StPO § 274 Rügevernichtende Protokollberichtigung – Vorlagebeschluss an GS
StPO § 274 Rügevernichtende Protokollberichtigung – Vorlagebeschluss an GS
BGH, Beschl. vom 23.08.2006 – 1 StR 466/05 - NJW 2006, S. 3582 ff. = JR 2006, 162 m. Anm. Jahn/Widmaier
Vorlagebeschluss an den Großen Senat für Strafsachen zur Frage, ob die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich ist, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt?
hier: Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. August 2006 beschlossen: Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Ist die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt?
Gründe:
I. Das Landgericht München I hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts schlug der Angeklagte während eines Streits über die Abgrenzung reservierter Sitzbereiche in einem Oktoberfestzelt dem Geschädigten Z. mit einem1,3 Kilogrammschweren gläsernen Bierkrug zweimal wuchtig auf den Hinterkopf und einmal in den Bereich des Nackens. Der Geschädigte wurde erheblich verletzt. Die Schläge waren darüber hinaus geeignet, das Leben des Geschädigten in Gefahr zu bringen. Die Revision rügt die Verletzung materiellen Rechts und erhebt eine Formalrüge. Der Senat möchte die Revision des Angeklagten verwerfen, sieht sich daran jedoch - was die Verfahrensrüge anbelangt - durch die Rechtsprechung des 4. und insbesondere des 5. Strafsenats gehindert.
II.
1. Die Revision rügt mit ihrer am 5. Juli 2005 beim Landgericht eingegangenen Revisionsbegründung die Nichtverlesung des Anklagesatzes als Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Die fertig gestellte Sitzungsniederschrift enthielt zunächst keinen Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes. Unter dem 18. August 2005 ergänzten der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin die Sitzungsniederschrift hinsichtlich des ersten Verhandlungstages in einer eigenen Niederschrift dahingehend, dass nach den Worten „Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft München I gegen den Angeklagten am 20.01.05 Anklage zum Schwurgericht des LG München I erhoben hat, die mit Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 18.02.05 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde,“ der Satz angefügt wird: „Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz“. Auch in der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft wird unter Vorlage entsprechender dienstlicher Äußerungen von Verfahrensbeteiligten vorgetragen, dass der Anklagesatz in Wirklichkeit verlesen wurde. Er löste, wie sich der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erinnerte, Unmutsäußerungen im Publikum aus, da die Anklage auf den Vorwurf des versuchten Totschlags gerichtet war. Selbst der Verteidiger in der Hauptverhandlung, der die Revision nicht selbst begründet hat, stellt in seiner Stellungnahme die Verlesung nicht in Abrede, wenn er schreibt: „An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses Rückschlusses erscheint es mir aber durchaus möglich, dass die Erinnerung der Urkundsperson zutreffend ist.“ Die Urkundsbeamtin verwies auf einen bei der Fertigung der Protokollreinschrift übersehenen Übertragungsfehler aus der teilweise stenografischen Aufzeichnung während der Hauptverhandlung, in der der Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes noch enthalten war. Das entsprechende Blatt der vorläufigen Aufzeichnungen hatte die Protokollführerin ihrer dienstlichen Erklärung beigefügt.
2. Nach der bisherigen, ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (seit BGHSt 2, 125, 126, zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. unten) muss die Protokollberichtigung unberücksichtigt bleiben, da sie der Revisionsbegründung des Angeklagten zu dessen Nachteil die Tatsachengrundlage entzieht. Ebenso wenig können nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs übereinstimmende Erklärungen der Urkundspersonen den Inhalt des Protokolls in Einzelpunkten zum Nachteil des Angeklagten in Frage stellen (BGHSt 8, 283; 10, 342, 343; 13, 53, 59; 22, 278, 280; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 3, 6, 8, 11; BGH NStZ 1983, 375; 1986, 39, 40; 1992, 49; 1993, 94; 2000, 214; 2003, 218; 2005, 281, 282; BGH StV 1986, 287, 288; 2002, 183; 2002, 530; 2004, 297; BGH, Beschluss vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01 -; Beschluss vom 11. August 2004 - 3 StR 202/04 -). Sie dürfen nicht einmal zur Auslegung bestimmter Formulierungen im Protokoll herangezogen werden (BGHSt 13, 53, 59). Ob - und in welchen Fallkonstellationen - distanzierende Erklärungen der - oder einer der - Urkundspersonen dem Protokoll generell die formelle Beweiskraft entziehen und damit grundsätzlich den Weg zum Freibeweisverfahren eröffnen (BGHSt 4, 364, 365; Engelhardt in Karlsruher Kommentar zur StPO 5. Aufl. § 274 Rdn. 6) oder nicht (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 3; BGH NStZ 2005, 281, 282), kann hier dahinstehen (vgl. BGHR StPO Beweiskraft 13; offen gelassen in BGH NStZ 2002, 270, 272; soweit sie zugunsten des Angeklagten wirken vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 8, 28; BGH NStZ 1988, 85; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 274 Rdn.27 m.w.N.). Die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Protokolls im Freibeweisverfahren liegen auch sonst nicht vor. Die - noch nicht ergänzte Sitzungsniederschrift ist eindeutig, sie leidet - für sich betrachtet - nicht an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich (zum Wegfall der Beweiskraft bei entsprechenden Mängeln vgl. RGSt 63, 408, 410; BGHSt 16, 306, 308; 17, 220, 221; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 12, 16, 24, 25, 27; BGH NJW 1976, 977; NStZ 2000, 49; bei Kusch NStZ-RR 2000, 293; StV 1999, 639; 2004, 297; JR 1961, 508; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 274 Rdn. 23 ff.). Gemäß der -negativen - Beweiskraft (§ 274 StPO) des Protokolls in seiner ursprünglichen, unvollständigen Fassung stünde im vorliegenden Fall der Rechtsverstoß somit fest. Der Senat vermag in einem Fall wie dem vorliegenden auch nicht auszuschließen, dass das Urteil auf dem Rechtsverstoß, der Nichtverlesung des Anklagesatzes beruht (zur Bedeutung der Verlesung des Anklagesatzes vgl.
