StPO § 243 Abs. 4 Umfang der Mitteilungspflichten bei erfolglosen Verständigungsgesprächen; Beruhen des Urteils auf Verstößen gegen die Mitteilungspflichten

BGH, Urt. v. 06.10.2020 – 2 StR 262/20

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 6. Oktober 2020 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 28. Februar 2020, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Nötigung und Freiheitsberaubung und wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer „Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten“ verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit der Verfahrensrüge, die Mitteilung des Vorsitzenden über ein Verständigungsgespräch genüge nicht den Anforderungen des § 243 Abs. 4 StPO, Erfolg.

1.  Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Am ersten Hauptverhandlungstag gab der Vorsitzende zwischen Verlesung der Anklage und Belehrung des Angeklagten und der nichtrevidierenden Mitangeklagten bekannt, dass Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO nicht stattgefunden hätten. Sodann baten die Verteidiger um ein Rechtsgespräch im Hinblick auf eine mögliche Verständigung. Der Verfahrensstand wurde

„gemäß § 257b StPO“ erörtert. Auf Anregung des Gerichts wurden sodann zunächst die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten und der Mitangeklagten „erörtert“ und der Vertreter der Jugendgerichtshilfe gehört. Um 10.43 Uhr wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und das Gericht, der Vertreter der Staatsanwaltschaft und sämtliche Verteidiger zogen sich zu dem erbetenen Rechtsgespräch zurück. Nach Fortsetzung der Hauptverhandlung um

11.44 Uhr gab der Vorsitzende bekannt, „dass Gegenstand des Rechtsgesprächs das Ziel der jeweiligen Verteidiger bzgl. der Rechtsfolge im Verurteilungsfall gewesen sei. Es sei dabei deutlich geworden, dass die Verteidigung der Angeklagten (...) jeweils die Anwendung von Jugendstrafrecht anstrebt und dass die Verteidigung aller Angeklagter eine Aussetzung zu verhängender Strafen zur Bewährung zum Ziel hat. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft habe erklärt, sich am heutigen Tage nicht abschließend äußern zu wollen.“ Die Angeklagten ließen sich im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung teilgeständig ein.

2.  Die in zulässiger Weise erhobene Verfahrensbeanstandung hat Erfolg.

a)  Das Landgericht hat – wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausführt – seine Informationspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO verletzt.

aa)  Nach § 243 Abs. 4 StPO, der einerseits dem Schutz der Angeklagten dient, die an Verständigungsgesprächen nicht teilgenommen haben, weil sie gegebenenfalls ihr Verteidigungsverhalten an den Informationen über die gescheiterten Gespräche ausrichten können, andererseits die Verfahrenstransparenz und die damit einhergehende Verfahrenskontrolle durch die Öffentlichkeit sichern will (vgl. BVerfG, NJW 2020, 2461, 2463 Rn. 26 mwN), muss der Vorsitzende über Erörterungen mit Verfahrensbeteiligten, die nach Beginn der Hauptverhandlung, aber außerhalb von dieser stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist, in der Hauptverhandlung Mitteilung machen. Mitzuteilen ist dabei nicht nur der Um- stand, dass es solche Erörterungen gegeben hat, sondern auch deren wesentlicher Inhalt. Hierzu gehört regelmäßig die Darlegung, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde, welche Standpunkte gegebenenfalls vertreten wurden und auf welche Resonanz dies bei den anderen am Gespräch Beteiligten jeweils gestoßen ist (vgl. BVerfGE 133, 168, 215 f.; BVerfG, NJW 2020, 2461; Senat, Urteil vom 5. Juni 2014 – 2 StR 381/13, BGHSt 59, 252; BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2017 – 3 StR 216/16; vom 11. Januar 2018 – 1 StR 532/17, vom 3. März 2020 – 5 StR 36/20). Diese Umstände sind auch im Fall erfolgloser Verständigungsbemühungen mitzuteilen (BVerfG, NJW 2020, 2461 mwN; BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2010 – 3 StR 287/10, BGHR StPO § 257c Abs. 1 Erörterungen 1; vom 9. April 2014 – 1 StR 612/13, NStZ 2014, 416, 417; Senat, Urteil vom 5. Juni 2014 – 2 StR 381/13, BGHSt 59, 252, 255).

