StPO § 24 Rechtzeitiges Anbringen eines Befangenheitsgesuchs

BGH, Urt. v. 21.07.2020 – 5 StR 236/20

Gemäß § 25 Abs. 2 Nr. 2 StPO sind während laufender Hauptverhandlung eintretende Befangenheitsgründe unverzüglich geltend zu machen. Dies bedeutet nicht „sofort“, sondern „ohne schuldhaftes Zögern“. Trotz des dabei anzulegenden strengen Maßstabes ist dem ablehnungsbefugten Angeklagten Zeit zur Überlegung, zur Besprechung mit seinem Verteidiger und zur Abfassung des Gesuchs einzuräumen. Welche Zeitspanne dafür zuzubilligen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Diese Frist ist dem Angeklagten von Gesetzes wegen eingeräumt; eines diesbezüglichen Antrags bedarf es nicht.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Juli 2020 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. März 2020 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.

Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen eines sexuellen Übergriffs, einer sexuellen Belästigung und einer Beleidigung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Angeklagten führt mit einer Verfahrensrüge zur Aufhebung des Urteils.

1. Zwar ist die Rüge, die Zeit für das Plädoyer des Verteidigers sei vom Vorsitzenden zu kurz bemessen gewesen, präkludiert. Denn der Angeklagte hat es versäumt, gegen diese Ermessensentscheidung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO das Gericht anzurufen (vgl. auch BGH, Urteil vom 13. Oktober 1992 – 5 StR 476/92, NStZ 1993, 94, 95; allgemein zur Rügepräklusion mangels Anrufung des Gerichts KK-StPO/Schneider, 8. Aufl., § 238 Rn. 28 ff. mwN). Deshalb ist entgegen der Ansicht der Revision die Verteidigung auch nicht im Sinne von § 338 Nr. 8 StPO durch Gerichtsbeschluss in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt unzulässig beschränkt worden.

