StPO § 261 Verwertung sichtbarer visueller Eindrücke durch das Tatgericht bei Aussage und Zeugnisverweigerungsrechten
BGH, Urt. v. 18.08.2020 – 5 StR 175/20
1. Selbst wenn Aufnahmen von einem Privaten rechtswidrig erfolgt sein sollten, steht dies ihrer Verwertbarkeit im Strafverfahren wegen Mordes nicht entgegen.
2. Das Tatgericht darf und muss bei der Überzeugungsbildung nach § 261 StPO alles verwerten, was Gegenstand der Hauptverhandlung ist. Hierzu gehören auch äußere Erscheinung, Mimik, Gestik, Auftreten und Sprachverhalten von Angeklagten, Zeugen und Mitangeklagten. Dies gilt gleichermaßen, wenn ein Angeklagter oder Zeuge die Aussage oder das Zeugnis berechtigt verweigert. Ein solcher Vorgang ist, soweit sich die wahrgenommenen Umstände offen darbieten, kein Teil einer verfahrensrechtlichen Inaugenscheinnahme.
3. Verwertet das Gericht für jeden Verfahrensbeteiligten sichtbare visuelle Eindrücke nach § 261 StPO, muss es die Verfahrensbeteiligten nicht ausdrücklich darauf hinweisen. Denn das Tatgericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, sich zum Inhalt oder Ergebnis von Beweiserhebungen ausdrücklich zu erklären.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 18. August 2020 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 4. Juni 2019 werden als unbegründet verworfen, diejenige des Angeklagten M. mit der Maßgabe, dass das Urteil dahin ergänzt wird, dass die in Österreich erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet wird; im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils anhand der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat zu den erhobenen Verfahrensrügen:
1. Die Bedenken der Revision des Angeklagten S. gegen die Verwertung des von einer Privatperson spontan aufgenommenen Tatvideos wegen angeblicher Verstöße gegen Jugend- und Datenschutzrecht, Urheber- und allgemeines Persönlichkeitsrecht teilt der Senat nicht. Selbst wenn – was indes vorliegend fernliegt - die Aufnahmen von einem Privaten rechtswidrig erfolgt wären, stünde dies ihrer Verwertbarkeit im vorliegenden Strafverfahren wegen Mordes nicht entgegen (vgl. zum Ausnahmecharakter von Beweisverwertungsverboten und der gebotenen Abwägung nur BGH, Urteil vom 3. Mai 2018 - 3 StR 390/17, NStZ 2019, 227; BVerfGE 130, 1; zur Verwertbarkeit von Dashcam-Aufnahmen im Zivilprozess auch BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17, BGHZ 218, 348; jeweils mwN).
2. Die Rügen, das Gericht habe gegen § 261 StPO und den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, indem es das äußere Erscheinungsbild der nach § 55 StPO die Aussage verweigernden Zeugen verwertet hat, ohne die Angeklagten darauf hinzuweisen, sind jedenfalls unbegründet.
Das Tatgericht darf und muss bei der Überzeugungsbildung nach § 261 StPO alles verwerten, was Gegenstand der Hauptverhandlung ist. Hierzu gehören auch äußere Erscheinung, Mimik, Gestik, Auftreten und Sprachverhalten von Angeklagten, Zeugen und Mitangeklagten (vgl. KKStPO/ Ott, 8. Aufl. 2019, § 261 Rn. 39 f.; SSW-StPO/Schluckebier, 4. Aufl., § 261 Rn. 7; LRStPO/ Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 16, 89, jeweils mwN). Dies gilt gleichermaßen, wenn ein Angeklagter oder Zeuge die Aussage oder das Zeugnis berechtigt verweigert (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 1964 - 2 StR 238/64, GA 1965, 108 für § 52 StPO; Sander, aaO Rn. 16; aufgrund unzutreffender redaktioneller Leitsatzbildung missverständlich rezipiert dagegen BGH, Beschluss vom 24. Juni 1993 - 5 StR 350/93 in StV 1993, 458). Ein solcher Vorgang ist, soweit sich die wahrgenommenen Umstände offen darbieten, kein Teil einer verfahrensrechtlichen Inaugenscheinnahme (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 1973 - 3 StR 183/73; Ott, aaO Rn. 40; vgl. auch BGH, Urteil vom 8. Juli 1964 - 2 StR 238/64, aaO; abweichend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 86 Rn. 14 mwN für den Fall der Einlassungs- oder Aussageverweigerung; anders bei Zuhörern, vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juni 1995 - 3 StR 545/94, NStZ 1995, 609).
Verwertet das Gericht solche für jeden Verfahrensbeteiligten sichtbaren visuellen Eindrücke nach § 261 StPO, muss es die Verfahrensbeteiligten nicht ausdrücklich darauf hinweisen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 1. August 2018 - 5 StR 228/18, NStZ 2019, 297, 300). Denn das Tatgericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, sich zum Inhalt oder Ergebnis von Beweiserhebungen ausdrücklich zu erklären (vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 1997 - 5 StR 237/97, BGHSt 43, 212).