StPO § 247, 338 Nr. 5 – Abwesenheit des entfernten Angeklagten bei Augenscheinseinnahme unschädlich, wenn Gegenstand nachträglich gezeigt wird.

StPO § 247, 338 Nr. 5 – Abwesenheit des entfernten Angeklagten bei Augenscheinseinnahme unschädlich, wenn Gegenstand nachträglich gezeigt wird.

BGH, Urt. v. 11.11.2009 – 5 StR 530/08 = NJW 2010, 1010 = StV 2010, 59

LS: Erfolgt nach Entfernung des Angeklagten während einer Zeugenvernehmung gemäß § 247 StPO in andauernder Abwesenheit des Angeklagten eine förmliche Augenscheinseinnahme, so ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht erfüllt, wenn dem Angeklagten das in seiner Abwesenheit in Augenschein genommene Objekt bei seiner Unterrichtung  nach § 247 Satz 4 StPO gezeigt wird (im Anschluss an BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 1 unter Aufgabe entgegenstehender Senatsrechtsprechung, BGHR StPO § 247 Abwesenheit 5).

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. November 2009 für Recht erkannt: Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. März 2008 wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

G r ü n d e

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung in Tateinheit mit Zuhälterei, wegen Betruges in 13 Fällen, versuchten Betruges in fünf Fällen und Anstiftung zum Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten in zwei Fällen unter Einbeziehung anderweitig rechtskräftig verhängter Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

1. Jenseits der auf Verletzung des § 247 StPO gestützten Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO wegen Abwesenheit des Angeklagten während einer Augenscheinseinnahme ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Insbesondere steht die Wertung des Landgerichts zur Bedeutungslosigkeit des auf Zeugenvernehmung mehrerer Prostituierter gerichteten Beweisbegehrens des Angeklagten nicht in unauflösbarem Widerspruch zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin und der Zeugin D.. Sachlichrechtlich ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht zu beanstanden. Durchgreifende Rechtsfehler zur Frage der Schäden aus den vom Angeklagten eingeräumten Vermögensdelikten sind nicht ersichtlich.

2. Auch die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO ist unbegründet.

a) Insoweit beanstandet die Revision die Abwesenheit des Angeklagten während einer Augenscheinseinnahme. Die Nebenklägerin ist gemäß § 247 Satz 1 und 2 StPO in Abwesenheit des Angeklagten zeugenschaftlich vernommen worden. Dabei ist ihr Kalender in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten in Augenschein genommen worden. Während der Unterrichtung des Angeklagten von dem wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin gemäß § 247 Satz 4 StPO ist der Kalender auf Anordnung der Strafkammervorsitzenden „von dem Angeklagten in Augenschein genommen“ worden.

b) Die Rüge ist – entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts in seinem Beschlussverwerfungsantrag – zulässig. Das Augenscheinsobjekt ist durch die Wiedergabe der anschaulichen und konkret für die Beweisführung maßgeblichen Teile des Kalenders im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hinreichend deutlich bezeichnet worden. Die Statthaftigkeit von Rügen der hier vorliegenden Art hängt nicht davon ab, dass der Verteidiger die Anordnung der Augenscheinseinnahme in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten durch den Strafkammervorsitzenden gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat; daher brauchte hierzu auch nicht gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgetragen zu werden.

c) Trotz von der Nebenklägerin in dem Kalender während der Vernehmung vorgenommener Markierungen vermag der Senat die ausdrücklich protokollierte Augenscheinseinnahme, mit welcher die Art von Eintragungen und das Vorhandensein unterschiedlicher Schriftbilder in dem Kalender veranschaulicht werden sollten, nicht als bloßen Vernehmungsbehelf zu verstehen, so dass die Rüge nicht etwa schon deshalb (offensichtlich) unbegründet ist.