G. Schäfer, Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Protokolls unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Seite 707, 724).
3. Der Senat ist allerdings der Ansicht, dass - entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - die formelle Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO auch hinsichtlich eines berichtigten Protokolls uneingeschränkt gilt, also auch dann, wenn einer zuvor vom Angeklagten erhobenen Rüge der Boden entzogen wird.
III. Die Strafprozessordnung besagt weder in den §§ 271 bis 274 StPO noch an anderer Stelle etwas zur Zulässigkeit der Protokollberichtigung (im Gegensatz zu § 164 ZPO) oder zur - relativen - Unbeachtlichkeit der Beweiskraft einer Protokollberichtigung für das Revisionsgericht.
a) Die Zulässigkeit der - unbefristeten - Protokollberichtigung wurde im Grundsatz vom Reichsgericht (noch offen gelassen in RGSt 2, 76, 77) alsbald anerkannt: „Denn im allgemeinen wird es als eine Berufspflicht des Urkundsbeamten anzusehen sein, Fehler der Beurkundung, von denen er sich nachträglich überzeugt hat, behufs der Verhütung von Rechtsverletzungen zur Anzeige zu bringen. Der Berücksichtigung einer solchen Anzeige, welche ein Audienzprotokoll betrifft, steht die Vorschrift in § 274 StPO, welche gegen den die Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zulässt, nach Ansicht des Senats nicht entgegen. Denn diese Vorschrift schließt gegenüber den Bekundungen des Audienzprotokolls nur den Gegenbeweis aus; eine Berichtigung oder Ergänzung des Audienzprotokolls durch übereinstimmende Erklärung des Vorsitzenden und des Gerichtsschreibers enthält jedoch einen Widerruf der früheren Beurkundung und entzieht derselben, soweit der Widerruf reicht, die Beweiskraft, sodass es eines Gegenbeweises nicht mehr bedarf“ (RGSt 19, 367, 370; entspr. RGSt 57, 394, 396). „Dass ein Protokoll von den Urkundspersonen berichtigt (ergänzt) werden kann, ist unbestritten. Es muss sogar als Pflicht der Urkundsbeamten bezeichnet werden, erkannte Fehler der Beurkundung richtig zu stellen, um mögliche Rechtsnachteile Dritter zu verhüten“ (OGHSt 1, 277, 278). Davon geht auch der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung aus (seit BGHSt 1, 259 und BGHSt 2, 125; 10, 145).
b) Der Grundsatz, dass eine Protokollberichtigung einer zugunsten des Angeklagten erhobenen Verfahrensrüge nicht den Boden entziehen darf („Rügeverkümmerung“), findet sich - aufbauend auf der Rechtsprechung der preußischen Obergerichte (vgl. RGSt 43, 1, 10) - schon zu Beginn der Reichsgerichtsrechtsprechung (RGSt 2, 76,77 f.) und blieb ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts bis zum Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 11. Juli 1936 (RGSt 70, 241). Auch wenn diese Entscheidung sachliche Abwägungen enthält, darf sie nach Auffassung des Senats allerdings im Hinblick auf andere, im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut stehende Formulierungen keine weitere Beachtung mehr finden. Grundlegend war der Beschluss der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts vom 13. Oktober 1909 (RGSt 43, 1). Dieser Rechtsprechung (vgl. auch RGSt 56, 29; 59, 429, 431)
folgten dann nach dem Krieg verschiedene Obergerichte (vgl. Oberster Gerichtshof für die Britische Zone, OGHSt 1, 277,279 m.w.N.) und schließlich der Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 2, 125; 10, 342, 343; 12, 270, 271; 22, 278, 280; 34, 11, 12; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 11, 13; BGH NStZ 1984, 521; 1995, 200, 201; StV 2002, 183; JZ 1952, 281). Der Grundsatz, wonach eine Protokollberichtigung einer Verfahrensrüge des Angeklagten nicht die Grundlage entziehen darf, wurde früher auch übertragen auf Änderungen in einem noch nicht fertig gestellten - noch nicht unterschriebenen - Protokoll, die nach Eingang der Revisionsbegründung am Protokollentwurf vorgenommen wurden (BGHSt 10, 145,147 f.; 12, 270,271 f.). Nach Einführung des § 273 Abs. 4 StPO (Urteilszustellung erst nach Protokollfertigstellung) durch das StPÄG 1984 