StPO § 261 Beweiswert eines Wiedererkennens nach Lichtbildvorlage

BGH, Beschl. v. 30.03.2016 – 4 StR 102/16 – NStZ-RR 2016, 223 (Ls.)

Der Beweiswert des Wiedererkennens ist stark herabgesetzt, wenn der Zeuge den Angeklagten lediglich auf einer Einzelbildvorlage erkannt hat. Erkennt der Zeuge den Angeklagten nach einer Einzelbildvorlage im Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung wieder, handelt es ein sog. wiederholtes Wiedererkennen, dessen Verlässlichkeit wegen der Beeinflussung durch die Situation des ersten Wiedererkennens und der durch diese bedingten Überlagerung des ursprünglichen Erinnerungsbildes nochmals deutlich vermindert ist. Diese verminderte Beweiskraft von erstem und wiederholtem Wiedererkennen muss der Tatrichter in seine Beweiswürdigung einstellen, sonst bleibt diese lückenhaft.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 30. März 2016 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 17. Dezember 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „schweren Raubes“ in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen und mit versuchtem Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat Erfolg.

I.
1. Nach den Feststellungen klingelten der Angeklagte sowie die gesondert Verfolgten T. , L. und M. , die vorhatten, von den Brüdern B. gewaltsam Bargeld und größere Mengen Betäubungsmittel zum Zwecke des gewinnbringenden Weiterverkaufs zu erlangen, am frühen Morgen des Tattages versehentlich an der Wohnung der Geschädigten in der Annahme, es handele sich um die Wohnung der Brüder. Nachdem der Geschädigte H. unmittelbar nach dem Öffnen der Wohnungstür von dem gesondert Verfolgten L. einen Schlag ins Gesicht erhalten hatte und zu Boden gestürzt war, kniete sich der gesondert Verfolgte T. auf den Brustkorb des Geschädigten und bedrohte ihn mit einem in die Nähe des Gesichts gehaltenen Elektroschocker, den er mehrfach betätigte. Währenddessen begab sich der Angeklagte in das Badezimmer der Wohnung zu der Geschädigten F. , drückte sie mit einem Griff in den Nacken zu Boden und zwang sie mittels einer ihr gegen die Schläfe gedrückten, geladenen Gaspistole dazu, den Kopf nach unten zu halten und auf den Knien zu bleiben. L. durchsuchte die Wohnung währenddessen nach Bargeld und Drogen. Er fand jedoch lediglich zwei Mobiltelefone sowie eine Geldbörse mit etwa 45 € Bargeld und nahm beides an sich. Als es dem Geschädigten H. gelang, sich in einem geeigneten Moment loszureißen und unter lauten Hilferufen aus der Wohnung zu fliehen, brachen die Täter die weitere Nachsuche ab und flüchteten. Die Ge- schädigte F. trug neben psychischen Beeinträchtigungen Schmerzen im Nacken und an der linken Seite des Gesichts davon.