bb)  Diesen Anforderungen genügt die Mitteilung über das mit dem Ziel einer Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung geführte Gespräch nicht. Aus ihr geht nicht hervor, welchen Standpunkt der Vorsitzende oder das Gericht gegenüber den Vorstellungen der Verteidiger eingenommen haben. Selbst wenn der Vorsitzende noch keinen eigenen Standpunkt vertreten hatte, wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Gegenerklärung ausführt, sich deshalb zunächst einer eigenen Bewertung enthielt und sich nur die Positionen der anderen Verfahrensbeteiligten anhören wollte, wäre dieser Umstand nach § 243 Abs. 4 StPO in der Hauptverhandlung mitteilungsbedürftig gewesen. Angesichts des Zwecks der Mitteilungspflicht, durch die Information des Angeklagten und der Öffentlichkeit Transparenz und Wissensparität im Hinblick auf den Inhalt der Verständigungsgespräche zu schaffen und eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu ermöglichen, ist auch die Information, dass das Gericht zu einem Vorschlag (noch) keinen Standpunkt eingenommen hat, ein wesentlicher und demzufolge mitteilungspflichtiger Umstand (BVerfG, NJW 2020, 2461, 2463 Rn. 35).

b)  Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich der Beschwerdeführer bei einer ordnungs- gemäßen Information zu einem anderen Verteidigungsverhalten entschlossen hätte und deshalb andere, für ihn günstigere Feststellungen hätten getroffen werden können, mithin das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht (§ 337 StPO).

aa)  Zwar hat der Gesetzgeber Verstöße gegen die verfahrensrechtlichen Sicherungen der Verständigung, zu denen auch die Transparenz und Dokumentationspflichten gehören, nicht als absolute Revisionsgründe eingestuft, so dass die Revision nur darauf gestützt werden kann, dass das Urteil auf dem Verstoß beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Allerdings ist bei Verstößen gegen die Mit- teilungspflichten aus § 243 Abs. 4 StPO regelmäßig davon auszugehen, dass das Urteil darauf be- ruht (vgl. BVerfG, NStZ 2015, 170, 172 mwN; BVerfG, NJW 2020, 2461, 2464 Rn. 37; Senat,

Beschluss vom 23. Oktober 2018 – 2 StR 417/18 Rn. 2; BGH, Beschluss vom 11. Januar 2018 – 1 StR 532/17, NStZ 2018, 363), da sich – bis auf eng begrenzte Ausnahmefälle – nicht ausschließen lässt, dass das Gericht bei gesetzmäßigem Vorgehen infolge eines anderen Prozessverlaufs zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

bb)  So liegt es auch hier. Angesichts des entstandenen Informationsdefizits und des Umstands, dass sich der Angeklagte teilgeständig eingelassen und das Gericht dieses – unter anderem – seiner Verurteilung zugrunde gelegt hat, vermag der Senat einen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmefall nicht zu erkennen. Das Informationsdefizit des Angeklagten konnte hier – wie regelmäßig – auch nicht durch eine Unterrichtung durch den Verteidiger ausgeglichen werden, da richterliche und nichtrichterliche Mitteilungen nicht von identischer Qualität sind (vgl. BVerfG, NJW 2020, 2461, 2464 Rn. 38; vgl. Senat, Beschluss vom 12. Oktober 2016 – 2 StR 367/16, NStZ 2017, 244; Urteil vom 5. Juni 2014 – 2 StR 381/13, Rn. 20, BGHSt 59, 252; BGH, Beschluss vom 26. November 2019 – 3 StR 336/19, NStZ-RR 2020, 87).

3.  Die Sache bedarf daher, soweit der Revisionsführer verurteilt wurde, neuer Verhandlung und Entscheidung. Der neue Tatrichter wird auch Gelegenheit haben, die Voraussetzungen des § 64 StGB – so dazu weiterhin Anlass besteht – näher in den Blick zu nehmen. Dass nur der Ange- klagte Revision eingelegt hat, stünde der Anordnung einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt nicht entgegen; die Nichtanwendung des § 64 StGB ist nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Urteil vom 10. April 1990 – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9; Beschluss vom 19. Dezember 2007 – 5 StR 485/07, NStZ-RR 2008, 107).