2. Die Revision rügt aber in zulässiger Weise zu Recht, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO vorliegt. Bei dem angegriffenen Urteil hat ein Richter mitgewirkt, nachdem ein gegen ihn gerichtetes Ablehnungsgesuch unter Verletzung von § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO in unvertretbarer Weise verworfen worden ist.
a) Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:
Die Hauptverhandlung war auf drei Verhandlungstage angesetzt, zu denen alle Verfahrensbeteiligten und die psychiatrische Sachverständige geladen wurden. Bereits Monate vorher hatte die Sachverständige zwei vorbereitende schriftliche Gutachten erstellt (Umfang 23 und 29 Seiten). Am ersten Hauptverhandlungstag wurde der Angeklagte vernommen, anschließend wurden bis in den Nachmittag sechs Zeugen gehört. Für den zweiten Hauptverhandlungstag waren ursprünglich wiederum sechs Zeugen geladen. Wie sich aus einer Mitteilung von diesem Tag ergab, konnte eine für mittags geladene Zeugin den Termin nicht wahrnehmen. Die psychiatrische Sachverständige erstattete zunächst bis 12.55 Uhr ihr Gutachten. Anschließend wurden weitere Zeugen und danach wieder die Sachverständige gehört. Sie wurde um 15.17 Uhr entlassen. Nunmehr verlas der Vorsitzende den Bundeszentralregisterauszug, die Beweisaufnahme wurde geschlossen. Der Vorsitzende teilte mit, dass noch am selben Hauptverhandlungstag plädiert werden solle. Es folgte zwischen Gericht und Verteidigung ein Disput darüber, ob noch an diesem Tag plädiert werden könne und wieviel Zeit für die Vorbereitung des Plädoyers notwendig sei. Gemäß dem Antrag der Staatsanwaltschaft wollte der Vorsitzende eine Unterbrechung von 30 Minuten zur Vorbereitung der Plädoyers gewähren. Damit war der Verteidiger des Angeklagten nicht einverstanden und erhob Gegenvorstellung. Er erklärte, dass er für seine Vorbereitung aufgrund des
Umfangs der Hauptverhandlung und insbesondere des psychiatrischen Gutachtens deutlich mehr Zeit benötige. Anschließend wurde um 15.20 Uhr die Hauptverhandlung für 30 Minuten unterbrochen. Unmittelbar nach Wiedereintritt in die Hauptverhandlung stellte der Verteidiger für den Angeklagten
ein Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden und begründete dies sinngemäß damit, dass der Verteidigung angesichts des Umfangs der Beweisaufnahme und der Bedeutung der Sache mit 30 Minuten ein zu kurzer Zeitraum für die Vorbereitung ihres Plädoyers eingeräumt worden sei. Die Gewährung von mehr Vorbereitungszeit würde nicht zu Verzö- gerungen führen, weil noch ein weiterer Hauptverhandlungstermin anberaumt sei. Zudem habe das Gericht mit dieser Planung gezeigt, dass es an einer Vernehmung der nicht erschienenen Zeugin nicht interessiert sei, obgleich diese für die Feststellung eines bestimmten verfahrensrelevanten Geschehens unverzichtbar sei.
Das Gericht lehnte den Befangenheitsantrag unter Mitwirkung des abgelehnten Vorsitzenden nach § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO mit der Begründung ab, der Ablehnungsantrag sei verspätet. Er sei nicht unverzüglich gestellt oder angekündigt worden, nachdem der Vorsitzende mitgeteilt habe, dass am selben Tag plädiert werden solle. Auch eine Frist zur Beratung mit dem Angeklagten oder zur Überlegung sei nicht eingefordert worden. Stattdessen sei der Befangenheitsantrag erst nach der Unterbrechung der Hauptverhandlung gestellt worden. Anschließend erhielten Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Angeklagter Gelegenheit zu Ausführungen. Das Gericht sprach sodann noch an diesem Hauptverhandlungstag das Urteil, ohne dass der Verteidiger plädiert hatte.
b) Der Beschwerdeführer rügt nach § 338 Nr. 3 StPO zu Recht, dass ein Ablehnungsgesuch gegen den am Urteil mitwirkenden Vorsitzenden Richter mit Unrecht verworfen worden ist.
aa) Die Rüge einer Verletzung von § 338 Nr. 3 StPO ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Der Angeklagte hat nicht nur den Ablehnungsantrag und den darauf folgenden Beschluss der Strafkammer mitgeteilt, sondern aus seinem Vortrag ergibt sich auch, dass der abgelehnte Richter an dem Beschluss nach § 26a Abs. 1 StPO sowie am Urteil mitgewirkt hat (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 – 4 StR 461/08). Die Rüge, sein Ablehnungsgesuch sei im Sinne von § 338 Nr. 3 StPO zu Unrecht als unzulässig verworfen worden, beinhaltet vorliegend auch die Beanstandung, dass das Gericht im falschen Verfahren (§ 26a StPO statt § 27 StPO), mithin durch den abgelehnten Richter (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 – 4 StR 461/08) entschieden hat.
bb) Die Rüge ist begründet.
(1) Ein Ablehnungsgesuch ist auch dann im Sinne von § 338 Nr. 3 StPO „mit Unrecht verworfen“, wenn die unter Mitwirkung des abgelehnten Richters beschlossene Verwerfung gemäß § 26a StPO als unzulässig auf einer willkürlichen oder die Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennenden Rechtsanwendung beruht; auf die sachliche Berechtigung der Ablehnungsgründe kommt es in diesem Fall nicht an (grundlegend BGH, Beschluss vom 10. August 2005 – 5 StR 180/05, BGHSt 50, 216 im Anschluss an BVerfG, NJW 2005, 3410 unter Aufgabe früherer Rechtsprechung). Ist ein Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung des abgelehnten Richters (§ 26a Abs. 2 Satz 1 StPO) als unzulässig verworfen worden, darf das Revisionsgericht sich demnach nicht darauf beschränken, die Begründetheit des Ablehnungsgesuchs nach Beschwerdegrundsätzen (§ 28 Abs. 2 StPO) zu prüfen; vielmehr muss das Revisionsgericht zunächst darüber entscheiden, ob die Grenzen der Vorschrift des § 26a StPO, die den gesetzlichen Richter gewährleistet, eingehalten wurden (vgl. BGH, aaO, S. 219, und BVerfG aaO). Jedenfalls bei einer willkürlichen oder die Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erheblich missachtenden Überschreitung des durch § 26a StPO abgesteckten Rahmens hat das Revisionsgericht – eine ordnungsgemäße Rüge des Verfahrensfehlers gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 vorausgesetzt – das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Tatgericht zurückzuverweisen (vgl. BGH und BVerfG aaO). Willkür in diesem Sinne liegt vor, wenn die Entscheidung des Gerichts auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts beruht und daher in der Sache offensichtlich unhaltbar ist. Ebenso zu behandeln ist der Fall, dass das Gericht bei der Rechtsanwendung Bedeutung und Tragweite des von der Verfassung garantierten Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) grundlegend verkennt. Ob ein solcher Fall vorliegt, kann nur anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (BGH, aaO, S. 219 f.). Dieser Maßstab gilt nicht nur für die Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO, sondern auch für die Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs als unzulässig wegen Verspätung nach § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO (BGH, Beschluss vom 27. August 2008 – 2 StR 261/08, NStZ 2009, 223) und Verschleppungsabsicht nach § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2019 – 5 StR 143/18, NStZ-RR 2019, 120, sowie bereits BGH, Beschluss vom 10. August 2005 – 5 StR 180/05, aaO).
(2) Die Ablehnung des Befangenheitsantrags des Angeklagten als verspätet im Sinne von § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO war in diesem Sinne willkürlich. Gemäß § 25 Abs. 2 Nr. 2 StPO sind während laufender Hauptverhandlung eintretende Befangenheitsgründe unverzüglich geltend zu machen. Dies bedeutet nicht „sofort“, sondern „ohne schuldhaftes Zögern“ (BGH, Beschluss vom 6. März 2018 – 3 StR 559/17, NStZ 2018, 610 mwN). Trotz des dabei anzulegenden strengen Maßstabes (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. April 2006 – 3 StR 429/05, NStZ 2006, 644; vom 6. Mai 2014 – 5 StR 99/14, NStZ 2015, 175; Urteil vom 10.
November 2015 – 5 StR 303/15) ist dem ablehnungsbefugten Angeklagten Zeit zur Überlegung, zur Besprechung mit seinem Verteidiger und zur Abfassung des Gesuchs einzuräumen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 29. März 2012 – 3 StR 455/11, NStZ-RR 2012, 211; Beschlüsse vom 6. Mai 2014 – 5 StR 99/14, aaO; vom 8. Juni 2016 – 5 StR 48/16; vom 6. März 2018 – 3 StR 559/17, aaO, S. 611). Welche Zeitspanne dafür zuzubilligen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BGH, Beschluss vom 6. März 2018 – 3 StR 559/17, aaO mwN). Diese Frist ist dem Angeklagten von Gesetzes wegen eingeräumt; eines diesbezüglichen Antrags bedarf es nicht. Diese Maßstäbe hat die Strafkammer bei ihrer Entscheidung verfehlt. Der Verteidiger des Angeklagten war erst unmittelbar vor der Unterbrechung der Hauptverhandlung mit seiner Gegenvorstellung erfolglos geblieben. Dies war für den Angeklagten der wesentliche Grund für den Befangenheitsantrag. Die 30-minütige Unterbrechungspause durfte der Angeklagte zur Überlegung, Besprechung mit seinem Verteidiger und Formulierung des Antrags nutzen. Das Befangenheitsgesuch wurde unmittelbar nach Wiedereintritt in die Hauptverhandlung und demnach offensichtlich unverzüglich angebracht.
Im vorliegenden Fall war die Auslegung des gesetzlichen Begriffs „unverzüglich“ unhaltbar. Schon nach der gesetzlichen Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB bedeutet er „ohne schuldhaftes Zögern“, aber nicht „sofort“. Dass dem Angeklagten nach dem die Besorgnis der Befangenheit aus seiner Sicht begründenden Ereignis eine zumindest kurze Zeit für die Überlegung, Besprechung mit seinem Verteidiger und Abfassung des Antrags einzuräumen ist, ist seit
vielen Jahren in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt. Indem dem Angeklagten unter Mitwirkung des wegen zu zügiger Verhandlungsführung abgelehnten Vorsitzenden jede Überlegungs-, Besprechungsund Abfassungszeit in unvertretbarer Weise abgesprochen wurde, wurde § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO letztlich willkürlich angewendet.
cc) Auch wenn es demnach auf die inhaltliche Prüfung des Ablehnungsgesuchs nicht ankommt, sieht der Senat Anlass für den Hinweis, dass bei einem Verfahren wie dem vorliegenden angesichts des Gewichts der drohenden Rechtsfolge (unbefristete Unterbringung nach § 63 StGB) die Zeit für die Vorbereitung der Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung nicht zu knapp bemessen werden darf, gerade wenn der Sachverständige erst kurz zuvor die Erstattung des entscheidenden Gutachtens beendet hat und angesichts vorausschauender Terminierung keine Zeitnot besteht. Ein „kurzer Prozess“ wäre bei einer solchen Sachlage verfehlt.
dd) Ein sonstiger Ablehnungsgrund nach § 26a Abs. 1 StPO liegt nicht auf der Hand, insbesondere nicht derjenige nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO (vgl. zum Austausch der Ablehnungsgründe innerhalb des § 26a Abs. 1 StPO BGH, Beschlüsse vom 25. April 2006 – 3 StR 429/05, NStZ 2006, 644; vom 10. Juni 2008 – 5 StR 24/08, NStZ 2008, 578; vom 2. Juli 2013 – 2 StR 631/12, NStZRR 2013, 314 [Ls.]). Einer Glaubhaftmachung der Ablehnungsgründe und der Voraussetzungen
rechtzeitigen Vorbringens nach § 26 Abs. 2 Satz 1 StPO bedurfte es entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts vorliegend nicht, weil diese dem Gericht ohnehin bekannt waren (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 26 Rn. 6 mwN).
3. Mit Blick auf § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO hebt der Senat auch den Freispruch des Angeklagten auf (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2018 – 5 StR 54/18). Es ist zwar nicht naheliegend, aber auch nicht gänzlich auszuschließen, dass die neue tatgerichtliche Verhandlung und die zur Erstellung einer aktuellen Gefährlichkeitsprognose erforderliche erneute Begutachtung des Angeklagten eine abweichende Beurteilung seiner Schuldfähigkeit bei Begehung der Anlasstaten ergeben könnte. Das neue Tatgericht bleibt jedoch gehindert, nach Aufhebung der isoliert angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erneut die Unterbringung anzuordnen und zugleich erstmals Strafe zu verhängen (vgl. BGH, aaO mwN).