StPO § 261 – Fehlender Erfahrungssatz - Beweiswürdigung
StPO § 261 – Fehlender Erfahrungssatz - Beweiswürdigung
BGH, Beschl. v. 28.10.2009 - 5 StR 443/09 = NStZ-RR 2010, 51
Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass in einer größeren Cannabisplantage stets eine Überwachung des Verantwortlichen stattfindet.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Oktober 2009 beschlossen:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten T. und N. wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 29. Mai 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO
a) bezüglich des Angeklagten T. im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass dieser Angeklagte wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 27 StGB) verurteilt ist,
b) bezüglich dieser beiden Angeklagten aufgehoben
aa) im jeweiligen Strafausspruch,
bb) in der Einziehungsanordnung; diese entfällt.
2. Die weitergehenden Revisionen werden nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Zur neuen Straffestsetzung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat die Angeklagten N. und T. sowie den Nichtrevidenten jeweils wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu Freiheitsstrafen (vier Jahre, drei Jahre und neun Monate sowie drei Jahre und drei Monate) verurteilt, sowie „die am 02.07.2008 im Gebäude C. in Frankenberg sichergestellten Betäubungsmittel, Anbauutensilien sowie Bargelder … eingezogen.“ Die Revisionen der Angeklagten erzielen den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Der vietnamesische Staatsangehörige V. betrieb für einen sich K. nennenden Hintermann in dem Anwesen S. in Frankenberg bis 26. Juli 2007 eine Cannabisaufzuchtanlage mit einem sichergestellten Ertrag von knapp neun Kilogramm Marihuana. K. unterwies den Nichtrevidenten hinsichtlich der mit der Aufzucht und Ernte solcher Pflanzen verbundenen Aufgaben. Der Nichtrevident betrieb – unter Observation durch die Polizei – vom 20. März bis 2. Juli2008 indem dreigeschossigen Anwesen in der C. in Frankenberg eine ähnliche Anlage mit ungefähr 600 Pflanzkübeln. Die damit erzielte Ernte (10 Säcke Cannabisblüten mit3,6 kgTHC sowie 19 Säcke Cannabispflanzenreste mit1,9 kgTHC) wurde am 2. Juli 2008 sichergestellt. K. gestattete dem Nichtrevidenten, kostenfrei im Obergeschoss zu wohnen, und versprach ihm ein monatliches Verpflegungsentgelt in Höhe von 300 bis 400 € und Geld für Sportwetten. Der Angeklagte T. reiste am 24. August2007 indie Tschechische Republik ein und half seiner Tante in deren Textilhandel. Ab März 2008 besuchte er – ausgestattet mit einem von seiner Tante gewährten Taschengeld – Landsleute in Deutschland. Die Zeit vom 20. März bis 27. April 2008, dem Tag seiner Rückreise in die Tschechische Republik (UA S. 6), verbrachte er überwiegend mit seinem Bekannten, dem Nichtrevidenten, in dem Anwesen C. in Frankenberg. Nachdem er eine Verlängerung seines Visums in Tschechien beantragt hatte, kehrte er am 23. Juni 2008 zum Nichtrevidenten zurück. Der Angeklagte N. hielt sich vom 25. Juni bis 2. Juli 2008 ebenfalls dort auf. Der Nichtrevident übergab während seiner Abwesenheit diesen beiden Angeklagten die Schlüssel des Anwesens, darunter auch für die Türen, die zu der auf zwei Stockwerken betriebenen Aufzuchtanlage führten. Die Angeklagten verbarrikadierten am 2. Juli 2008 ferner den Zugang zum Hausflur.