2. Der Angeklagte hat sich zur Sache nicht eingelassen. Das Landgericht stützt die Verurteilung des Angeklagten, der seinen Mittätern vor der Tat nicht näher bekannt war, auf folgende Umstände:
a) Der gesondert Verfolgte L. hat in der Hauptverhandlung bekundet, er habe bei einer im Ermittlungsverfahren durchgeführten Wahllichtbildvorlage den Angeklagten mit großer Wahrscheinlichkeit als Mittäter identifiziert; bei dieser habe ihm aber der Polizeibeamte mitgeteilt, dass der Angeklagte ohnehin schon von einem anderen identifiziert worden sei. In der Hauptverhandlung hat er zunächst ausgesagt, sich insoweit sicher zu sein, dies dann aber dahin eingeschränkt, er sei sich zu über 50 % sicher, dass der Angeklagte der Mittäter gewesen sei. Beim Betreten des Sitzungssaales hat er sich unmittelbar an den Angeklagten gewandt und diesem auf Russisch gesagt: „Scheiße gelaufen“. Der gesondert Verfolgte M. hat in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten als Zeuge ausgesagt, er habe den vierten Täter zwar erst unmittelbar vor der Tat erstmals gesehen, erkenne ihn aber heute als den Angeklagten wieder. Wie schon im Rahmen einer zuvor im Ermittlungsverfahren durchgeführten Wahllichtbildvorlage seien die Haare des Angeklagten zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung anders als zum Tatzeitpunkt. Von der Gesichtsform und den übrigen Erkennungsmerkmalen her könne er ihn aber wiedererkennen. Der Zeuge Te. , der die Täter in Tatortnähe fuhr, hat in der Hauptverhandlung bekundet, er glaube, bei dem Angeklagten handele es sich um einen der Mittäter mit dem Namen „P. “. Er hat ferner bestätigt, im Rahmen einer im Ermittlungsverfahren durchgeführten Lichtbildvorlage mit „drei Bildern des Ange- klagten“ diesen auf dem mittleren Bild erkannt zu haben. Würde der Angeklagte ihm heute auf der Straße begegnen, würde er ihn wohl eher nicht wiedererkennen. Es sei jedoch zutreffend, dass der ermittlungsführende Kriminalbeamte, der Zeuge La. , mit ihm eine Wahllichtbildvorlage durchgeführt habe; bei dieser habe er den Angeklagten mit einer „gewissen Wahrscheinlichkeit“ erkannt. Der Kriminalbeamte La. hat in der Hauptverhandlung ausgesagt, auf Lichtbildern der französischen Ermittlungsbehörden, auf denen der Angeklagte noch sehr kurze Haare gehabt habe, habe ihn der Zeuge Te. auf einem mittleren Bild als einen der Tatbeteiligten erkannt. „Im Rahmen von weiteren Wahllichtbildvorlagen“ hätten die Zeugen Te. , M. und L. ferner den Angeklagten mit einer „höhergradigen Wahrscheinlichkeit“ als den an der Tat beteiligten „P. “ erkannt.
b) Unter verschiedenen Kleidungsstücken, die die Täter unmittelbar nach Ausführung der Tat in einem Waldstück abgelegt hatten, konnte eine Base- ballkappe mit der Aufschrift „Kärcher“ sichergestellt werden, an der sich DNA- Material befand, das dem Angeklagten zugeordnet werden konnte. Nach dem Ergebnis des kriminaltechnischen Gutachtens kommt das betreffende DNA Identifizierungsmuster unter mehr als 10 Milliarden nicht blutsverwandten Personen kein zweites Mal vor und kann daher als individualcharakteristisch bewertet werden. Ferner konnte der Angeklagte im Hinblick auf DNA-Spuren an der Gaspistole als Mitverursacher nicht ausgeschlossen werden. Auf der Grundlage einer Gesamtschau der erhobenen Beweise in Gestalt der DNA-Gutachten sowie der Aussagen der Zeugen hat sich die Strafkammer von einer Beteiligung des Angeklagten als Mittäter an der festgestellten Tat überzeugt. II. Im Hinblick auf die Identifizierung des Angeklagten ist die Beweiswürdigung insoweit jedoch lückenhaft und widersprüchlich, sodass die Sache insgesamt aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden muss.

