StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit wegen Fragen nach der Straferwartung des Angeklagten
StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit wegen Fragen nach der Straferwartung des Angeklagten
BGH, Beschl. v. 28.05.2015 – 2 StR 526/14 – NStZ 2016, 217
Bemüht sich ein Richter im Vorfeld der Hauptverhandlung durch Befragung eines Zeugen in Abwesenheit des Angeklagten darum, dessen Strafvorstellungen in Erfahrung zu bringen, kann dieses Vorgehen Misstrauen in die Unvoreingenommenheit des Richters rechtfertigen. Es lässt besorgen, dass rechtlich Irrelevantes sachwidrig im Zusammenhang mit Feststellungen zur Schuld und der Strafbemessung Bedeutung erlangen kann.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 28. Mai 2015 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 23. Mai 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in drei Fällen, sexueller Nötigung in zwei Fällen sowie wegen exhibitionistischer Handlungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
Der Beschwerdeführer macht zu Recht geltend, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO gegeben ist.
I. Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 7. April 2014 kam es auf Initiative des Vorsitzenden Richters K. zu einem Telefongespräch mit dem Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Sc. Darin teilte der Vorsitzende mit, ein Beschuldigter aus einem anderen Verfahren, der Umschluss mit dem Angeklagten gehabt habe, habe ihm gegenüber Angaben zu dem Angeklagten gemacht. Dieser Beschuldigte mit Namen R. habe berichtet, der Angeklagte habe ihm während des Umschlusses erzählt, er sei wegen Raubes
und Körperverletzung angeklagt und rechne mit fünf bis sieben Jahren Strafe; er werde das nur zugeben, weil er ohnehin wegen DNA-Spuren überführt werden könne. Er, der Vorsitzende, habe ihn reden lassen und dann noch ein oder zwei Fragen gestellt. Der Vorsitzende gab weiter an, über das Geschehen aus Gründen der Transparenz zu informieren.
Am 8. April 2014 suchte der Verteidiger den Angeklagten in der Justizvollzugsanstalt auf und berichtete von dem Telefongespräch. Der Angeklagte seinerseits teilte dem Verteidiger mit, R. habe ihm von der Befragung durch den Vorsitzenden Richter erzählt. Einen Tag später telefonierte der weitere Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt S., mit dem Vorsitzenden Richter K. Darin bestätigte dieser, Angaben des Beschuldigten R. zum Strafverfahren des Angeklagten entgegengenommen und auch Fragen gestellt zu haben. Er halte dies für zulässig.
Am 9. April 2014 besuchte Rechtsanwalt Sc. erneut den Angeklagten in der Justizvollzugsanstalt. Dieser teilte mit, erneut mit R. gesprochen zu haben. Dieser habe ihm gegenüber angegeben, in der Verhandlungspause von einem Vorführbeamten angesprochen, sodann in das Büro des Vorsitzenden geführt und dort als Zeuge in der Sache des Angeklagten vernommen worden zu sein. Eine Staatsanwältin sei auch zugegen gewesen. Der Angeklagte übergab am Ende ein Schreiben von R., in dem dieser bestätigte, dass der Vorsitzende K. mit ihm habe reden wollen, er aber nichts gesagt habe. Am 9. April 2014 stellte der Angeklagte per Telefax den Antrag, den Vorsitzenden Richter am Landgericht K. wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Dies stützte er im Wesentlichen
auf den geschilderten Geschehensablauf. Darüber hinaus wurde gestützt auf Angaben des Gefangenen R. geltend gemacht, dieser sei von dem Vorsitzenden Richter befragt worden, ob der Angeklagte glaubwürdig sei oder lüge. Als er geantwortet habe, das wisse er nicht, habe der Vorsitzende weiter gefragt, ob er etwas über DNA wisse. Weiter sei gefragt worden, ob er wisse, warum der Angeklagte seinen Anwalt gewechselt habe. Der Angeklagte gab hierzu an, niemals mit dem mitinhaftierten R. über DNA-Spuren oder seinen Anwaltswechsel gesprochen zu haben. Die Besorgnis der Befangenheit stützte