StPO § 225a Übernahme der Berufung durch ein Schwurgericht
StPO § 225 a Übernahme der Berufung durch ein Schwurgericht
BGH, Urt. v, 03.02.2016 – 2 StR 159/15 – NStZ-RR 2016, 220
§ 225a StPO im Berufungsverfahren für entsprechend anwendbar zu halten, ist jedenfalls nicht willkürlich. Zwar ist § 331 StPO auch dann zu beachten, wenn das ursprüngliche Berufungsverfahren durch Übernahme des Verfahrens durch das Gericht höherer Ordnung oder Verweisungsurteil in ein erstinstanzliches Verfahren umgewandelt wurde. Das Verbot gilt aber nur, wenn ausschließlich der Angeklagte Berufung eingelegt hatte; es ist hingegen ohne Bedeutung, wenn auch die Staatsanwaltschaft und/oder der Nebenkläger gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt haben. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der erhandlung vom 3. Februar 2016 für Recht erkannt:
I. 1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20. Oktober 2014 aufgehoben, soweit die im Strafbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16. Juli 2013 – 213 Js 22014/13 917 B-Cs – angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis des Angeklagten, die Einziehung seines Führerscheins und die Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis aufrechterhalten worden sind. Die Aufrechterhaltung der Maßregel entfällt.
II. 2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen, soweit sie sich gegen den Schuldspruch und den Strafausspruch richtet.
3. Die Entscheidung über die Revision des Angeklagten gegen die im vorbezeichneten Urteil getroffene Adhäsionsentscheidung sowie über die Kosten des Rechtsmittels des Angeklagten einschließlich der dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen bleibt einer abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Die Revision des Nebenklägers gegen das vorgenannte Urteil wird verworfen.
Der Nebenkläger hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung und wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus drei Strafbefehlen und Aufrechterhaltung einer früheren Maßregel gemäß §§ 69, 69a StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt, von denen sechs Monate als bereits vollstreckt gelten. Außerdem hat es den Angeklagten verurteilt, an den Nebenkläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 Euro nebst Zinsen, abzüglich bereits gezahlter Beträge, zu zahlen. Darüber hinaus hat es festgestellt, dass der Angeklagte verpflichtet ist, dem Nebenkläger sämtliche ihm aus der Tat vom 19. Juli 2009 künftig noch entstehenden materiellen oder weiteren immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit nicht Ansprüche auf Dritte übergegangen sind. Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen des Nebenklägers und des Angeklagten. Das Rechtsmittel des Angeklagten hat nur den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg. Die Revision des Nebenklägers ist unbegründet.
A. I. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgendes festgestellt:
1. Der Angeklagte lernte im April 2005 Frau P. -C. kennen. Beide gingen eine Beziehung ein, die bis Ende 2008 andauerte und durch häufige Streitigkeiten, wechselseitige Eifersucht und gewalttätige Übergriffe des Angeklagten geprägt war. Kurz vor Beendigung der Beziehung kam es am Abend des 5. Dezember 2008 zu einer verbalen Auseinandersetzung in der gemeinsamen Wohnung. Der Angeklagte wollte Geschlechtsverkehr, den die Zeugin P. -C. ablehnte. Sie erklärte, für
sie sei die Beziehung beendet. Der Angeklagte schlug ihr daraufhin aus Zorn mit der Hand auf das rechte Ohr. Dies führte zu einem Riss des Trommelfells (Fall II.1. der Urteilsgründe).
2. Am Abend des 18. Juli 2009 besuchte der Angeklagte zusammen mit seinem Cousin A. und einem Bekannten, dem Zeugen Z. , mehrere Gaststätten. Er trank dort jeweils eine unbekannte Menge Whisky mit Cola. In den frühen Morgenstunden des 19. Juli 2009 fuhr ihn sein Bekannter Z. nach Hause. Der Angeklagte ließ sich in der Nähe der Wohnung der Zeugin P. -C. absetzen, die sich inzwischen von ihm getrennt hatte. Gegen 7.00 Uhr ging er zu deren Wohnung, um sie wegen seiner Vermutung, sie habe einen neuen Freund, zur Rede zu stellen. Er gelangte ins Treppenhaus und klopfte lautstark gegen die Wohnungstür, rief nach ihr und verlangte mit ihr zu sprechen. Frau P. -C. hatte mit C. die Nacht im Wohnzimmer verbracht. Sie wollte den Angeklagten im Treppenhaus hinhalten, während der Nebenkläger die Polizei rufen sollte. Daher verließ sie die Wohnung und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Sie traf den Angeklagten im Hausflur an. Dieser hielt ihr vor, dass sie einen neuen Freund habe. Als der Angeklagte die Stimme des Nebenklägers durch die Wohnungstür hörte, geriet er in Wut. Er wollte diesem eine Abreibung verpassen und sich dadurch zugleich an der Zeugin P. -C. rächen. Deshalb brach er die Wohnungstür auf, nahm ein an die Wand gelehntes Bügelbrettgestänge und schlug es dem Nebenkläger mindestens zweimal wuchtig auf den Kopf. Dabei nahm er zwar nicht den Tod des Nebenklägers in Kauf, er handelte aber „in der Absicht, dem neuen Freund seiner früheren Lebensgefährtin erhebliche Verletzungen beizubringen, wobei er es für möglich hielt, dass der Nebenkläger durch die Schläge schwere Kopfverletzungen mit unter Umständen längerfristigen schwerwiegenden Folgen für die geistig-körperliche Gesundheit seines Opfers erleiden würde.“
Durch die Schläge wurde der Nebenkläger sofort bewusstlos. Das Bügelbrettgestänge zerfiel in seine Einzelteile. Anschließend ließ der Angeklagte seine Wut
weiter an der Wohnungseinrichtung aus. Der Nebenkläger erlitt eine offene Schädel-Hirn-Verletzung mit Impressionsfraktur der Kalotte. Es kam zu Einblutungen in die Hirnoberfläche. Infolge dieser Verletzung leidet der Nebenkläger seit der Tat dauerhaft unter Epilepsie mit wiederkehrenden Krampfanfällen. Er ist zu 80 %
schwerbehindert und hat nach Verlust seines Arbeitsplatzes kaum noch Aussichten, eine Arbeitsstelle zu finden (Fall II.2. der Urteilsgründe). […]