ist das nicht mehr relevant (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 26). In diesen Fällen, in denen die Protokollberichtigung für das Revisionsgericht nicht beachtlich ist, führt das dazu, dass Sachverhalte, die aufgrund der formellen Beweiskraft des - unberichtigten - Protokolls als unwiderlegbar vermutet werden, der Verfahrenswirklichkeit nicht zu entsprechen brauchen (RGSt 43, 1, 6; BGHSt 26, 281, 283; 36, 354, 358). Abzustellen ist in diesen Fällen somit auf einen fiktiven Sachverhalt. Anfänglich stellte sich noch die Frage, ob das Verbot, einer zugunsten des Angeklagten erhobenen Rüge die Grundlage zu entziehen, schon eine Protokollberichtigung verbietet. So zu Beginn noch das Reichsgericht (RGSt 2, 76; 21, 323, 324). Später wird nicht mehr klar unterschieden, verwischt sich die Terminologie, auch in den grundlegenden Entscheidungen RGSt 43, 1 und BGHSt 2, 125 (vgl. auch RGSt 59, 429, 431). Dort wird zwar in den Leitsätzen auf die Nichtberücksichtigung einer Berichtigung abgestellt, während in den Begründungen von der Unzulässigkeit bereits der Protokollberichtigung die Rede ist (RGSt 43, 1, 6; BGHSt 2, 125,127 f.). Heute ist anerkannt, dass das Protokoll auch in diesen Fällen -sofern die Urkundspersonen übereinstimmend einen Fehler erkannt haben - zu berichtigen ist (vgl. BGHSt 10, 342, 343; 12, 270,271 f.; 34, 11; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 8, 13; BGH JZ 1952, 281; BGH NStZ 1992, 49; so auch schon OGHSt 1, 277, 278). Denn der Sitzungsniederschrift kann über das Revisionsverfahren hinaus Bedeutung zukommen (etwa in einem Strafverfahren zur Frage, ob eine Vereidigung stattgefunden hat oder nicht), wenn auch nicht mit der formellen Beweiskraft des § 274 StPO. Eine Protokollberichtigung ist immer zu berücksichtigen, wenn sie zugunsten des Angeklagten wirkt (BGHSt 1, 259,261 f.) oder wenn sie - bei einem einheitlichen Vorgang - teilweise zugunsten, teilweise zu Ungunsten einer Rüge vorgenommen worden ist (RGSt 56, 29; BGH aaO). Zeitliche Grenzen für die Protokollberichtigung gibt es nicht.
c) Folgende Argumente werden für die Rechtsprechung, wonach eine Protokollberichtigung einer Rüge nicht den Boden zum Nachteil des Angeklagten entziehen darf, vorgetragen: Mit dem Eingang der Revisionsbegründungsschrift erwerbe der Beschwerdeführer ein prozessuales Recht auf Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für die Revisionsinstanz, zumal er selbst praktisch keine Möglichkeit habe, die Berichtigung des Protokolls zu erzwingen (BGHSt 2, 125, 126; RGSt 43, 1, 9; 59, 429, 431). Da der Beschwerdeführer zur Begründung seiner Verfahrensrüge nur das Protokoll in der vorliegenden Form verwerten dürfe, müsse ihmdas Recht zustehen, sich nachträglichen Änderungen zu seinen Lasten zu widersetzen (OGHSt 1, 277, 280), müsse er gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Protokollberichtigung gesichert sein (BGHSt 2, 125, 127).
Der Gesetzgeber habe mit § 274 StPO eine Norm geschaffen, die der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der absoluten Wahrheit einräume (BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283; Tepperwien in Festschrift für Meyer-Goßner S. 595,603 f.). Der Gesetzgeber habe die mögliche Ausnutzung einer prozessrechtlich zulässigen Befugnis zu wahrheitswidrigen Zwecken gesehen und in Kauf genommen (RGSt 43, 1, 6; OGHSt 1, 277, 282). Die Neugestaltung des § 274 StPO sei eine Sache des Gesetzgebers (BGH, Beschluss vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01 -; OGHSt 1, 277, 280).
Mit zunehmender Zeit lasse das Erinnerungsvermögen (der Urkundspersonen) nach. Die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen sei nicht auszuschließen (RGSt 43, 1, 5; OGHSt 1, 277, 281; BGHSt 2, 125, 128; Jahn/Widmaier, JR 2006, 166, Anmerkung zum Anfragebeschluss des Senats vom 12. Januar 2006 -1 StR 466/05 -, JR 2006, 162).
Bei uneingeschränkter Berücksichtigung nachträglicher Änderungen bestehe die Gefahr, dass die Sitzungsniederschrift nicht mehr mit äußerster Sorgfalt abgefasst wird.