der Angeklagte auf den Umstand, dass der Vorsitzende den Zeugen R. unter evidenter Verletzung seines und des Anwesenheitsrechts des Verteidigers bei der Vernehmung eines Zeugen vernommen habe. Am Morgen des 10. April 2014 vor Beginn der Hauptverhandlung übergab der Angeklagte seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Sc., ein weiteres Schreiben des R. vom 9. April 2014, in dem dieser angab, dass der Vorsitzende Richter ihn am 4. April 2014 unter anderem befragt habe, ob er etwas über die Taten und über Kinder wisse, ob er glaube, dass der Angeklagte selbstmordgefährdet sei, ob er Kenntnis vom Anwaltswechsel habe, ob er etwas von anderen Fällen und von der Strafvorstellung des Angeklagten habe und ob er das Gefühl habe, dass der Angeklagte nicht die Wahrheit sage. Bei dieser Befragung seien Frau Staatsanwältin N. sowie die Rechtsanwältinnen M. und Bi. anwesend gewesen. Zu Beginn der Hauptverhandlung am 10. April 2014 verlas der Vorsitzende Richter K. einen von ihm verfassten Vermerk, in dem er den folgenden Sachverhalt einräumte: Der Angeklagte R. habe am 4. April 2014 in einer vor der Kammer geführten Hauptverhandlung von sich aus spontan geäußert, er mache mit einem Mitgefangenen Umschluss, der in der kommenden Woche vor der Kammer Termin habe. Auf Befragen zu seiner aktuellen Haftsituation, zu seinem Umschlussverhalten und seiner eigenen „Legende“ gegenüber Mitgefangenen habe der Angeklagte R. Angaben, teilweise auch auf seine Nachfragen, gemacht. Danach habe der Angeklagte ihm erzählt, er befinde sich wegen eines Raubüberfalls in Untersuchungshaft, er habe eine Frau überfallen, dabei seien wohl Spuren gesichert worden. Soweit Spuren da seien, werde er die Tatvorwürfe auch einräumen, ansonsten wolle er sich nicht äußern. Er habe Sorge, nach der Entlassung wieder Arbeit zu finden, er rechne mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis sieben Jahren. R. habe zudem mitgeteilt, er halte den Angeklagten nicht für selbstmordgefährdet. Diesen Sachverhalt habe er, der
Vorsitzende, am 7. April 2014 Herrn Rechtsanwalt Sc. aus Gründen der Transparenz mitgeteilt, den Angaben des R. werde keine Bedeutung für das Verfahren gegen den Angeklagten beigemessen. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung wurde das Schreiben des Mithäftlings R. vom 9. April 2014 verlesen und zum Gegenstand des Befangenheitsantrags gemacht.
Der Vorsitzende Richter K. nahm in seiner dienstlichen Erklärung vom 10. April 2014 Bezug auf seinen Vermerk vom 9. April 2014 und teilte ergänzend mit, „dass im Rahmen der Erörterung der Haftsituation und des Umschlussverhaltens, in dessen Verlauf Herr R. von sich aus den Angeklagten ansprach, neben der Frage nach der Befindlichkeit des Angeklagten R. und des Herrn B. und zu einer Suizidalität in Bezug auf Herrn B. vom Unterzeichner auch gefragt wurde, ob dieser sich über seine Familie, etwa eine Tochter, einen Wechsel des Anwalts und über seine Strafvorstellung geäußert habe“. R. habe diese Fragen beantwortet und dabei unter anderem bekundet, der Angeklagte rechne damit, nach fünf bis sieben Jahren entlassen zu werden. Die weitergehenden Äußerungen des Mithäftlings R. seien unzutreffend.
Staatsanwältin N. bestätigte in ihrer dienstlichen Erklärung den Verlauf der Hauptverhandlung vom 4. April 2014 und nahm insbesondere auch im Hinblick auf die Fragen des Vorsitzenden Richters an den Mithäftling R. auf dessen dienstliche Stellungnahme Bezug. In seiner Stellungnahme zu den vorgelegten dienstlichen Erklärungen stützte der Angeklagte das Ablehnungsgesuch nicht mehr nur auf die evidente Verletzung von Anwesenheitsrechten bei einer
Zeugenvernehmung außerhalb der Hauptverhandlung, sondern ausdrücklich auch auf die Frage nach seinen Strafmaßvorstellungen an den Mithäftling R. Dies impliziere, dass der Vorsitzende von der Schuld des Angeklagten bereits vor Beginn der Hauptverhandlung überzeugt sei.
