StPO § 264 Prozessualer Tatbegriff und Serientaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern
BGH, Urt. v. 04.03.2021 – 2 StR 423/20
1. Gem.. § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll.
2. Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, auf das die Anklage hinweist, so kommt es darauf an, ob die „Nämlichkeit der Tat“ trotz der Abweichung noch gewahrt ist. Dies ist - ungeachtet gewisser Unterschiede - weiterhin dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen.
3. Bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegenüber Kindern, die häufig erst nach längerer Zeit angezeigt werden, ist eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oftmals nicht möglich. Die Taten als Verfahrensgegenstand werden in diesen Fällen durch die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, die Person des Tatopfers und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bestimmt. Veränderungen und Erweiterungen des Tatzeitraumes heben die Identit.t zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 4. März 2021 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 206a, § 354 Abs. 1 analog StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 23. Juli 2020 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte wegen dreier Taten des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen im August 2019 und wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Hinblick auf eine Tat in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin unter II.2.c) der Urteilsgründe verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
b) das vorgenannte Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 578 Fällen, davon in 310 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 48 Fällen sowie des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 116 Fällen schuldig ist.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die verbleibenden Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 49 Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 268 Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 310 Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 119 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
Soweit der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in dem unter II.2.c) der Urteilsgründe abgeurteilten Übergriff in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin sowie wegen dreier Taten des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen im August 2019 verurteilt worden ist, fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung der Anklageerhebung.
1. Gegenstand der zugelassenen Anklage war zunächst eine Serie von Taten des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern, zum Teil einhergehend mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, die der Angeklagte zum Nachteil der Nebenklägerin im Zeitraum von Mitte August 2010 bis zu ihrem 14. Geburtstag am 14. August 2017 begangen haben soll. Tatort war nach der Anklage in allen Fällen die Wohnung des Angeklagten. Weiterer Gegenstand der Anklage waren ferner Taten des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, die der Angeklagte nach dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin „bis etwa Juli 2019“ begangen haben soll.
2. Weder die in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin im Zeitraum von Mitte August 2010 bis Anfang September 2011 begangene Tat des sexuellen Missbrauchs von Kindern noch die drei Taten des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen im August 2019 waren von der zugelassenen Anklage erfasst.
a) Gemäß § 264 Abs.1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2015 – 1 StR 273/15, NJW 2016, 1747). Bei einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegenüber Kindern, die häufig erst nach längerer Zeit angezeigt werden, ist eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oftmals nicht möglich. Die Taten als Verfahrensgegenstand werden in diesen Fällen durch die Festlegung des zeitlichen Rahmens der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, die Person des Tatopfers und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bestimmt (vgl. BGH, Urteile vom 22. Oktober 2013 – 5 StR 297/13, NStZ 2014, 49; vom 11. Januar 1994 – 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44, 46 f.; vom 29. Juli 1998 – BGHSt 44, 153, 154 f.). Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, auf das die Anklage hinweist, so kommt es darauf an, ob die „Nämlichkeit der Tat“ trotz der Abweichung noch gewahrt ist. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – weiterhin dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen (BGH, Urteile vom 20. November 2014 – 4 StR 153/14, StraFo 2015, 68, 69, und vom 22. Juni 2006 – 3 StR 79/06, NStZ-RR 2016, 316). Beim sexuellen Missbrauch von Kindern im häuslich-familiären Bereich ist für die Frage, ob festgestellte einzelne Taten von der Anklage umfasst sind, die zeitliche Einordnung des Geschehens vor allem dann von besonderer Bedeutung, wenn ein gleichförmiges Handlungsmuster vorliegt (vgl. BGHSt 46, 130, 133; BGH NStZ 1999, 520).
b) Daran gemessen weicht die von der Strafkammer festgestellte Tat in der Wohnung der Mutter so deutlich von den in der Anklage geschilderten geschichtlichen Vorgängen ab, dass sie sich nicht mehr als eine von der Anklage geschilderte Tat im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO darstellt. Die 49 angeklagten Taten für den fraglichen Tatzeitraum waren in der Anklage jeweils durch eine gleichförmige Tatbegehung an einem jeweils identischen Tatort gekennzeichnet und nicht auf andere Weise nach individuellen Merkmalen unverwechselbar charakterisiert. Insofern kommt Tatzeit und Tatort hier eine wesentliche, die Kognitionspflicht bestimmende und vor allem auch begrenzende Funktion zu. Das Geschehen in der Wohnung der Mutter war zwar Teil der über mehrere Jahre dauernden Serie von Missbrauchstaten zum Nachteil der Nebenklägerin.
Das durch die Anklage bezeichnete geschichtliche Vorkommnis findet sein Gepräge aber nicht nur in der gleichförmigen Begehungsweise der eigentlichen, jeweils im Abstand weniger Tage verübten Missbrauchstaten, die auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts im Tatbild und in der Art ihrer Ausführung den in der Anklage geschilderten entsprechen, sondern auch darin, dass der Angeklagte die Geschädigte stets in seiner Wohnung missbraucht hat, wenn diese ihn dort aufsuchte. Der gegenüber der Anklage abweichende Tatort macht das Geschehen in der Wohnung der Mutter der Nebenklägerin zu einem anderen geschichtlichen Ereignis, das nicht von der angeklagten Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO erfasst wird.
c) Auch die abgeurteilten Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen mit Tatzeit „August 2019“ beziehen sich auf Geschehnisse, die nicht von den angeklagten Taten erfasst werden.
Sie betreffen einen Zeitraum, den die Anklage, die lediglich Taten bis „etwa Juli 2019“ einschließt, nicht in den Blick genommen hat. Zwar braucht eine Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben, wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist. Bei wie hier gleichartigen, nicht durch andere individuelle Tatmerkmale als die Tatzeit unterscheidbaren Serientaten heben dagegen Veränderungen und Erweiterungen des Tatzeitraumes die Identität zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf. Insofern kommt dem in der Anklageschrift genannten Tatzeitraum im vorliegenden Fall eine wesentliche, die Kognitionspflicht des Gerichts begrenzende Funktion zu (BGH, Urteil vom 20. November 2014 – 4 StR 153/14, StraFo 2015, 68, 69 mwN). Im Hinblick auf den vom Landgericht festgestellten wöchentlichen Tatrhythmus und das Ende der Übergriffe in der 33. Kalenderwoche (12. - 18. August 2019) ergeben sich mithin maximal drei Taten, die aus dem angeklagten Tatzeitraum fallen und nicht von der Anklage umfasst sind.
d) Da eine Nachtragsanklage nicht erhoben ist, muss das Verfahren in den genannten Fällen wegen des von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses einer fehlenden Anklage eingestellt werden. Die Einstellung des Verfahrens bedingt eine entsprechende Änderung des Schuldspruchs.
II.
Dies führt zum Wegfall der für diese Fälle verhängten Einzelstrafen von einmal einem Jahr und sechs Monaten und dreimal zwei Jahren Freiheitsstrafe. Der Senat schließt bei einer Einsatzstrafe von vier Jahren und sechs Monaten und mit Blick auf die Vielzahl der abgeurteilten Straftaten mit weiteren Einzelstrafen zwischen einem Jahr und sechs Monaten und vier Jahren und drei Monaten aus, dass das Landgericht ohne die nunmehr eingestellten Straftaten zu einer geringeren Gesamtfreiheitsstrafe gelangt wäre.