d) Die Rechtsprechung, wonach eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge des Angeklagten nicht zu seinen Ungunsten die Grundlage entziehen darf, fand auch Kritik. Anders als das Reichsgericht judizierte schon das Reichsmilitärgericht (RMG 9, 35 - Urteil vom 24. Juni 1905 -; entsprechend RMG 15, 282). Der Auffassung des Reichsmilitärgerichts wollte sich der II. Strafsenat des Reichsgerichts anschließen. Dies führte zu der oben genannten Entscheidung der Vereinigten Senate vom 13. Oktober 1909 (RGSt 43, 1), die allerdings die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts festschrieb. Ernst Beling kritisierte dies und äußerte seinerzeit die Hoffnung, im „wissenschaftlichen Kampf zwischen Reichsgericht und Reichsmilitärgericht“ werde es im Laufe der Zeit gelingen, die Auffassung des Reichsgerichts zu ändern (vgl. Beling, Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichts vom 6. Oktober 1902 bis 19. April1912, inder Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 38, 1917, Seite 612, 632 ff.). Auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs finden sich Vorbehalte: Ob eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge die Grundlage entziehen darf, wird vom Senat offen gelassen in BGH NJW 1982, 1057, sowie vom 5. Strafsenat in BGHR StPO § 274 Beweiskraft 22 (Berichtigung des Namens einer Dolmetscherin bei offensichtlicher Namensverwechslung ist zu-lässig; vgl. auch BGH NStZ-RR 1997, 73). Kritisch der 2. Strafsenat in BGHSt 36, 354, 358: „Sachverhalte, die auf Grund der formellen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift unwiderlegbar zu vermuten sind, brauchen der wahren Sachlage nicht zu entsprechen (vgl. RGSt 43, 1, 6; BGHSt 26, 281, 283). Das ist eine bedenkliche Konsequenz der Vorschrift des § 274 StPO, von der Eb. Schmidt (Lehrkomm. StPO II § 188 Erl. 13) sagt, sie sei ‚ziemlich außergewöhnlich’. … Die Regelung, die § 274 trifft, beruht allein auf pragmatischen Erwägungen ... . Diese Erwägungen widerstreiten dem grundsätzlich auch für das Revisionsgericht geltenden Gebot, die wahre Sachlage zu erforschen, wenn prozessual erheblich Tatsachen (von Amts wegen oder wenn sie Gegenstand einer Verfahrensrüge sind) der Klärung bedürfen“. Zuletzt sprachen sich definitiv - in obiter dicta - für eine Änderung der Rechtsprechung zur Berücksichtigung einer Protokollberichtigung trotz Rügeverlust der 2. Strafsenat (BGH NStZ 2005, 281, 282 - nach Zweifeln in BGH NStZ 2002, 270, 272 und BGH NJW 2001, 3794, 3796), und der 1. Strafsenat (Beschluss vom 13. Oktober 2005 - 1 StR 386/05). Der 3. Strafsenat ließ dies im Beschluss vom 27. Juni 2006 (3 StR 174/06) noch offen. In der Literatur äußerte sich zuletzt kritisch G. Schäfer, aaO; so auch Detter, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 329, und nun Lampe NStZ 2006, 366, Unzulässigkeit der "Rügeverkümmerung"?. Demgegenüber streiten für die bisherige Rechtsprechung: Tepperwien aaO und Jahn/Widmaier, JR 2006, 166.
IV. Der Senat ist unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung (BGH NStZ 1984, 521 - 1 StR 344/84 -; BGHSt 34, 11, 12 - 1 StR 643/85 - nicht tragend -; BGH NStZ 1995, 200, 201 - 1 StR 641/94 - nicht tragend) der Auffassung, dass die formelle Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO uneingeschränkt gilt, auch dann, wenn eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge zum Nachteil des Angeklagten die Tatsachengrundlage entzieht. Dem stand bislang jedenfalls folgende Rechtsprechung -soweit ersichtlich - der anderen Senate entgegen: 2. Strafsenat: BGHSt 10, 145, 147 (2 StR 34/57); 3. Strafsenat: BGHSt 2, 125 (3 StR 575/51); BGH JZ 1952, 281 (3 StR 1069/51); BGH, Urteil vom 9. Januar 1985 - 3 StR 514/84; BGH NStE Nr. 7 zu § 344 StPO (3 StR 63/88); BGH StV 2002, 183 (3 StR 175/01); BGH 1, 259 (3 StR 106/51 - nicht tragend); BGHR StPO § 274 Beweiskraft 11 (3 StR 338/91 - nicht tragend), 13 (3 StR 63/92 -nicht tragend); 4. Strafsenat: BGHSt 12, 270 (4 StR 408/58 - nicht tragend); BGH NStZ 2002, 219 (4 StR 249/01 -wohl inzident - nicht tragend); Urteil vom 21. Dezember 1966 - 4 StR 404/66 - (nicht tragend); 5. Strafsenat: BGHSt 10, 342, 343 (5 StR 197/57); BGH NStZ 1993, 51, 52 (5 StR 126/92 wohl inzident - nicht tragend -); Beschluss vom 3. Dezember 2003 - 5 StR 462/03 (inzident - nicht tragend - [insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2004, 451]). Mit Beschluss vom 12. Januar 2006 - 1 StR 466/05 - (NStZ-RR 2006, 112) hat der Senat bei den anderen Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 GVG angefragt, ob an dem oben aufgestellten Rechtssatz entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird. Der 2. Strafsenat (Beschluss vom 31. Mai2006 inVerbindung mit Beschluss vom 3. Juli 2006 -2 ARs 53/06 -) und der 3. Strafsenat (Beschluss vom 22. Februar 2006 - 3 ARs 1/06 -) haben der hier vertretenen Rechtsansicht unter Aufgabe entgegenstehender Rechtsprechung zugestimmt. Der 4. Strafsenat (Beschluss vom 3. Mai 2006 - 4 ARs 3/06 -) und der 5. Strafsenat (Beschluss vom 9. Mai 2006 -5 ARs 13/06 -) halten an ihrer bisherigen Rechtsprechung fest, wonach eine Protokollberichtigung, durch die einer zulässigen Verfahrensrüge zum Nachteil des Beschwerdeführers die Tatsachengrundlage entzogen würde, bei der Revisionsentscheidung nicht berücksichtigt werden darf.