Mit Beschluss vom 16. April 2014 wies die Strafkammer das Ablehnungsgesuch als unbegründet zurück. Der sich aus der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden Richters ergebende Sachverhalt sei nicht geeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu begründen. Soweit der Angeklagte befürchte, der Vorsitzende habe die Befragung des Zeugen R. deshalb vorgenommen, um diesen ungestört und unter Verletzung seines prozessualen Rechts auf kontradiktorische Befragung eines potentiellen Belastungszeugen zu befragen, sei dies bei verständiger Würdigung der Gesamtumstände nicht zu begründen. So habe sich der damalige Mithäftling von sich aus geäußert. Auch seien das Umschlussverhalten des R.
und somit auch die Person des Angeklagten B. durchaus von Interesse für das damalige Verfahren gewesen. Soweit der abgelehnte Richter aus der Situation heraus auch aktiv Fragen in Bezug auf den Angeklagten B. gestellt habe, sei auch dies nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, weil er an dem unmittelbar auf die Hauptverhandlung vom 4. April 2014 folgenden Werktag den Verteidiger des Angeklagten über den Sachverhalt aus Gründen der Transparenz informiert habe. Soweit der Angeklagte schließlich aus der Frage des abgelehnten Richters an den Mithäftling R. zu seinen Strafvorstellungen folgere, der abgelehnte Richter sei von der Schuld des Angeklagten bereits überzeugt, sei dieser Schluss nicht zu ziehen. Unabhängig davon, dass die Frage augenscheinlich an die Äußerung des R., der Angeklagte habe ihm gegenüber angegeben, soweit Spuren vorhanden seien, würde er die Tatvorwürfe einräumen, angeknüpft habe, impliziere die Frage nach den Strafvorstellungen des abgelehnten Richters nicht, dass nach seiner Vorstellung zwingend eine Strafe verhängt werde.
II. Die Strafkammer hat das Ablehnungsgesuch zu Unrecht verworfen. Das Verhalten des Vorsitzenden Richters in der gegen den Mithäftling des Angeklagten gerichteten Hauptverhandlung, wie es sich aus seiner dienstlichen Erklärung ergibt, ist geeignet, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu begründen (§ 24 Abs. 2 StPO).
1. Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters ist gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der oder die abgelehnten Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnehmen, die ihre Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (BGHSt 24, 336, 338; 48, 4, 8; st. Rspr.). Davon ist hier aus der Sicht eines vernünftigen Angeklagten auszugehen. Der Vorsitzende Richter hat nicht nur Erklärungen des Mithäftlings R., die dieser zu dem Angeklagten B. und den ihm vorgeworfenen Taten abgegeben hat, entgegengenommen. Er hat zudem selbst Fragen an diesen gerichtet, unter anderem jedenfalls dazu, ob der Angeklagte sich über seine Familie, etwa eine Tochter, einen Wechsel des Anwalts oder über seine Strafvorstellungen geäußert habe. Damit hat er zu erkennen gegeben, dass er nicht mehr unvoreingenommen und unparteilich an die Sache des Angeklagten herangegangen ist. Dies ergibt sich freilich noch nicht aus dem Umstand, dass er Erklärungen des damaligen Angeklagten R. entgegengenommen hat, die den Angeklagten betrafen. Daraus lässt sich insbesondere dann, wenn solche Angaben auch für das damalige Verfahren des Mithäftlings R. von Bedeutung waren keine Voreingenommenheit des vernehmenden Richters ableiten. Auch der Umstand, dass es insoweit zu (einzelnen) Nachfragen durch den Vorsitzenden gekommen ist, kann noch nicht ohne Weiteres die Besorgnis der Befangenheit begründen. Denn auch dies kann der nicht im Einzelnen rekonstruierbaren Vernehmungssituation geschuldet und damit vom Fragerecht des Vorsitzenden in der damaligen Hauptverhandlung gedeckt sein, in der sich weitere Fragen, beispielsweise zum Hintergrund der von dem Mithäftling R. abgegebenen Erklärungen, etwa im