b) Das Landgericht hat sich von der Täterschaft des Nichtrevidenten – seinen eigenen Tatbeitrag betreffend – aufgrund von dessen Geständnis überzeugt. Hinsichtlich des in der Hauptverhandlung schweigenden Angeklagten T. hat es aus der großen Menge der zu betreuenden Pflanzen, einem von diesem stammenden, in den Pflanzräumen gefundenen Zigarettenrest und dem Mitanvertrauen der Schlüssel während der Erntezeit auf seine Mithilfe bei der Pflege und Ernte der Pflanzen geschlossen. In seiner Beweiswürdigung nimmt das Landgericht darüber hinaus an, der Angeklagte T. habe den Nichtrevidenten überwacht, weil es zu verhindern gegolten habe, dass ein Alleintäter Rauschgift für sich hätte beiseite schaffen können. Für die Täterschaft des – wegen eines Betäubungsmitteldelikts vorbestraften – Angeklagten N. hat das Landgericht zusätzlich auf dessen DNA in mehreren in den Pflanzräumen gefundenen Zigarettenresten abgestellt und auf Fingerabdrücke dieses Angeklagten an den Innenseiten der Säcke, in denen sich Cannabisblüten befanden. Ferner hat das Landgericht den Umstand zur Begründung der Täterschaft mit herangezogen, dass dieser Angeklagte am 28. Juni 2008 eine Verkaufsofferte im Eingangsbereich des Hauses angebracht hatte. Ihm hätte deshalb die Aufgabe oblegen, dafür zu sorgen, dass das Tatobjekt zum Verkauf gestellt werden sollte.
2. Die für den Angeklagten T. eine Täterschaft begründende Beweiswürdigung hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand.
a) Zwar ist die tatrichterliche Bewertung über das Vorliegen von Täterschaft oder Teilnahme nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle zugänglich (vgl. BGHSt 47, 383, 385; BGH NStZ 2003, 253, 254). Die Zubilligung eines dem Tatrichter eingeräumten Beurteilungsspielraums mit der Konsequenz, dass die bloße Möglichkeit einer anderen tatrichterlichen Beurteilung das gefundene Ergebnis nicht rechtsfehlerhaft macht, setzt indes eine umfassende Würdigung des Beweisergebnisses als Grundlage der Bewertung voraus (vgl. BGH NStZ aaO; BGH, Urteil vom 17. September 2009 – 5 StR 521/08 Tz. 61). Hieran fehlt es, weil das Landgericht seine wertende Schlussfolgerung auch auf Umstände aufbaut, die den getroffenen Feststellungen widersprechen. Soweit das Landgericht – entgegen der Einlassung des Nichtrevidenten – auf eine notwendige Mithilfe des Angeklagten bei der Aufzucht und Pflege der Cannabispflanzen aus deren großen Umfang schließt, übersieht es, dass der Nichtrevident in der Zeit des Aufenthalts des Angeklagten T. in der Tschechischen Republik vom 28. April bis 22. Juni 2008 die Aufzucht der Pflanzen problemlos allein bewältigen konnte und weiteren, nicht im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit stehenden Besuch empfangen hatte. Hinzu tritt, dass auch nur ein Verantwortlicher die in der S. gelegene ähnliche Anlage betreut hatte. Schon dieser Umstand spricht auch gegen die weitere Annahme des Landgerichts, der Angeklagte T. hätte den Nichtrevidenten überwacht und hierdurch eine Unterschlagung von Betäubungsmitteln durch diesen verhindern wollen. Das Landgericht konnte diese Wertung nicht auf einen Erfahrungssatz stützen, dass in einer größeren Cannabisplantage stets eine Überwachung des Verantwortlichen stattfindet. Solches ist genauso wenig anzunehmen wie etwa die Berechtigung der Annahme, dass Rauschgiftgeschäfte im Kilogrammbereich stets bewaffnet durchgeführt werden (vgl. BGHR StPO § 261 Erfahrungssatz 6). Soweit das Landgericht den später hinzutretenden Angeklagten N. als weiteren Überwacher qualifiziert, tritt dies zudem in ein nicht gelöstes Spannungsverhältnis zu der angenommenen Überwacherrolle des Angeklagten T. von Anfang an. Des Weiteren bleibt die Annahme des Landgerichts ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt, dem Angeklagten T. sei Geld zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und zur Bestreitung seiner Leidenschaft, Sportwetten nachzugehen, zur Verfügung gestellt worden. Dies durfte deshalb nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden (vgl. BGH StV 2002, 235; Brause NStZ 2007, 505, 506).