V. Ausgangspunkt für die Vorlage des Senats an den Großen Senat für Strafsachen des Senats ist Folgendes: Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet. Das bedeutet, dass bei der Beurteilung von Verfahrensverstößen der wahre Sachverhalt zugrunde zu legen ist. Dies hält der Senat für entscheidend. Die Verpflichtung zur Entscheidung auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts erhält inzwischen dadurch zusätzliches Gewicht, dass das Bundesverfassungsgericht in letzter Zeit mehrfach die Auffassung vertreten hat, die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer sei bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat (BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2897, 2898; BVerfGK 2, 239, 251 und zuletzt BVerfG - Kammer - NJW 2006, 672, 673). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht für den Fall der Aufhebung eines Urteils wegen eines der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers von einer Einbeziehung des infolge der Durchführung des Revisionsverfahrens verstrichenen Zeitraums aus (vgl. EGMR NJW 2002, 2856, 2857 Abs. 41). Vor diesem Hintergrund der Wahrheitspflicht verstärkt durch das Verbot der - u.U. im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK unangemessenen (abzustellen ist auf das Gesamtverfahren) -Verfahrensverzögerung und des Gebots der Beschleunigung des Verfahrens insbesondere in Haftsachen ist es nicht mehr akzeptabel, Urteile aufgrund eines fiktiven Sachverhalts wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben, der nach dem Inhalt des - berichtigten - Protokolls tatsächlich nicht vorliegt. Demgegenüber sind die für die bisherige, letztlich von einem - nach Meinung des Senats nicht gerechtfertigten - Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen getragenen Rechtsprechung vorgebrachten Gründe nicht genügend tragfähig. Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Nichtberücksichtigung einer Protokollberichtigung begründet, findet im Gesetz keine Stütze. „Ein prozessuales Recht der Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes beurkundet oder etwas Geschehenes nicht beurkundet wird, gibt es nicht“ (so schon RMG 9, 35, 42). Der Revisionsführer kann zwar die Berichtigung eines Protokolls nicht erzwingen. Er kann eine Änderung aber anregen. Deckt sich dies mit der Erinnerung der Urkundspersonen, wobei diese zur Unterstützung der Erinnerung auch auf Aufzeichnungen anderer zurückgreifen dürfen, wird dies zur Protokollberichtigung führen, auch zugunsten des Angeklagten zur Untermauerung einer sonst aussichtslosen Verfahrensrüge (vgl. BGH StV 1988, 45).
- Der Grundsatz, wonach einer erhobenen Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Grundlage zum Nachteil des Angeklagten entzogen werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung geändert werden, eines Gesetzes bedarf es nicht. Dem vor einer Neuausrichtung einer Rechtsprechung in Betracht zu ziehenden Wert der Beständigkeit der Rechtsordnung kommt hier kein Gewicht zu, da sich an der Pflicht der Instanzgerichte, dem tatsächlichen Ablauf entsprechende Protokolle zu fertigen, nichts ändert. Es geht um eine prozessrechtliche Frage, nicht um die Auslegung materiellen Rechts.
- Berichtigung setzt bei beiden Urkundspersonen sichere Erinnerung voraus. Ist diese nicht vorhanden, dann kann das Protokoll nicht (mehr) berichtigt werden. Ein Argument gegen die Berücksichtigung einer Berichtigung durch das Revisionsgericht ist die Erfahrung nachlassender Erinnerung nicht. Häufig kann eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie im vorliegenden Fall auf die unmittelbar während der Verhandlung getätigten Aufzeichnungen, die Grundlage der Sitzungsniederschrift waren. Schließlich stammt der Hinweis auf die nachlassende Erinnerungskraft aus einer Zeit, als es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 StPO) noch nicht gab.
- Die Ausweitung der Rechtsprechung zum Wegfall der formellen Beweiskraft wegen erkennbarer Mängel des Protokolls, wie Lücken und Widersprüchen, hatte keine Auswirkungen auf die Sorgfalt bei der Protokollerstellung. Die Qualität der Sitzungsniederschriften schwankt von Gericht zu Gericht, mit der Rechtsprechung zum Umfang der Beweiskraft nach § 274 StPO hat das nichts zu tun. Einer Urteilsaufhebung, um die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften zu veranlassen (vgl. Meyer-Goßner DRiZ 1997, 471, 474), bedarf es nicht. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, den Tatrichter zu maßregeln (BGH StV 2004, 196).