Zusammenhang mit der Einschätzung der möglichen Suizidalität des Angeklagten B., aufdrängten, ohne dass damit prozessuale Rechte des Angeklagten in grober Weise verletzt worden wären. Nicht mehr von einem möglichen Fragerecht des Vorsitzenden Richters im Verfahren gegen den Mithäftling R. gedeckt war aber die Frage nach den Strafmaßvorstellungen des Angeklagten, die für das Verfahren gegen den Mithäftling offenkundig keine Bedeutung haben konnten. Sie war erkennbar geleitet von einem Interesse des Vorsitzenden Richters an einer anderen, in seine Zuständigkeit fallenden Strafsache, hier am Verfahren gegen den Angeklagten, und zielte darauf ab, vor Beginn der Hauptverhandlung zu erfahren, wie der Angeklagte die Erfolgsaussichten seines Strafverfahrens einschätze. Das Wissen darüber steht einem Gericht bei seiner Urteilsfindung regelmäßig frühestens mit dem Plädoyer der Verteidigung zur Verfügung; eine dahingehende Frage an den Angeklagten im Verlauf einer Hauptverhandlung wäre nicht nur praktisch ungewöhnlich, sondern würde auch rechtlichen Bedenken begegnen. Denn die Vorstellung des Angeklagten über das Maß der Strafe ist in einem auf Wahrheitsermittlung ausgerichteten Strafverfahren, an dessen Ende eine schuldangemessene Strafe zu stehen hat, ohne Bedeutung. Stellt ein Richter gleichwohl eine darauf gerichtete Frage, ist nicht auszuschließen, dass die hierdurch gewonnene Kenntnis sachwidrig im Zusammenhang mit der Feststellung von Schuld und der Bemessung von Strafen Bedeutung erlangen kann. Geschieht dies wie im zugrunde liegenden Fall zudem außerhalb der Hauptverhandlung und in Abwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers durch Vernehmung einer anderen Auskunftsperson, lässt dies besorgen, dass der eine solche Frage stellende Richter dem Angeklagten nicht mehr unparteilich und unvoreingenommen gegenüber steht. Hinzu kommt, dass die Frage nach den Strafvorstellungen des Angeklagten zwar nicht wie das Landgericht zutreffend ausführt impliziert, dass nach der Vorstellung des fragenden Richters „zwingend“ eine Strafe verhängt werde. Ihr ist aber die Vorstellung des Richters zu entnehmen, der Angeklagte mache sich über ein Strafmaß Gedanken, was (auch aus Sicht des Richters) voraussetzt, dass der Angeklagte Straftaten begangen hat oder jedenfalls davon ausgeht, dass er schuldig gesprochen werde. Die Frage lässt insoweit besorgen, der Vorsitzende Richter habe sich von der Schuld des Angeklagten bereits überzeugt oder jedenfalls im „Vorfeld“ überzeugen wollen.
2. Der Umstand, dass der abgelehnte Richter die Vorgänge aus der Hauptverhandlung gegen den Mithäftling R. am darauf folgenden Werktag dem Verteidiger des Angeklagten „aus Gründen der Transparenz“ mitgeteilt hat, lässt die Besorgnis der Befangenheit nicht entfallen. Dies käme nur in Betracht, wenn gerade durch diese Erklärung der Eindruck einer möglichen Befangenheit beseitigt würde (vgl. BGHR StPO § 338 Nr. 3 Revisibilität 1). Dies ist hier aber nicht der Fall. Der abgelehnte Richter hat mit seinem Vorgehen (und ausdrücklich auch in seinem Telefonat mit Rechtsanwalt S.) zu erkennen gegeben, dass er sein Verhalten, das er lediglich aus Gründen der Transparenz offenbarte, unzutreffender Weise für zulässig erachtete. Er hat damit auch wenn er bekundete, den gewonnenen Erkenntnissen werde keine Bedeutung für das Verfahren beigemessen die sich aus seinem prozessualen Verhalten ergebenden Gründe für die Annahme der Besorgnis der Befangenheit nicht ausgeräumt.
III. Die mangelhafte Zurückweisung des Befangenheitsgesuchs des Angeklagten führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung (§ 338 Nr. 3 StPO).