B. Ein Verfahrenshindernis liegt nicht vor. Das Landgericht hat seine sachliche Zuständigkeit zu Recht angenommen.
I. Insoweit ist folgendes Prozessgeschehen zu erörtern:
Die Staatsanwaltschaft hatte am 5. Oktober 2009 Anklage zum Strafrichter bei dem Amtsgericht Frankfurt am Main wegen vorsätzlicher Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung erhoben. Der Strafrichter hat das Hauptverfahren am 29. Januar 2010 eröffnet. In der Hauptverhandlung vom 25. Februar 2010 verwies er die Sache gemäß § 270 Abs. 1 StPO an das Schöffengericht. Dies sei erforderlich, weil sich nach der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung
ergeben habe, dass der Angeklagte hinreichend verdächtig sei, eine schwere Körperverletzung begangen zu haben.
Das Schöffengericht verurteilte den Angeklagten durch Urteil vom 17. August 2011 wegen vorsätzlicher Körperverletzung und schwerer Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und erließ – nach einem Teilanerkenntnis – ein Feststellungsurteil im Adhäsionsverfahren.
Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte Berufung ein, die er später auf den Strafausspruch beschränkte. Auch der Nebenkläger legte Berufung ein, ohne zunächst einen Antrag zu stellen und die Zielrichtung seines Rechtsmittels zu begründen. Ihm wurde das Urteil des Schöffengerichts versehentlich nicht zugestellt. Unter dem 27. März 2012 beantragte er, die Sache wegen Verdachts des tateinheitlich versuchten Totschlags an die Schwurgerichtskammer beim Landgericht zu verweisen.
Durch Beschluss vom 26. April 2012 sprach der Vorsitzende der Berufungskammer aus, es bestehe der hinreichende Tatverdacht, dass der Angeklagte versucht habe, einen Menschen zu töten. Daher halte er gemäß „§ 270 Abs. 1 StPO“ die Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung für gegeben. Gegen diesen Beschluss legte der Angeklagte Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht verwarf die Beschwerde am 18. Juni 2012 als unstatthaft und führte aus, der Sache nach handele es sich um eine Vorlage entsprechend § 225a Abs. 1 Satz 1 StPO. Diese sei nicht mit der Beschwerde anfechtbar.
Die Schwurgerichtskammer des Landgerichts übernahm durch Beschluss vom 8. Oktober 2012 das Verfahren, formulierte den Anklagesatz zu Fall II.2. dahin neu, dass bezüglich der Tat vom 19. Juli 2009 versuchter Totschlag in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung und mit gefährlicher Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung in Betracht komme und eröffnete das Hauptverfahren.
II. Aus diesem Prozessgeschehen ergibt sich kein Verfahrenshindernis.
Die Beschwerdeführer haben insoweit keine Verfahrensrüge erhoben. Die umstrittene Frage, ob eine solche erforderlich ist, kann aber offenbleiben, weil auch im Fall einer Überprüfung von Amts wegen kein Verfahrenshindernis festzustellen ist. Gemäß § 6 StPO ist die sachliche Zuständigkeit des zur Urteilsfindung berufenen Strafgerichts von Amts wegen zu prüfen. Nach § 269 StPO bleibt es aber im Hauptverfahren bei der Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung, nachdem die Sache dort rechtshängig geworden ist. Die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung schließt nämlich diejenige eines Gerichts niederer Ordnung ein. Eine Ausnahme hiervon nimmt die Rechtsprechung nur dann an, wenn eine die Rechtshängigkeit begründende Gerichtsentscheidung objektiv willkürlich ergangen ist und
dadurch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt wurde (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 1997 – 1 StR 701/96, BGHSt 43, 53, 55 f.).