Die Berücksichtigung jeder Protokollberichtigung durch das Revisionsgericht könnte auch der Ausweitung der Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls (vgl. etwa BGHR StPO § 274 Beweiskraft 25, 27; BGH NStZ 2002, 270, mit kritischer Anmerkung Fezer, 272, kritischer Anmerkung Köberer in StV 2002, 527; BGH, Beschluss vom 11. August 2004 -3 StR 202/04; weitere Entscheidungen vgl. BGH-Nack unter dem Registerstichwort: § 274 StPO Freibeweis) begegnen, eine Ausweitung zu der in der Literatur vorgebracht wird, die Senate suchten in Grenzfällen geradezu nach Möglichkeiten der Durchbrechung der formellen Beweiskraft des Protokolls (vgl. Detter, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 329, 330); Park, Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 335, 338, 340). Dementsprechend bedürfte es weniger Beweiserhebungen über den Ablauf des Verfahrens, die Rekonstruktion der Hauptverhandlung. Soweit nunmehr Jahn/Widmaier (JR 2006, 166) für einen "eng umrissenen Bereich" ein Freibeweisverfahren vorschlagen, merkt hierzu der 2. Strafsenat in seinem (Antwort-)Beschluss vom 31. Mai 2006 (2 ARs 53/06) - aus Sicht des Senats zutreffend - an: „Die absolute Beweiskraft des Protokolls soll gerade beim Revisionsgericht das Freibeweisverfahren vermeiden. Vor allem aber ist der ‚eng umrissene Bereich’, in dem ‚mit praktischer Gewissheit feststeht, dass das Protokoll in dem für die Rüge wesentlichen Bereich falsch sein muss’, weitgehend konturlos; seine nähere Eingrenzung wäre einzelfallabhängig und somit u.U. beliebig“. Ebenso wäre mit der Berücksichtigung der - umfassenden -Protokollberichtigung durch das Revisionsgericht der Erfolgsaussicht bewusst unwahrer Verfahrensrügen Grenzen gesetzt (zum Diskussionsstand hierzu vgl. Tepperwien, aaO; Detter StraFo 2004, 329, 334; Park StraFo 2004, 335, 337). Die prozessuale Wirksamkeit auch einer bewusst unwahren Verfahrensrüge wurde von der Rechtsprechung trotz erkennbaren Unbehagens und geäußerter Zweifel (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21, 22, 24) bis vor kurzem nie verneint (vgl. RGSt 43, 1; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 21, 22, 27; BGH NStZ 2002, 270, 272). Erst jetzt hat der 3. Strafsenat die wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll dann als rechtsmissbräuchlich missbilligt, wenn der Beschwerdeführer sicher weiß, dass sich der Fehler unzweifelhaft nicht ereignet hat (Urteil vom 11. August 2006 - 3 StR 284/05 -, laut Presseerklärung des Bundesgerichtshofs vom selben Tag, die schriftlichen Urteilsgründe lagen zurzeit der Beschlussfassung noch nicht vor). Früher galt das Erheben einer - bewusst -unwahren Verfahrensrüge (die Protokollrüge genügt bekanntlich nicht) - unabhängig von ihrer prozessualen Wirksamkeit - als standeswidrig (vgl. Dahs, Die unwahre Verfahrensrüge, AnwBl. 1950/51, 90 ff.; „Der Rechtsanwalt hat hier wie überall nur dem Recht und der Wahrheit zu dienen. Es ist ihm nie erlaubt, zur Wahrheit in Widerspruch zu treten. Die wahrheitswidrige Verfahrensrüge ist eine standes-rechtliche Verfehlung“ [S. 90]. „Der Zweck [Aufhebung eines Fehlurteils] heiligt auch hier nicht die Mittel“ [S. 91]. „… der Anwalt, der die hier wiedergegebenen Grundsätze nicht anerkennt, muss mit der Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens seitens des Generalstaatsanwalts rechnen“ [S. 92]), während es heute fast schon als anwaltlicher Kunstfehler gelten könnte, sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu bedienen, dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet (vgl. hierzu m.w.N.: G. Schäfer aaO, Seite 707,726 f., zur Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge kommt nunmehr -gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch das Handbuch des Strafverteidigers von Dahs, von der 1. Auflage 1969, Rdn. 754, bis zur neuesten 7. Aufl. [ab
4. Auflage Dahs jun.] 2005, Rdn. 918, „ … braucht der Verteidiger sich nicht zu scheuen, von dem durch das Protokoll ‚geschaffenen’ unverrückbaren Tatbestand als ‚Wahrheit’ auszugehen“). Nur einen scheinbaren Ausweg bietet jedoch die Beauftragung eines neuen Verteidigers für die Revisionsbegründung, der „dann vielleicht im Zustand der ‚Unberührtheit’ gehalten werden kann“ (Dahs aaO Rdn. 920), denn dieser hat sich grundsätzlich beim Instanzverteidiger über den Verfahrensablauf kundig zu machen (vgl. BGH NStZ 2005, 283; die Verfassungsbeschwerde dagegen wurde nicht zur Entscheidung angenommen unter Hinweis auf den Grundsatz der Einheitlichkeit eines über mehrere Instanzen geführten Verfahrens [BVerfG StraFo 2005, 512]). Auch diese Entwicklung spricht dafür, die Zurückhaltung bei der umfassenden Berücksichtigung der formellen Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung der Sitzungsniederschrift einer bereits zugunsten des Angeklagten erhobenen Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird. Dies ist im Gegensatz zur Unzulässigkeit einer unwahren Verfahrensrüge der einzige zweifelsfrei mit der formellen Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO zu vereinbarende Weg, um einer derartigen Rüge den Erfolg zu verwehren (vgl. G. Schäfer aaO 727).
