StPO § 244 Abs. 3 Keine Wahrunterstellung eingeschränkter Schuldfähigkeit
StPO § 244 Abs. 3 Keine Wahrunterstellung eingeschränkter Schuldfähigkeit
BGH, Urt. v. 02.09.2010 – 3 StR 273/10 -NStZ 2011, 106
1. Die erheblich eingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ist keine bestimmte Beweistatsache, die zum tauglichen Gegenstand eines Beweisantrags gemacht werden kann.
2. Eine Wahrunterstellung kommt nur in Betracht, wenn damit keine Verletzung der Aufklärungspflicht verbunden ist. Sie hat zu unterbleiben, wenn konkrete Anhaltspunkte es als möglich erscheinen lassen, dass die zugunsten des Angeklagten wirkende Beweisbehauptung widerlegt werden kann.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 2. September 2010 für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 1. Februar 2010, soweit es die Angeklagten W. und Ö. betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Angeklagten und dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil werden verworfen. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen von drei Jahren und acht Monaten (W.) bzw. drei Jahren und zwei Monaten (Ö.) verurteilt, Adhäsionsentscheidungen getroffen und das Tatwerkzeug eingezogen. Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft erhebt die Sachrüge und wendet sich mit Einzelausführungen dagegen, dass das Landgericht zum Schuldspruch nur unzureichende Feststellungen getroffen, die Tat als minder schweren Fall gewürdigt und die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit beim Angeklagten Ö. nicht begründet hat. Die Revision des Angeklagten W. nimmt die Anwendung der §§ 63, 64 StGB vom Angriff aus, erhebt die allgemeine Sachrüge und wendet sich mit einer Verfahrensbeanstandung sowie mit Einzelausführungen zur Sachrüge gegen die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit. Der Angeklagte Ö. hat sein Rechtsmittel auf den Strafausspruch beschränkt und rügt die Strafzumessung. Die Revision der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des Urteils; die Rechtsmittel der Angeklagten bleiben ohne Erfolg.
I. Revision der Staatsanwaltschaft
1. Das Rechtsmittel führt zur Urteilsaufhebung, weil das Landgericht seiner Kognitionspflicht nicht in dem gebotenen Umfang nachgekommen ist. Es hat - ebenso wie die Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung -die Tat nicht auch unter dem Gesichtspunkt des erpresserischen Menschenraubs geprüft, obwohl die Feststellungen dazu drängten. Danach suchten die Angeklagten am Tatabend in sog. Chatrooms im Internet, in denen sie sich unter einem Frauennamen angemeldet hatten, nach einem Mann, um diesen zu einer vermeintlichen Verabredung an einen günstigen Ort zu locken und dort sodann mittels Gewalt an dessen Geld zu gelangen. Als Lockvogel diente ihnen die mit dem Angeklagten W. befreundete Nichtrevidentin S.. Es gelang ihnen, den Nebenkläger zu einem nächtlichen Treffen am Busbahnhof Viersen zu veranlassen, wo die Nichtrevidentin auf ihn wartete und ihn in den nahe gelegenen Stadtparkführte. Plangemäß wurde er dort von den Angeklagten überfallen. Der Angeklagte Ö. brachte ihn durch einen Faustschlag zu Boden. Sodann traten und schlugen beide auf ihn ein. Der Angeklagte W. hielt ihm eine Machete an den Hals. Unter der wiederholten Drohung, ihm Körperteile abzuschneiden, forderten beide Angeklagte die Herausgabe von Geldbörse, Armbanduhr und Mobiltelefon. Der Nebenkläger übergab den Geldbeutel und die Uhr. Das Telefon hatte er bei dem Sturz verloren. Als sich im Portemonnaie nur ein paar Münzen anfanden, zwangen die Angeklagten den Nebenkläger, in sein Fahrzeug einzusteigen, und fuhren mit ihm zur Sparkasse, wo er 200 € am Geldautomaten abheben und an sie übergeben musste. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, legen diese Feststellungen nahe, dass die Angeklagten mittels Gewalt und Drohung mit Leibes-und Lebensgefahr die physische Herrschaft über ihr Opfer erlangt hatten und eine so von ihnen geschaffene stabile Bemächtigungslage (vgl. BGH, Beschluss vom 22. November 1994 - GSSt 1/94, BGHSt 40, 350; Beschluss vom 3. August 1995 - 4 StR 435/95, BGHR StGB § 239a Abs. 1 Sichbemächtigen 4; Urteil vom 8. März 2006 - 5 StR 473/05, NStZ 2006, 448; Urteil vom 31. August 2006 - 3 StR 246/06, BGHR StGB § 239a Abs. 1 Sichbemächtigen 9) für die Fortsetzung ihres erpresserischen Verhaltens ausnutzten, indem sie den Nebenkläger zwangen, mit ihnen in seinem Auto zur Sparkasse zu fahren, Geld abzuheben und ihnen zu übergeben.
