StPO § 260 Abweichung des Tenors aus der Urteilsurkunde von der verkündeten Urteilsformel
BGH, Urt. v. 15.10.2020 – 1 StR 336/20
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hält an seiner Auffassung fest, dass das Übereinstimmen von verkündeter und im schriftlichen Urteil niedergelegter Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen ist. Es ist nicht zu erkennen und wird vom 5. Strafsenat auch nicht erläutert, worin bei fehlender Übereinstimmung ein Verfahrensfehler liegen soll, der dann nur unter den strengen Voraussetzungen des § 344 II 2 StPO gerügt werden kann.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 15. Oktober 2020 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 21. Februar 2020 wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO); jedoch wird der ihn betreffende Schuldspruch im zweiten Absatz der Urteilsformel (Ziff. III. 2. b) (1), (2), (3), (6) und (8) der Urteilsgründe) dahin berichtigt, dass der Angeklagte insoweit des gewerbsmäßigen vorsätzlichen unerlaubten Inverkehrbringens von Arzneimitteln zu Dopingzwecken im Sport in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Handeltreiben mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln außerhalb von Apotheken in fünf tatmehrheitlichen Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel schuldig ist (Ziff. III. 2. b) (1) und (3) der Urteilsgründe).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
1. Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils bedarf aus den zutreffenden Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der aus der Beschlussformel ersichtlichen Berichtigung.
2. Im Übrigen berührt es den Bestand des Urteils nicht, dass die Urteilsformel des schriftlichen Urteils die dem Angeklagten zur Last gelegten 23 Fälle in Klammerzusätzen mit anderen Gliederungsziffern kennzeichnet als die dem Hauptverhandlungsprotokoll zu entnehmende Urteilsformel. Denn nach Abgleich der Urteilsgründe mit der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss steht trotz dieser Abweichung die Identität (§ 264 StPO) der 23 verfahrensgegenständlichen Taten nicht in Frage.
Der Senat hält – entgegen der vom 5. Strafsenat geäußerten Ansicht (Beschluss vom 23. Juni 2020 – 5 StR 189/20 Rn. 5) – an seiner Auffassung fest (Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18 Rn. 11-16), dass das Übereinstimmen von verkündeter und im schriftlichen Urteil niedergelegter Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen ist. Es ist weiterhin nicht zu erkennen und wird vom 5. Strafsenat auch nicht erläutert, worin bei fehlender Übereinstimmung ein Verfahrensfehler liegen soll, der dann nur unter den strengen Voraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gerügt werden kann.
a) Neben den im Urteil vom 10. Oktober 2019 genannten Gründen sind hierfür die Vorschriften der § 358 Abs. 2 Satz 1, § 331 Abs. 1 StPO anzuführen: Hat nur der Angeklagte (oder zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft) Rechtsmittel eingelegt und hebt das Rechtsmittelgericht daraufhin die Strafe auf, darf die neu zu verhängende Strafe die vorherige nicht übersteigen. Dieses Verbot der Schlechterstellung bewirkt zugunsten des Angeklagten eine Teilrechtskraft der Bestrafungsgrenze; als (partielles) Verfahrenshindernis ist es von Amts wegen zu beachten (BGH, Beschlüsse vom 27. Juli 2017 – 1 StR 412/16 Rn. 73; vom 3. April 2013 – 3 StR 60/13 Rn. 3 und vom 23. August 2000 – 2 StR 171/00 Rn. 7; Urteil vom 14. Oktober 1959 – 2 StR 291/59, BGHSt 14, 5, 7). Diese Teilrechtskraft tritt, falls weder die Staatsanwaltschaft zu Lasten des Angeklagten noch Nebenkläger das Urteil anfechten, binnen einer Woche ab Urteilsverkündung ein; für die Bestrafungsgrenze ist mithin die verkündete Urteilsformel maßgeblich. Um die Auswirkung der Rechtskraft bestimmen zu können, haben nach alledem das Revisionsund Berufungsgericht auch den Verkündungsinhalt von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen. Bei Divergenz zwischen verkündeter Urteilsformel und dem – regelmäßig erst nach über einer Woche nach Verkündung – zu den Akten gebrachten schriftlichen Urteil ist erstere ausschlaggebend (BGH, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 632/18 Rn. 15 mwN). Auch nach der Gegenansicht müsste man jedenfalls im neuen Revisionsverfahren nach zweiter Tatsachenentscheidung wegen des Verböserungsverbots die verkündete und vorrangige Urteilsformel von Amts wegen beachten (BGH aaO; vgl. auch Ventzke, NStZ 2020, 372, 373). Indes ist im Interesse der Rechtssicherheit und -klarheit für die Revisionsverfahren in beiden Rechtsgängen eine einheitliche Handhabung geboten. Zudem darf für die Revisionsinstanz insoweit nichts anderes als für die Berufungsinstanz gelten; dem Berufungsrecht sind Verfahrensrügen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) fremd (§§ 314, 317 StPO).
b) Schließlich ist die Urteilsformel aus dem Hauptverhandlungsprotokoll geeignete Grundlage der Strafvollstreckung (vgl. § 13 Abs. 2, 3 Satz 1 der Strafvollstreckungsordnungen der Bundesländer). Auch dies spricht für das Erfordernis einer amtswegigen Prüfung.