1.
a) Dabei kann dahinstehen, ob sich ein durchgreifender Darstellungsmangel der Urteilsgründe bereits daraus ergibt, dass nähere Darlegungen in den Urteilsgründen dazu fehlen, in welcher Weise die im Ermittlungsverfahren veranlassten Wahllichtbildvorlagen im Einzelnen durchgeführt wurden (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Februar 1996 – 4 StR 6/96, NStZ 1996, 350 mwN). Auch bedarf keiner Entscheidung, ob ein durchgreifender Rechtsfehler darin liegt, dass die Strafkammer nicht erörtert hat, dass – wie jedenfalls im Hinblick auf den Zeugen Te. – zusätzlich zu der bei ihm durchgeführten Wahllichtbildvorlage noch eine Vorlage von verschiedenen Einzellichtbildern stattgefunden hat, die ausschließlich aus Aufnahmen des Angeklagten durch die französischen Ermittlungsbehörden bestand.
b) Jedenfalls hat die Strafkammer ausweislich der Urteilsgründe nicht erkennbar bedacht, dass es sich bei dem Wiedererkennen des Angeklagten durch die in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen vor dem Hintergrund der Einzel- bzw. Wahllichtbildvorlagen im Ermittlungsverfahren um ein wieder- holtes Wiedererkennen handelte, dessen Verlässlichkeit wegen der Beeinflussung durch die Situation des ersten Wiedererkennens und der durch diese bedingten Überlagerung des ursprünglichen Erinnerungsbildes deutlich vermindert sein konnte (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. September 2012 – 5 StR 372/12, NStZ-RR 2012, 381 mwN). Das Landgericht hätte daher in seine Bewertung, die nach den Urteilsgründen auf einer Gesamtschau der Wiedererkennungsleistungen beruht, einstellen müssen, dass sich die Zeugen unbewusst an der Einzel- bzw. Wahllichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren orientiert haben könnten. Das ist nicht geschehen.

2. Auch die Ausführungen zu den ausweislich der Urteilsgründe verlesenen DNA-Gutachten genügen den Anforderungen an eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung nicht. Der Tatrichter hat in den Fällen, in denen er dem Gutachten eines Sachverständigen folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachtens so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind. Für die Darstellung des Ergebnisses einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung, bei der es sich nicht um ein standardisiertes Verfahren handelt, ist es danach erforderlich, dass der Tatrichter mitteilt, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben, mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination zu erwarten ist und, sofern der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört, inwieweit dieser Umstand bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung war (vgl. BGH, Urteile vom 5. Juni 2014 – 4 StR 439/13, NJW 2014, 2454; vom 21. März 2013 – 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212, 217; Beschlüsse vom 25. Februar 2015 – 4 StR 39/15 und vom 22. Oktober 2014 – 1 StR 364/14, NStZ-RR 2015, 87, 88). Daran fehlt es hier. Die bloße Mitteilung der Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung reicht nicht aus. Der Senat kann ein Beruhen des Urteils auf diesen Rechtsfehlern trotz der auf den Angeklagten als Mittäter hinweisenden Umstände nicht ausschließen. Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von der Mittäterschaft des Angeklagten neben den genannten Wiedererkennungsleistungen der Zeugen maßgeblich auf die Ergebnisse der DNA-Gutachten gestützt.

III. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf das Folgende hin:

1.
a) Sollte der neue Tatrichter zu Feststellungen gelangen, die denen des angefochtenen Urteils entsprechen, wird er bedenken müssen, dass ein Täter wie der Angeklagte, der Betäubungsmittel durch den Überfall zur gewinnbringenden Weiterveräußerung erlangen wollte, sich nicht wegen versuchten Sich-Verschaffens von Betäubungsmitteln, sondern wegen versuchten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln im Sinne von § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG schuldig macht (vgl. Senatsbeschluss vom 18. Februar 2016 – 4 StR 550/15 mwN).
b) Die Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB durch Einsatz des nach den Feststellungen funktionsfähigen Elektroschockers als Drohmittel wird in der Urteilsformel durch die Bezeichnung als besonders schwerer Raub zum Ausdruck zu bringen sein (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 2009 – 3 StR 297/09, NStZ 2010, 101 mwN).

2. Im Fall der Verurteilung des Angeklagten wird die vom Angeklagten erlittene Auslieferungshaft in einem vom neuen Tatrichter zu bestimmenden Anrechnungsmaßstab auf die verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen sein (§ 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).

3. Ergänzend verweist der Senat auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 7. März 2016