VI. Zum Antwortbeschluss des 4. Strafsenats bemerkt der Senat:
1. Die Auffassung des 4. Strafsenats zur Beruhensfrage teilt der Senat nicht. Mit der Frage, ob das Urteil im vorliegenden Fall auf der Nichtverlesung des Anklagesatzes beruht (vgl. 4 ARs 3/06 Rdn. 9), hat sich der Senat auseinandergesetzt, dies aber im Anfragebeschluss kurz gefasst (vgl. oben Rdn. 11) und sich zur Bedeutung des Anklagesatzes auf die oben genannte Zitierung von G. Schäfer beschränkt. Denn die Beurteilung der Beruhensfrage im Einzelfall obliegt dem Senat. Dessen Bewertung wird vom Großen Senat - jedenfalls bis zur Willkürgrenze - bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Anfrage zugrunde gelegt (vgl. Franke in Löwe/Rosenberg, 25. Aufl. GVG § 132 Rdn. 42). Nachdem die Beruhensfrage nun aber problematisiert wurde, hierzu Folgendes: Die Verlesung des Anklagesatzes ist wesentliches Verfahrenserfordernis und elementarer Teil der Hauptverhandlung, deren Unterlassung im Allgemeinen schon deshalb die Revision begründet (Senat NStZ 1986, 39 [40]). Außerdem dient die Verlesung, auch wenn der Angeklagte den Inhalt der Anklageschrift schon kennt - wovon jedenfalls beim verteidigten Angeklagten regelmäßig auszugehen ist - auch der Information der ehrenamtlichen Richter und der Öffentlichkeit. Das Verlesen des Anklagesatzes soll darüber hinaus dem Angeklagten noch einmal den Ernst der Situation klar machen und ihm die Bedeutung der nachfolgenden Belehrung und Sachvernehmung vor Augen führen. Sie ist deshalb für sein weiteres Prozessverhalten von erheblichem Gewicht. In der Regel kann deshalb bei Nichtverlesung des Anklagesatzes auch das Beruhen des Urteils hierauf nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden. Dies kann ebenso bei einfach gelagerten Sachverhalten gelten. Denn auch dann wird dem Angeklagten das vorgeworfene strafrechtlich relevante Geschehen durch den Vortrag des Anklagesatzes nochmals plastisch vor Augen geführt. Bei schwierigen Wirtschaftsstrafsachen, insbesondere bei Steuerstrafsachen, oder bei Serienstraftaten (Anlagebetrug, Betäubungsmitteldelikte, Einbrüche) mag der Informationswert des mündlichen Vortrags des Anklagesatzes eher geringer sein. Es bleibt die oben genannte - unverzichtbare - Wirkung auf den Angeklagten, dem - zumal er selbst in diesen Fällen weiß, worum es in der Sache geht - der Eintritt in die entscheidende Phase des gesamten Verfahrens nachdrücklich verdeutlicht wird. Im Übrigen war der Sachverhalt des vorliegenden Falls auch nicht einfach gelagert (vgl. BGH NJW 1982, 1057), schon im Hinblick auf den äußeren Ablauf, aber auch hinsichtlich der Bewertung des Gefährdungspotentials der Tathandlung sowie der Verletzungen. Im Anklagesatz wird dies komprimiert über zwei Seiten geschildert. Angeklagt worden war wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen fahrlässiger Körperverletzung zum Nachteil einer weiteren Person -insoweit erfolgte dann keine Verurteilung. Die Hauptverhandlung erstreckte sich über fünf Tage auch unter Anhörung verschiedener Sachverständiger. Die oben genannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Beruhensfrage in diesem Zusammenhang, aber auch zur Unvollständigkeit des Protokolls (vgl. dazu auch Rdn.10 inder Stellungnahme des 4. Strafsenats -4 ARs 3/06 -,sowie BGH NJW 2001, 3794 und die darin aufgelisteten Fälle) zeigt im Übrigen einen nicht ganz unbedenklichen Umgang mit dem Grundsatz der relativen Unwirksamkeit einer Protokollberichtigung. Auch dies war Anlass für den Senat, nunmehr eine Änderung der Rechtsprechung zum Geltungsumfang einer Berichtigung der Sitzungsniederschrift vorzuschlagen.
2. Einer erneuten Zustellung des Urteils (vgl. Rdn.11 in4 ARs 3/06) bedarf es nach Meinung des Senats nach einer Berichtigung der Sitzungsniederschrift nicht. Das Protokoll ist -auch im Sinne von § 273 Abs. 4 StPO - an dem Tag fertig gestellt, an dem die letzte der beiden erforderlichen Unterschriften vollzogen wurde (§ 271 Abs. 1 StPO), auch wenn es unrichtig oder lückenhaft ist oder sonstige formelle Mängel aufweist (vgl. Engelhardt im Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. § 271 Rdn. 8). Spätere Berichtigungen derartiger Fehler berühren den Zeitpunkt der Fertigstellung nicht mehr (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271 Rdn. 31). Der Beschwerdeführer ist auch sonst immer gehalten, soweit er Rechtsverstöße sieht und geltend machen will, neben der Sachrüge auch alle Fehler des Verfahrens innerhalb der Revisionsbegründungsfrist gemäß § 344 Abs.2 Satz 2 StPO zu rügen. Ebenso wenig wie es grundsätzlich keine Wiedereinsetzung in der vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zur Nachholung von Verfahrensrügen gibt, kann nach einer Berichtigung des fertig gestellten Protokolls mit erneuter Zustellung des Urteils die Revisionsbegründungsfrist neu eröffnet werden. Eine Nachholung muss allenfalls dann ermöglicht werden, wenn allein aufgrund des Inhalts der Protokollberichtigung ein Rechtsfehler geltend gemacht werden soll. Falls solch ein Fall denkbar ist, dann wäre insoweit -hinsichtlich dieser Rüge - ausnahmsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Anlass für die umfassende Neueröffnung der Revisionsbegründungsfrist wäre dies jedenfalls nicht. Außerdem gäbe eine erneute Zustellung - die Auffassung des 4. Strafsenats zugrunde gelegt - nur dann Sinn, wenn von der umfassenden Wirksamkeit der Berichtigung der Sitzungsniederschrift ausgegangen werden kann. Um dies zu klären, bedarf es aber zunächst der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen hierüber.