3. Der Senat möchte zwar dem Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 StPO bei entsprechenden Rügen nach § 338 Nr. 5 StPO in Abkehr von bisheriger Rechtsprechung (BGHSt 26, 218; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1, 14, 15; § 338 Nr. 5 Angeklagter 23; BGH NStZ 2000, 440; 2007, 352) den Inhalt geben, den er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Rügen nach § 338 Nr. 6 StPO hat, mit denen ein zu weit gehender Ausschluss der Öffentlichkeit beanstandet wird, wenn dieser gemäß §§ 171a bis 172 GVG für die Dauer einer Vernehmung erfolgt ist. Dort wird „die Vernehmung“ im Sinne des entsprechenden Verfahrensabschnitts verstanden; hierzu rechnen alle Verfahrensvorgänge, die mit der eigentlichen Vernehmung eng in Zusammenhang stehen oder sich aus ihr entwickeln (BGH NJW 1996, 2663, insoweit in BGHSt 42, 158 nicht abgedruckt; BGH NJW 2003, 2761, insoweit in BGHSt 48, 268 nicht abgedruckt; BGH, Beschluss vom 20. Juli 2004 – 4 StR 254/04). Hier hing die erfolgte Augenscheinseinnahme mit der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin, die sich zu ihrem Kalender geäußert und ihn erläutert hat, sachlich (sogar besonders) eng zusammen; das Landgericht hat in seiner Gestaltung eine Bestätigung ihrer Aussage gefunden (UA S. 6/7, 15, 19; ausweislich des Protokolls hat eine förmliche Augenscheinseinnahme betreffend den Kalender vor Vernehmung der Nebenklägerin – was der Rüge den Boden entzogen hätte –, anders als auf UA S. 19 notiert, nicht stattgefunden). Diesen Kalender während der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin unter fortdauerndem Ausschluss der von der Vernehmung ausgeschlossenen Öffentlichkeit in Augenschein zu nehmen, wäre nach der zitierten Rechtsprechung unbedenklich gewesen (BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1). An einer identischen Auslegung, wonach § 338 Nr. 5 i.V.m. § 247 StPO die Augenscheinseinnahme auch in Abwesenheit des während der Vernehmung der Zeugin entfernten Angeklagten gestattete, ist der Senat wegen nach wie vor entgegenstehender Rechtsprechung (vgl. dazu, jeweils m.N., Diemer in KK 6. Aufl. § 247 Rdn. 6 und 8 sowie Kuckein, ebenda § 338 Rdn. 77) gehindert. Auf entsprechende Anfrage bei den anderen Strafsenaten (Senatsbeschluss in dieser Sache vom 10. März 2009, StV 2009,226 m. Anm. Schlothauer; vgl. ferner den Anfragebeschluss des Senats in einer Parallelsache vom selben Tage – 5 StR 460/08, StV 2009,342 m. Anm. Eisenberg; hierzu nunmehr – betreffend die Vereinbarkeit fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen mit § 247 StPO – Vorlagebeschluss des Senats vom heutigen Tage) hat lediglich der 1. Strafsenat seine entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben.

4. Die Rüge greift indes aus anderen Gründen nicht durch, so dass eine Divergenzvorlage an den Großen Senat für Strafsachen hier nicht veranlasst ist. Unterstellt man nämlich auf der Grundlage der verbindlichen Rechtsprechung den Verfahrensverstoß, so ist dieser jedenfalls wirksam geheilt worden.

a) Auch die den Senat bindende Rechtsprechung, die eine Erhebung des Sachbeweises während der Zeugenvernehmung in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten von § 247 StPO grundsätzlich nicht als gedeckt ansieht, verneint einen durchgreifenden Verstoß für den Fall nachträglicher Heilung (vgl. BGHSt 37, 48, 49). Diese liegt in einer Wiederholung der Augenscheinseinnahme während der weiteren Hauptverhandlung nunmehr in Anwesenheit des Angeklagten. Hierfür reicht die Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch den Angeklagten während seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO aus. Alle weiterhin anwesenden notwendigen Verfahrensbeteiligten hatten dabei selbstverständlich die Möglichkeit, das Augenscheinsobjekt ihrerseits nochmals zu besichtigen. Das genügt für die eine Heilung bewirkende wiederholte Augenscheinseinnahme. Beim Augenschein in der Hauptverhandlung ist ein zusätzlicher „Kommunikationsakt“ unter den Verfahrensbeteiligten mit ausdrücklicher Erörterung zur Erheblichkeit einzelner Beobachtungen grundsätzlich nicht erforderlich (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 86 Rdn. 17; a.A. Schlothauer StV 2009, 228,229 m.w.N.). Bei einem überschaubaren schlichten Erscheinungsbild des Augenscheinsobjekts kann selbst für den Fall sukzessiver Augenscheinseinnahme nichts Weitergehendes gelten. Ein Ausnahmefall mag gegeben sein, wenn das Gericht einem eher unauffälligen Detail des Augenscheinsobjekts entscheidende Bedeutung zumisst, ohne die Prozessbeteiligten hierüber deutlich zu informieren, so dass die Gefahr einer Überraschungsentscheidung bestünde. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Im Übrigen liegt, namentlich angesichts der Abhandlung der Reaktion des Angeklagten auf die Augenscheinseinnahme im Urteil (UA S. 19), sogar auf der Hand, dass die Strafkammervorsitzende auf von der Nebenklägerin erläuterte, teils gar markierte Kalendereintragungen im Rahmen der Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO in Gegenwart der übrigen Verfahrensbeteiligten – entsprechend der Erörterung bei der Augenscheinseinnahme im Rahmen der Zeugenvernehmung – besonders hingewiesen hat; weitergehender Protokollierung hätte dieser Vorgang nicht bedurft (vgl. Als-berg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess 5. Aufl. S. 240). Die Verteidigung hat in diesem Zusammenhang auch nicht etwa eine unzulängliche Unterrichtung des Angeklagten geltend gemacht und auch mit der Revision zu einer etwa unterschiedlichen Kommunikation bei der Augenscheinseinnahme in Abwesenheit des Angeklagten und bei der Besichtigung im Rahmen seiner Unterrichtung nichts vorgetragen.

