StPO § 264 Umfang der Tat

BGH, Urt. v. 30.09.2020 – 5 StR 99/20

1. Die Kognitionspflicht gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zu Grunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar.

2. Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 30. September 2020 für Recht erkannt:

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. Oktober 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt und im Übrigen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die gegen den Freispruch gerichtete und mit der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat hinsichtlich des – für die Beweiswürdigung in den Freispruchsfällen relevanten – abgeurteilten Betruges Folgendes festgestellt:

Der bislang unbestrafte Angeklagte war von 1997 bis Ende 2018 als Rechtsanwalt tätig. Im Juni 2019 wurde seine Zulassung widerrufen. Im September 2013 täuschte der insoweit im Rahmen einer Verständigung geständige Angeklagte im Zusammenwirken mit dem gesondert Verfolgten P. zwei Geschädigten vor, sie würden gegen Zahlung von 35.000 Euro ein Darlehen in Höhe von 400.000 Euro ausgezahlt bekommen. Irrtumsbedingt zahlten die Geschädigten den Betrag in bar zu Händen des Angeklagten, der ihn an einen von P. benannten Dritten weiterleitete. Wie der Angeklagte wusste, kam es weder zur Auszahlung des Darlehens noch zur für diesen Fall vereinbarten Rückzahlung der 35.000 Euro. 

2. Nach der insoweit unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 28. März 2018 liegt dem Angeklagten darüber hinaus zur Last, in drei Fällen eine Untreue begangen zu haben.

a) Aufgrund eines zwischen der S. AG als Darlehensgeberin und der S. K. GmbH als Darlehensnehmerin geschlossenen Darlehensvertrages vom 22. Mai 2013 sei er als treuhänderischer Verwalter eines in der Schweiz geführten Bankkontos aufgetreten. Er habe schriftlich unter dem 24. Mai 2013 zugesichert, den im Darlehensvertrag genannten „Sicherheitsbetrag“ in Höhe von 900.000 Euro bis zum 30. Juni 2013 zurückzuzahlen. Dieser Betrag sollte auf das Schweizer Konto von der S. K. GmbH eingezahlt und vom Angeklagten treuhänderisch verwaltet werden. Nachdem bis zum 27. Mai 2013 diese Summe auf dem Konto eingegangen sei, habe der Angeklagte unter Verletzung seiner Treupflicht drei Überweisungen vorgenommen: am 28. Mai 2013 eine Überweisung in Höhe von 29.572,93 Euro auf ein bei der HSB Bank in H. geführtes Konto einer in H. ansässigen T. Ltd., am selben Tag eine Überweisung in Höhe von 21.420 Euro auf das Konto des Rechtsanwaltsbüros B. & K. sowie am 26. Juni 2013 einen Betrag in Höhe von 848.000 Euro auf das genannte Konto der T. Ltd.

b) Hierzu hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:

Das in der Anklageschrift genannte Schweizer Bankkonto hatte der Angeklagte bereits im Juli 2012 eröffnet. Am 30. April 2013 erklärten der Angeklagte und der„CEO“derS. AG, E. ,die S. AG und E. zu den wirtschaftlichen Berechtigten des Treuhandkontos. Hintergrund hierfür war ein zwischen der S. AG und dem Angeklagten unter dem 25. April 2013 geschlossener Treuhandvertrag, wonach der Angeklagte eine Anzahlung in Millionenhöhe treuhänderisch verwalten sollte. Ob es zur Abwicklung dieses Geschäfts kam, ist nicht bekannt.

Im Mai 2013 verhandelte der gesondert Verfolgte P. , der als Vertreter AG auftrat, mit dem Geschäftsführer der S. K. GmbH über ein dieser zu gewährendes Darlehen in Höhe von sechs Millionen Euro. In den Vertragsentwürfen war vorgesehen, dass die S. K. GmbH als Darlehensnehmerin der S. AG als Darlehensgeberin „zur Absicherung der Risiken und Kosten für und durch die Darlehensgewährung“ einen Sicherheitsbetrag in Höhe von 900.000 Euro zur Verfügung stellt, der auf das Schweizer Konto des Angeklagten als Treuhandkonto eingezahlt und von dort vom Treuhänder bis spätestens 30. Juni 2013 zurückgezahlt werden sollte. Der Zeuge Bi. bestand auf einer Bestätigung durch den Treuhänder über seine Tätigkeit und entsprechende Haftungsübernahme.