2. Damit kommt es auf die weiteren Beanstandungen der Staatsanwaltschaft nicht mehr an. Der Senat sieht aber Anlass zu folgenden Hinweisen:
a) Die von § 260 Abs. 4 Satz 1 StPO geforderte rechtliche Bezeichnung der Straftat macht die Kennzeichnung der jeweils gegebenen Qualifikation notwendig. Daher ist im Falle der Verurteilung nach §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB auf "besonders schwere räuberische Erpressung" zu erkennen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juli 2008 - 3 StR 229/08 - Rn. 5 -, insoweit in NStZ-RR 2008, 342 nicht abgedruckt; Beschluss vom 28. Januar 2003 - 3 StR 373/02, BGHR StPO § 260 Abs. 4 Satz 1 Urteilsformel 4; KK-Schoreit, 6. Aufl., § 260 Rn. 30).
b) Die Annahme erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit des Angeklagten Ö. hätte rechtlicher Überprüfung nicht standgehalten. Das Landgericht "geht zu Gunsten des Angeklagten" (UA S. 10) von eingeschränkter Schuldfähigkeit aus. Dies lässt besorgen, es habe den Zweifelssatz rechtsfehlerhaft auf die rechtliche Bewertung als solche und nicht allein auf deren tatsächliche Grundlagen und Anknüpfungspunkte angewandt (vgl. BGH, Urteil vom 26. August 1999 -4 StR 329/99, NStZ 2000, 24 mwN). Hierfür spricht auch, dass die im Urteil mitgeteilten Tatsachen nicht die Voraussetzungen erfüllen, unter denen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine relevante Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit aufgrund von Betäubungsmittelkonsum in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 8. April 1997 - 1 StR 65/97, NStZ-RR 1997, 227). Die Feststellungen zu dem Marihuana- und Amphetaminkonsum des Angeklagten legen weder einen akuten Drogenrausch noch als äußerst unangenehm empfundene Entzugserscheinungen bzw. die Angst vor ihnen oder schwerste Persönlichkeitsveränderungen aufgrund lang-jährigen Betäubungsmittelkonsums nahe. Anderes ergibt sich auch nicht aus der Behandlung eines Hilfsbeweisantrags des Angeklagten auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, mit dem "festgestellt werden" sollte, "dass der Angeklagte zur Tatzeit aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit und des hieraus erwachsenen Beschaffungsdrucks in seiner Fähigkeit zu einem einsichtsgemäßen Verhalten erheblich eingeschränkt war." Das Landgericht hat "diese Tatsache" als wahr unterstellt. Insoweit gilt: Die erheblich eingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ist bereits keine bestimmte Beweistatsache, die zum tauglichen Gegenstand eines Beweisantrags gemacht werden kann (vgl. LR-Becker, 26. Aufl., § 244 Rn. 98 mwN). Eine Wahrunterstellung kommt zudem nur in Betracht, wenn damit keine Verletzung der Aufklärungspflicht verbunden ist. Sie hat zu unterbleiben, wenn konkrete Anhaltspunkte es als möglich erscheinen lassen, dass die zugunsten des Angeklagten wirkende Beweisbehauptung widerlegt werden kann (vgl. LR-Becker, aaO Rn. 291).
c) Rechtlichen Bedenken wäre auch die Annahme eines minder schweren Falles ausgesetzt gewesen. Das Landgericht hat im Rahmen dieser Prüfung nur für die Angeklagten sprechende Umstände aufgeführt. Die erheblichen, aus der Tatbegehung und dem Vorleben der Angeklagten folgenden, gegen die Annahme eines minder schweren Falles sprechenden Gesichtspunkte hat es erst im Rahmen der konkreten Strafzumessung erörtert. Dies lässt hier besorgen, dass es diese Umstände bei der erforderlichen Gesamtwürdigung ausgeblendet hat.
II. Revision des Angeklagten W.
1. Die Aufklärungsrüge versagt. Es bestehen bereits Bedenken an der Zulässigkeit der Rüge, da der Beschwerdeführer das mit der vermissten Beweiserhebung - einer sachverständigen Begutachtung der Schuldfähigkeit des Angeklagten - erwartete Beweisergebnis nicht bestimmt behauptet. Jedenfalls musste sich das Landgericht, wie der Generalbundesanwalt in seinem Antrag nach § 349 Abs. 2 StPO näher ausgeführt hat, angesichts der Angaben des Angeklagten zu seiner Alkoholisierung nicht zur Hinzuziehung eines Sachverständigen gedrängt sehen.
2. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
3. Der Senat sieht Anlass zu folgendem Hinweis: Sofern sich in der neuen Hauptverhandlung eine hangbedingte Gefährlichkeit des Angeklagten im Sinne des § 64 StGB feststellen ließe, stünde die Beschränkung der Revision des Angeklagten, der die Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB vom Revisionsangriff ausgenommen hat, einer Anordnung der Maßregel nicht entgegen, weil das Urteil auf die Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben worden ist.
III. Revision des Angeklagten Ö. Die Überprüfung des Strafausspruchs aufgrund der Sachrüge und der Einzelbeanstandung der Revision hat -wie der Generalbundesanwalt in seinem Antrag nach § 349 Abs. 2 StPO zutreffend ausgeführt hat - keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
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