b) Der Senat schließt aus, dass angesichts der defizitären Beweislage in einer neuen Hauptverhandlung Beweise gewonnen werden, mit denen eine Mittäterschaft des Angeklagten T. begründet werden könnte. Er entnimmt dem vorliegenden Urteil als Mindestfeststellung zum Nachteil dieses Angeklagten (vgl. BGH StV 2007, 284, 285), dass dieser im Zeitraum seines zweiten Aufenthalts vom 23. Juni bis 2. Juli 2008 vorsätzlich als Gehilfe des Nichtrevidenten und seiner Hinterleute an der Bewachung der Cannabisplantage einschließlich der erzielten Ernte durch Verwahrung der Schlüssel der Pflanzräume und Verbarrikadierung des Hausflures sowie an der Kontrolle der Anbauräume und der darin gezüchteten Cannabispflanzen mitgewirkt hat, und entscheidet auf Beihilfe durch (vgl. BGH StV 2009, 176, 177). Nur auf der Grundlage der aufrechterhaltenen Mindestfeststellungen wird das neu berufene Tatgericht eine Strafe festzusetzen haben (vgl. BGH StV 2009, 176, 177; BGH, Beschluss vom 23. September 2009 – 5 StR 314/09).
3. Demgegenüber weist der Schuldspruch hinsichtlich des wegen eines Drogendelikts vorbestraften und gänzlich einkommenslosen Angeklagten N. keinen Rechtsfehler auf. Die Wertung des Landgerichts, dieser Angeklagte sei Mittäter, ist angesichts der bewiesenen Mitwirkungshandlungen (Einpacken der wertvolleren Cannabisblüten; Bewachen und Kontrolle der Anlage gerade während der für die Verwertung der Pflanzen entscheidenden Erntezeit; Vertrauen der Hinterleute voraussetzendes Anbringen einer Nachricht bezüglich der Abwicklung der Anlage) noch das Ergebnis einer tatsachengestützten Würdigung (vgl. BGHSt 36, 1, 14).
4. Indes hält die für diesen Angeklagten festgesetzte Freiheitsstrafe von vier Jahren auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGHSt 3, 179; 24, 268) der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Landgericht entfernt sich schon von seinen Feststellungen, wenn es in der Strafzumessung von einer Verantwortung dieses Angeklagten für die Abwicklung der Aufzuchtanlage ausgeht und die Handlungen des Angeklagten im Vergleich zu denen der Mitangeklagten als dominierend bewertet. Für die Notwendigkeit eines Eingriffs des Revisionsgerichts entscheidend ist zudem der Umstand, dass es das Landgericht unterlassen hat, zugunsten des Angeklagten zu würdigen, dass dessen Handeln unter vollständiger Observation der Polizei stattgefunden hat (vgl. BGH StV 2000, 555; BGH, Beschluss vom 31. März 2004 – 5 StR 78/04 und Urteil vom 9. Januar 2008 – 5 StR 508/07 Tz. 6). Das neue Tatgericht wird auf der Grundlage der aufrechterhaltenen Feststellungen, die freilich um solche ergänzt werden können, die den bisher getroffenen nicht widersprechen, eine neue Strafe festzusetzen haben.
5. Wie der Generalbundesanwalt dargelegt hat, ist die Einziehungsentscheidung fehlerhaft. Ihr fehlt gegen die Revisionsführer jede Grundlage im Urteil. Bei dieser Sachlage ist eine sie beschwerende Nachholung einer präziseren Entscheidung insoweit – entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts – zu ihrem Nachteil nicht möglich.
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