Ohne in Kontakt mit dem Zeugen Bi. gekommen zu sein, verfasste der Angeklagte unter dem 22. Mai 2013 ein an die S. AG gerichtetes Schreiben, wonach er bestätigte, dass es sich bei dem Konto um ein Treuhandkonto zugunsten der S. AG handele und er entsprechend dem Treuhandvertrag die Sache im Sinne der Treugeberin verwalte. Zudem wies der Angeklagte auf seine Vermögenshaftpflichtversicherung in Höhe von insgesamt 9 Millionen Euro hin. Die S. AG übersandte dem Zeugen Bi. das Schreiben. Dieser bestand auf einer weiteren Bestätigung des Treuhänders, der gegenüber der S. K. GmbH schriftlich zusichern solle, den Betrag in Höhe von 900.000 Euro bis spätestens 30. Juni 2013 auf das Konto der GmbH anzuweisen. Der Angeklagte fertigte am 24. Mai 2013 ein weiteres an die S. AG gerichtetes Schreiben folgenden Inhalts:

„Hiermit bestätigen wir Ihnen, dass der auf das Treuhandkonto angewiesene Betrag in Höhe von 900.000 Euro entsprechend ihren Treuhandvorgaben bis spätestens 30. Juni 2013 wieder auf das Konto der S. K. GmbH überwiesen wird.“ 

Nachdem der gesondert Verfolgte P. diese Bestätigung am 24. Mai 2013 an den Zeugen Bi. Weitergeleitet hatte, veranlasste dieser am selben Tag eine Überweisung in Höhe von 450.000 Euro auf das Schweizer Konto; der Geschäftsführer einer weiteren wirtschaftlich an dem Geschäft beteiligten GmbH überwies ebenfalls einen solchen Betrag. Nach Eingang der 900.000 Euro veranlasste der Angeklagte am 28. Mai 2013 eine Überweisung von 25.000 Pfund Sterling (= 29.572,93 Euro) an das in der Anklage genannte Konto der T. Ltd. in H. sowie am selben Tag eine Überweisung in Höhe von 21.420 Euro auf das Konto des Rechtsanwaltsbüros B. & K. sowie am 26. Juni 2013 eine weitere Überweisung in Höhe von 848.000 Euro auf das genannte Konto der T. Ltd. Anschließend wies das Konto lediglich noch ein Guthaben von 170,76 Euro auf. Der zwischen der S. AG und der S. K. GmbH am 25. Mai 2013 unterzeichnete Darlehensvertrag kam nicht zur Umsetzung. Weder wurde das vereinbarte Darlehen ausgezahlt noch kam es zur Rückzahlung der 900.000 Euro. Im Februar 2015 wurde der Angeklagte, inzwischen rechtskräftig, zur Rückzahlung von 900.000 Euro an die S. K. GmbH verurteilt.

c) Von diesem Sachverhalt hat sich das Landgericht durch Verlesung zahlreicher Urkunden und Vernehmung des Zeugen Bi. überzeugt; der Angeklagte hat hierzu geschwiegen. Der Zeuge P. hat umfassend von seinem Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) Gebrauch gemacht, der Aufenthalt des niederländischen Staatsbürgers E. ist nicht bekannt geworden.

d) In rechtlicher Hinsicht hat das Landgericht eine Untreue des Angeklagten mangels strafbewehrter Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der S. K. GmbH (und der weiteren beteiligten GmbH) verneint. Dies gelte auch, wenn man den Vertrag zwischen der S. AG und dem Angeklagten – wie Landgericht und Kammergericht in dem Zivilrechtsstreit – als echten Vertrag zu Gunsten Dritter einordne. Der Zeuge Bi. sei zwar Opfer eines Betruges geworden. Ob der Angeklagte daran mitgewirkt habe, müsse die Kammer aber nicht aufklären, denn ein solcher Vorwurf sei nicht Gegenstand der zugelassenen Anklage. In Frage käme ohnehin nur eine Beihilfe zum Betrug, weil er nicht aktiv an den Vertragsverhandlungen mitgewirkt habe. Eine Beihilfe durch Bereitstellen seines Kontos sei zwar nicht fernliegend. Ohne Angaben der Tatbeteiligten P. und E. könnten aber bei dem schweigenden Angeklagten keine Feststellungen zu einem etwaigen doppelten Gehilfenvorsatz getroffen werden.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg, denn das Landgericht hat seine

Kognitionspflicht (§ 264 StPO) verletzt.