b) Der 2. Strafsenat hat bereits bei identischer Fallgestaltung eine wirksame Heilung des angenommenen Verstoßes bejaht (BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 1; ähnlich bereits in StV 1983, 3; entsprechend der Antwortbeschluss vom 17. Juni 2009 – 2 ARs 138/09). Der erkennende 5. Strafsenat hat seine einer Heilung – mangels nochmaliger förmlicher Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch sämtliche Prozessbeteiligte gemeinsam – entgegenstehende Rechtsprechung (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 5; BGH StV 1981, 57; 1986, 418; vgl. auch Beschluss vom 26. Februar 1985  – 5 StR 108/85), auf die sich die Revision beruft, bereits im Anfragebeschluss aufgegeben. Auch nach Überprüfung der Ergebnisse des Anfrageverfahrens, in dem die übrigen Strafsenate bestätigt haben, bislang nicht entsprechend entschieden zu haben, hält der Senat an dieser Auffassung fest. Sie ist auch vom 1. und vom 4. Strafsenat ausdrücklich gebilligt worden (vgl. die Antwortbeschlüsse vom 22. April 2009 – 1 ARs 6/09 – und vom 25. August 2009 – 4 ARs 7/09).

c) Soweit der 3. Strafsenat (Antwortbeschluss vom 7. Juli 2009  – 3 ARs 7/09) zu einer abweichenden Auffassung neigt und die Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen wegen grundsätzlicher Bedeutung anregt, folgt der erkennende Senat dem nicht. Er sieht bei Annahme einer Heilung in Form des hier in Frage stehenden Vorgehens keine Anhaltspunkte für ernstliche rechtsstaatliche Defizite. Die Gefahr, dass die insgesamt schwer überschaubare Rechtsprechung zu § 247 StPO noch komplizierter würde, könnte der Senat allein in der Fortführung seiner bisherigen überformalen Rechtsprechung erblicken. Ob in sonstigen Fällen weitergehender Beweiserhebung während einer gemäß § 247 StPO in Abwesenheit des Angeklagten erfolgten Vernehmung eine Heilung anders als durch vollständige Wiederholung erfolgen könnte, etwa gar in einer Art Selbstleseverfahren beim Urkundenbeweis, wird gegebenenfalls zu entscheiden sein.

5. Abschließend bemerkt der Senat zu den für eine Vorlage an den Großen Senat ins Feld geführten Argumenten des 3. Strafsenats: Dessen Vorschlag, eine einheitliche Rechtsprechung zu den absoluten Revisionsgründen aus § 338 Nr. 5 und 6 StPO durch Aufgabe der „Zusammenhangformel“ bei § 338 Nr. 6 StPO zu finden, folgt der 5. Strafsenat nicht. Dem stehen gegenüber der Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes vorrangige Belange einer stringenten Gestaltung der Hauptverhandlung entgegen.

6. Trotz der beträchtlichen durch das Anfrageverfahren verursachten Verzögerung der Revisionsentscheidung (vgl. Rieß in NStZ-Sonderheft für Miebach 2009, S. 30,32 f.) besteht kein Anlass für eine irgendwie geartete Kompensation in der Rechtsfolge. Das Verfahren nach § 132 GVG vermag als rechtsstaatliche Ausgestaltung des gerade auch dem Schutz des Beschwerdeführers dienenden Rechtsmittelrechts grundsätzlich keine rechts-staatswidrige Verfahrensverzögerung zu begründen (vgl. BVerfGE 122, 248, 280).

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