3. Die Gesetzgebung hat auch nicht mittelbar die relative Unwirksamkeit einer Protokollberichtigung im strafrechtlichen Revisionsverfahren festgeschrieben (zu Rdn.27 in4 ARs 3/06). Die Stellung des Angeklagten im Strafverfahren ist dem der Parteien in kontradiktorischen Verfahren nicht vergleichbar. Eine relative Unwirksamkeit einer Protokollberichtigung ist in diesen Verfahren nicht denkbar. Dass die bisherige Rechtsprechung zu der sehr speziellen revisions-rechtlichen Frage der relativen Unwirksamkeit einer Protokollberichtigung im Strafverfahren sich so im Bewusstsein der betroffenen Bevölkerungskreise (aller Angeklagten) verfestigt hat, dass ihr gewohnheitsrechtlicher Charakter zukommt, erscheint dem Senat doch äußerst fraglich. Hinzu kommt, dass diese Rechtsprechung nie unumstritten war. Der Adressatenkreis der Rechtsanwender jedenfalls wird wohl kaum unter dem Gesichtspunkt des Gewohnheitsrechts auf der bisherigen Auffassung zur relativen Unwirksamkeit der Protokollberichtigung beharren wollen.
4. Der Senat stimmt dem 4. Strafsenat darin zu, dass die Verfahrensbeteiligten vor einer substanziellen Protokollberichtigung -etwa soweit es nicht nur offensichtliche Schreibversehen betrifft - zu hören sind (vgl. Rdn.33 in4 ARs 3/06). Der Senat lehnt es aber entschieden ab, die Abänderungsmöglichkeit oder die umfassende Geltung der Berichtigung davon abhängig zu machen, dass keiner der Verfahrensbeteiligten - substantiiert - widerspricht. Das würde das Problem der unwahren Verfahrensrüge nur auf eine andere Ebene verlagern beziehungsweise erstrecken. Ein Verteidiger, der eine unwahre Verfahrensrüge erhoben hat, wird sich, wenn die entsprechende Protokollberichtigung avisiert wird, schwer tun, nicht entsprechend der Rüge - also substantiiert - zu widersprechen. In diesem Zusammenhang betont der Senat nochmals, dass er die Zweifel an der Redlichkeit der Richter und der Urkundsbeamten der Geschäftsstellen nicht teilt, auch nicht dahingehend, dass sich der Vorsitzende „psychologisch verständlich“ auf „plötzliche Erinnerung“ beruft - auch dies beinhaltet den Vorwurf des Vorsatzes - und seinen Mitarbeiter, der das Protokoll führte - ebenfalls - zu einer Falschbeurkundung veranlasst, da dieser nicht zu widersprechen wagt (vgl. Rdn.25 in4 ARs 3/06). Für völlig ausgeschlossen schließlich hält es der Senat, dass Vorsitzender und Urkundsbeamter, dann, wenn bei der vorherigen Anhörung einer oder mehrere der anderen Verfahrensbeteiligten widersprechen, gleichwohl ohne sichere Erinnerung oder gar wider besseres Wissen das Protokoll - unzutreffend - berichtigen. Sind sich die Urkundspersonen aber sicher, dass sich der Widersprechende - zumindest - irrt, dann erfolgt die Berichtigung der Sitzungsniederschrift zu Recht.
VII. Der Senat legt die -streitige - Rechtsfrage dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor (§ 132 Abs. 2 GVG). Nach Auffassung des Senats ist sie auch von grundsätzlicher Bedeutung. Die Vorlage erfolgt deshalb sowohl aus Gründen der Divergenz zur Rechtsprechung des 4. und insbesondere des 5. Strafsenats als auch nach § 132 Abs. 4 GVG (vgl. BGHSt 40, 360, 366).
Anmerkung: Vgl. auch den Einzelfall einer unwahren Verfahrensrüge im Beschluss des BGH vom 8. Februar 2006 -2 StR 13/06 - JR 2006, 170: „Soweit die Revision vorträgt, der Verteidiger habe wesentliche Teile von Zeugenaussagen nicht mitbekommen, weil er erkennbar eingeschlafen sei, wird dieser Vortrag durch die dienstlichen Stellungnahmen der Berufsrichter, die an der Verhandlung teilgenommen haben, und der Sitzungsstaatsanwältin widerlegt. Danach hat der Verteidiger gegenüber den benannten Zeugen ohne Aufforderung intensiv von seinem Fragerecht Gebrauch gemacht.“ Da hier –anders als in der in der abgedruckten Entscheidung des BGH 1 StR 466/05 - NJW 2006, S. 3582 ff. = JR 2006, 162 m. Anm. Jahn/Widmaier der geltend gemachte Verfahrensfehler dem Freibeweis zugänglich war, konnte das Revisionsgericht hier die unwahre Verfahrensrüge zurückweisen.
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