StPO § 147: Informationsanspruch des Betroffenen, rechtzeitige Geltendmachung, Messunterlagen KG Berlin
Gericht / Entscheidungsdatum: KG Berlin, Beschl. v. 07.01.2021 – 3 Ws (B) 314/20 –
Leitsatz: 1.Es ist höchstrichterlich geklärt, dass der Betroffene als Ausfluss seines Rechts auf ein faires Verfahren zwar Einsicht auch in solche Messunterlagen verlangen kann, die nicht Bestandteil der Verfahrensakten sind, sofern die hinreichend konkret benannten Informationen in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Vorwurf stehen und der Betroffene sie verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.
2. Weiter ist anerkannt, dass dieses Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zusteht.
3. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt allerdings nur dann vor, wenn sich der Betroffene im Bußgeldverfahren rechtzeitig, das heißt ohne schuldhaftes Zögern um die begehrten Unterlagen bemüht hat, seine Anstrengungen aber erfolglos geblieben sind.
4. Stellt der Betroffene einen Antrag auf Herbeischaffung von (Mess-) Unterlagen erstmalig in der Hauptverhandlung, ist dies regelmäßig verspätet. Denn er hätte einen entsprechenden Antrag in aller Regel schon nach Bekanntwerden des ihm zur Last gelegten Vorwurfs im behördlichen Verfahren, jedenfalls aber nach Bekanntgabe des Bußgeldbescheids stellen können.
In der Bußgeldsache
gegen pp.
wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit
hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 7. Januar 2021 beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 24. September 2020 wird nach §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 349 Abs. 2 StPO verworfen.
Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Ergänzend zu der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft, die sich der Senat zu Eigen macht, wird folgendes angemerkt:
1. Soweit der Betroffene vorgetragen hat, die durch das Amtsgericht abgelehnte Einholung von Messunterlagen verletze ihn in seinem Recht auf ein faires Verfahren, ist seine Rechtsbeschwerde jedenfalls unbegründet.
Es ist höchstrichterlich geklärt, dass der Betroffene als Ausfluss seines Rechts auf ein faires Verfahren zwar Einsicht auch in solche Messunterlagen verlangen kann, die nicht Bestandteil der Verfahrensakten sind, sofern die hinreichend konkret benannten Informationen in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Vorwurf stehen und der Betroffene sie verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch OLG Zweibrücken ZfS 2020, 413). Weiter ist anerkannt, dass ihm dieses Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zusteht (vgl. BVerfGE 63, 45 und a.a.O.). Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt allerdings nur dann vor, wenn sich der Betroffene im Bußgeldverfahren rechtzeitig, das heißt ohne schuldhaftes Zögern um die begehrten Unterlagen bemüht hat (vgl. BVerfG a.a.O.), seine Anstrengungen aber erfolglos geblieben sind. Stellt der Betroffene einen Antrag auf Herbeischaffung von (Mess-) Unterlagen erstmalig in der Hauptverhandlung, ist dies regelmäßig verspätet (vgl. BVerfG NJW 1992, 2811; BGH NStZ 1985, 87; BayObLG StraFo 2019, 474; OLG Karlsruhe NZV 2020, 368). Denn er hätte einen entsprechenden Antrag in aller Regel schon nach Bekanntwerden des ihm zur Last gelegten Vorwurfs im behördlichen Verfahren, jedenfalls aber nach Bekanntgabe des Bußgeldbescheids stellen können.
Auf der Grundlage dieses Maßstabs hat der Betroffene seinen Antrag auf Beschaffung der begehrten Messunterlagen nicht rechtzeitig gestellt. Er hat lediglich vorgetragen, derlei in der Hauptverhandlung vom 24. September 2020 - mehr als sechs Monate nach Erlass des Bußgeldbescheides - beantragt zu haben. Weder hat er vorgetragen, dass und welche Bemühungen er mit welchem Ergebnis bereits zuvor unternommen hat, noch hat er Tatsachen mitgeteilt, die einer früheren Antragstellung entgegengestanden haben.
2. Die vom Betroffenen erhobene Aufklärungsrüge entspricht nicht den Darlegungserfordernissen von §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Dazu wäre erforderlich gewesen, aufgrund welcher konkreten Tatsachen sich das Gericht zu der begehrten Beweisaufnahme hätte gedrängt sehen müssen (std. Rspr., vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. November 2019 - 3 Ws (B) 343/19 -, 22. Mai 2019 - 3 Ws (B) 119/19 - und 5. Februar 2019 - 3 Ws (B) 3/19 -; alle m.w.N.), woran es hier jedoch fehlt. Die Rüge ist deshalb bereits unzulässig.
3. Selbst wenn man den Vortrag des Betroffenen, das Amtsgericht habe sich nicht zu der Frage verhalten, ob ein Sachverständigengutachten einzuholen sei, gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 300 StPO als Gehörsrüge auslegt, vermag dies der Rechtsbeschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen, weil der Betroffene in Bezug auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens schon keinen Beweisantrag gestellt hat, den das Amtsgericht hätte förmlich bescheiden müssen. Nach dem Vortrag des Betroffenen ist neben der Einstellung des Verfahrens lediglich die - vom Amtsgericht abgelehnte - Herbeischaffung von Messunterlagen beantragt worden. Weiter heißt es in dem Antragskonvolut: “Gegebenenfalls ist ein Sachverständigengutachten einzuholen”. Selbst unter Berücksichtigung des gesamten Antragsvorbringens hat dieses Vorbringen mangels Mitteilung einer Beweistatsache (vgl. BGHSt 37, 162; Senge in KK-StPO 5. Aufl., § 77 Rd. 14 m.w.N.) noch nicht die Qualität eines Beweisantrags, sondern ist eine bloße Beweisanregung, die das Amtsgericht allein auf der Grundlage des Amtsaufklärungsgrundsatzes nach § 77 Abs. 1 OWiG zu beachten hatte. Dass es der Anregung des Betroffenen nicht nachgegangen ist, begründet keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
4. Die allgemeine Sachrüge deckt ebensowenig einen den Betroffenen beschwerenden Rechtsfehler auf.
Der Schriftsatz des Verteidigers vom 4. Januar 2021 lag dem Senat vor, rechtfertigt aber keine abweichende Entscheidung.