Streitig ist die Frage, ob ein solcher Ausnahmefall, der zur Unanwendbarkeit von § 269 StPO führt, gemäß § 6 StPO vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen ist (so BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1991 – 4 StR 506/91, BGHSt 38, 172, 176; Urteil vom 27. Februar 1992 – 4 StR 23/92, BGHSt 38, 212; Beschluss vom 21. April 1994 – 4 StR 136/94, BGHSt 40, 120, 122 ff.), oder ob eine solche Überprüfung nur aufgrund einer Verfahrensrüge erfolgt (so BGH, Beschluss
vom 30. Juli 1996 – 5 StR 288/95, BGHSt 42, 205, 212 ff.; Urteil vom 22. April 1997 – 1 StR 701/96, BGHSt 43, 53, 56).
Der Senat kann offen lassen, welcher Auffassung zu folgen ist, weil hier objektive Willkür offensichtlich nicht vorliegt:
1. Objektiv fiel die Aburteilung des angeklagten Lebenssachverhalts in die Zuständigkeit der Schwurgerichtskammer, da hier ein hinreichender Tatverdacht für ein tateinheitlich begangenes versuchtes Tötungsdelikt gegeben war. So hatte der Angeklagte nach der Tat den Bruder der Zeugin P. - C. aufgefordert nachzusehen, „ob der Typ tot sei“. Außerdem hatte der Angeklagte geäußert, dass er sich der Polizei stellen werde, wenn der Geschädigte die Tatfolgen überleben würde. Daraus könnte rückblickend darauf geschlossen werden, dass der Angeklagte auch bei der Begehung der Tat mit tödlichen Folgen seiner Handlung gerechnet hatte. Hinzu kommt, dass die wuchtigen Schläge des Angeklagten mit dem Gestänge auf den Kopf des Geschädigten äußerst gefährliche Gewalthandlungen waren. Dies ist nach der Rechtsprechung ein Indiz dafür, dass der Täter die Möglichkeit der Tötung des Opfers auch ernsthaft in Betracht gezogen und billigend in Kauf genommen hat (BeckOK-StGB/Eschelbach, StGB, 30. Ed., § 212 Rn. 21; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 212 Rn. 8 jew. mwN).
2. Ob die Übernahme des Verfahrens durch das Landgericht auf Vorlage des Vorsitzenden der Berufungskammer eine Rechtsgrundlage in § 225 Abs. 1 StPO findet, kann ebenfalls dahinstehen. § 225a StPO gestattet es den Gerichten im Stadium der Hauptverhandlung eine Änderung der sachlichen Zuständigkeit herbeizuführen. § 323 Abs. 1 StPO verweist für die Vorbereitung der Berufungshauptverhandlung jedoch nur auf die §§ 214 und 216 bis 225 StPO, hingegen nicht auf § 225a StPO. Für den Fall, dass das Gericht des ersten Rechtszuges mit Unrecht seine Zuständigkeit angenommen hat, sieht § 328 Abs. 2 StPO vor, dass das Berufungsgericht unter Aufhebung des Urteils die Sache an das zuständige Gericht verweist. Daraus wird in der Literatur zum Teil gefolgert, dass eine entsprechende Anwendung des § 225a StPO im Berufungsverfahren ausscheide (so BeckOK- StPO/Eschelbach, StPO, 24. Ed., § 328 Rn. 1; LR/Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., § 225a Rn. 6; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 226a Rn. 2). Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.Dezember 2002 –1StR
306/02, BGHR StPO §225a Anwendungsbereich 1) und nach der herrschenden Ansicht in der Literatur (vgl. Britz in Radtke/ Hohmann, StPO 2011, § 225a Rn. 1; SK/Deiters/Albrecht, StPO, 5. Aufl., §225a Rn.3; KK/Gmel, StPO, 7.Aufl., §225a Rn.4; SSW/Grube, StPO, 2. Aufl., § 225a Rn. 4; Hegmann NStZ 2000, 574, 575; LR/Jäger, StPO, 26. Aufl., § 225a Rn. 6) ist § 225a StPO im Berufungsverfahren entsprechend anwendbar. Dass der Gesetzgeber diese Vorschrift in § 323
Abs. 1 StPO nicht erwähnt hat, sei ein Redaktionsversehen. Für die entsprechende Anwendung des § 225a StPO im Stadium der Vorbereitung der Berufungshauptverhandlung spreche das Interesse an einem beschleunigten und prozesswirtschaftlichen Verfahren. Soweit das Landgericht der Sache nach entsprechend § 225a StPO verfahren ist, hat es sich an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs orientiert. Dies ist offensichtlich nicht willkürlich.
3. Unschädlich ist, dass die Schwurgerichtskammer auch die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen hat. Ein solcher Eröffnungsbeschluss ist im Verfahren entsprechend §225a StPO entbehrlich, weil die Eröffnung des Hauptverfahrens bereits durch das Amtsgericht beschlossen worden ist (LR/Jäger, StPO, § 225a Rn. 21). Der gleichwohl ergangene Eröffnungsbeschluss des Landgerichts führt nicht zu einer doppelten Rechtshängigkeit der Sache. […]