gefahr besteht, dass sie besonders schwere Straftaten begehen werden (vgl. BVerfGE 109, 190, 236; BVerfG – Kammer – StraFo 2008,516 m.w.N.; BGHSt 50, 121, 125; 50, 373, 378; vgl. auch Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, BT-Drucks. 15/2887, S. 10). Eine hohe Wahrscheinlichkeit kann nicht bereits dann angenommen werden, wenn (nur) überwiegende Umstände auf eine künftige Delinquenz des Verurteilten hindeuten (BVerfGK 9, 108, 118; – Kammer – StraFo 2008, 516). Es bedarf vielmehr unter Ausschöpfung der Prognosemöglichkeiten einer positiven Entscheidung über die Gefährlichkeit des Verurteilten.  Hinzu kommt, dass die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nur auf § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB gestützt werden kann. Im Hinblick darauf, dass diese Vorschrift die rechtskräftige Anlassverurteilung jedenfalls tangiert (BVerfG – Kammer – StraFo 2008, 516; BGH NStZ-RR 2008, 39) und ein Vertrauenstatbestand für den Ausschluss der Sicherungsverwahrung für die der Verurteilung zugrunde liegenden Taten geschaffen worden war, ist die Anwendung dieser Vorschrift auf Extremfälle, das heißt Verurteilte mit höchstem Gefährdungspotenzial zu begrenzen (BVerfG aaO; vgl. auch BGHSt 52, 205, 212). Den damit verbundenen hohen Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose werden die Darlegungen des Landgerichts nicht gerecht.

aa) So stützt das Landgericht seinen Schluss, es seien von dem Verurteilten aufgrund seines Hangs mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Sexualstraftaten zu erwarten, im Wesentlichen auf die Darlegungen der beiden gehörten Sachverständigen. Diesen kann allerdings keine ausreichende positive Bewertung zukünftiger höchster Gefährlichkeit des Verurteilten entnommen werden. Vielmehr sind sie darauf bezogen, keine positive Prognose zukünftigen rechtstreuen Verhaltens begründen zu können. So hat der Sachverständige L.    nach den Urteilsgründen u. a. ausgeführt, er könne keine prognostisch positiven Schlussfolgerungen auf die Ausführungen des Verurteilten gründen, dass er kein sexuelles Interesse mehr habe und zu sexuellen Handlungen aus biologischen Gründen auch nicht mehr in der Lage sei (UA S. 30), und es gebe keine gegen weitere Straftaten sprechende empirische Beurteilungsgrundlage (UA S. 31). Der weitere Sachverständige K.  kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass von einer Nivellierung der Triebimpulse des Verurteilten nicht ausgegangen werden könne (UA S. 29). Hieran anknüpfend stellt das Landgericht fest, dass eine Wandlung der für die Taten bedeutsamen Persönlichkeitseigenschaften nicht festgestellt werden könne. Mit diesen allein an der fehlenden Feststellbarkeit einer günstigen Kriminalprognose orientierten Erwägungen ist die erforderliche positive Entscheidung über eine vom Verurteilten ausgehende gegenwärtige erhebliche Gefahr schwerster Straftaten nicht nachvollziehbar belegt. 

bb) Durchgreifenden Bedenken begegnet zudem, dass das Landgericht die vom Verurteilten zu erwartenden Taten nicht hinreichend deutlich konkretisiert hat, so dass für das Revisionsgericht nicht ersichtlich ist, ob es sich insoweit um besonders schwere Straftaten handelt. So hat das Landgericht aus dem gewichtigen Umstand, dass die Potenz des Verurteilten bereits abgenommen habe, Schlüsse auf die Natur der zu erwartenden Taten gezogen. Diese hat es aber unter Verweis auf seine frühere Delinquenz lediglich dahin umschrieben, dass auch in Zukunft solche Taten zu befürchten seien, in denen primäres Ziel des Übergriffs die Unterwerfung des Opfers und nicht das Ausleben einer sexuellen Potenz sei. Angesichts dieser nur vagen Umschreibung der erwarteten Taten ist nicht erkennbar, ob es sich um erhebliche Straftaten handelt, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Der Hinweis auf frühere Delinquenz vermag diese Unbestimmtheit angesichts der großen Bandbreite der begangenen Taten – von Exhibitionismus bis zu Vergewaltigung – nicht zu ersetzen. In solchen Konstellationen ist es erforderlich, spezifisch zur Wahrscheinlichkeit gerade der gesetzlich einzig bedeutsamen schweren Delikte Stellung zu nehmen (BVerfG – Kammer – StraFo 2008, 516). Dies unterlässt das Urteil.   

4. Die Voraussetzungen für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung hat daher ein neues Tatgericht umfassend neu zu prüfen. Es wird die mögliche Verringerung der Gefährlichkeit des Verurteilten durch alters- und krankheitsbedingte Veränderungen erneut in den Blick zu nehmen haben.

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