1. Das Landgericht hat die unter Ziffer 1 bis 3 der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen

Anklage aufgeführten Taten entgegen § 264 StPO nicht unter allen rechtlich relevanten Gesichtspunkten geprüft.

a) Die Kognitionspflicht gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 10. Oktober 2018 – 2 StR 253/18 mwN). 

Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 10. Juni 2020 – 5 StR 435/19 mwN).

b) Gemessen hieran hätte das Landgericht (nach – auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen zutreffender – Ablehnung einer Untreuestrafbarkeit) prüfen müssen, ob sich der Angeklagte durch die Vornahme der drei Überweisungen wegen Mittäterschaft oder Beihilfe zu dem rechtsfehlerfrei festgestellten Betrug zum Nachteil des Zeugen Bi. strafbar gemacht hat.

Zwar war nach den bisherigen Feststellungen die Haupttat mit Eingang der Gelder auf dem vom Angeklagten gehaltenen Treuhandkonto bereits vollendet. Dem Landgericht ist bei seiner Prüfung aber aus dem Blick geraten, dass sukzessive Mittäterschaft oder Beihilfe auch aufgrund von Tatbeiträgen zwischen Vollendung und Beendigung eines Betruges vorliegen kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2001 – 3 StR 244/01, wistra 2001, 378; vom 14. Juni 1989 – 3 StR 156/89, BGHR StGB § 25 Abs. 2 Mittäter 5). Jedenfalls die Prüfung entsprechender Beihilfehandlungen lag überaus nahe, weil der Angeklagte nach den bisherigen Feststellungen zu diesen Zeitpunkten aufgrund seiner vorherigen gegenteiligen Bestätigungen kaum gutgläubig gehandelt haben kann.

c) Das Landgericht hat bei seiner Begrenzung des Prüfungsumfangs zudem einen verkürzten Tatbegriff zugrunde gelegt. Denn seiner Kognitionspflicht unterlag auch eine mögliche strafbare Einbindung des Angeklagten in die von den gesondert Verfolgten P. und E. vorgenommenen Täuschungshandlungen. Die Überweisungen der betrügerisch erlangten Gelder vom Treuhandkonto bilden mit der betrügerischen Erlangung der Gelder eine Tat im Sinne des § 264 StPO, weil sie damit untrennbar zusammenhängen und sich nur als letzter Teilakt des Betruges (Auskehr der Beute) darstellen. In der Anklageschrift ist die Erlangung des „Sicherheitsbetrages“ in Höhe von 900.000 Euro aufgrund des „Darlehensvertrages“ mit der S. AG dementsprechend geschildert.

2. Die Aufhebung des Freispruchs führt zur Aufhebung der diesbezüglichen – rechtsfehlerfrei getroffenen – Feststellungen, weil sie der Angeklagte nicht mit einem Rechtsmittel angreifen konnte.

3. Vorsorglich weist der Senat für die neue Verhandlung und Entscheidung darauf hin, dass die hypothetische Hilfserwägung der Strafkammer, bei einem schweigenden Angeklagten könnten ohne die Angaben der Haupttäter in der vorliegenden Konstellation keine Feststellungen zu einem doppelten Gehilfenvorsatz getroffen werden, rechtlichen Bedenken begegnet (vgl. zu den Anforderungen beim Freispruch aus tatsächlichen Gründen BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – 4 StR 603/19 mwN). 

Grundsätzlich kann auch aus äußeren Umständen ein Schluss auf die innere Tatseite eines schweigenden Angeklagten gezogen werden. Dies gilt gleichermaßen für einen Gehilfen, wenn Aussagen der Haupttäter nicht erlangt werden können. Für die Beweiswürdigung ist in solchen Fällen erforderlich, die festgestellten konkreten Indiztatsachen darzulegen, mögliche Motive für das Handeln des Angeklagten zu erwägen und schließlich vor dem Hintergrund seines Vorlebens und etwaiger einschlägiger Vorstrafen eine Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen vorzunehmen.