StPO § 338 Nr. 1 Schlafender Schöffe während der Anklageverlesung als absoluter Revisionsgrund
BGH, Urt. v. 14.10.2020 – 1 StR 616/19
Schläft ein Schöffe während der Verlesung der Anklageschrift für einen nicht unerheblichen Zeitraum fest ein, muss deren Verlesung wiederholt werden. Anderenfalls ist das Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt und ein absoluter Revisionsgrund gegeben.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts am 14. Oktober 2020 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 24. Juni 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Steuerhinterziehung in 159 Fällen, davon in 112 Fällen in Tateinheit mit Untreue und davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, sowie wegen Bestechlichkeit in 33 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und zwei Monate der verhängten Strafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt. Zudem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 1 StPO Erfolg.
I.
Die Revision macht zu Recht geltend, dass die Wirtschaftsstrafkammer, die in dieser Sache entschieden hat, nicht vorschriftsmäßig besetzt war, weil der Schöffe S. im ersten Termin zur Hauptverhandlung am 12. März 2019 über einen nicht unerheblichen Zeitraum fest geschlafen hat, so dass er der Verlesung der Anklageschrift nicht vollständig folgen konnte. Dass der Schöffe geschlafen hat, ist nach einer Gesamtwürdigung der Umstände, wie sie sich aus der Darstellung des Verteidigers in der Revisionsbegründung ergeben, die durch die dienstliche Äußerung des Staatsanwalts bestätigt wird, bewiesen.
Nach der Revisionsbegründung bemerkte der Verteidiger des Angeklagten am Nachmittag des ersten Verhandlungstages während der Verlesung des Anklagesatzes, dass der Schöffe S. die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet und eine erschlaffte Sitzhaltung eingenommen hatte. Er beobachtete den Schöffen, der weiterhin in dem beschriebenen Zustand auf der Richterbank saß, mindestens eine Minute lang und wandte sich dann während der Verlesung der Tatvorwürfe Nr. 176 bis 177 der Anklageschrift mit der Bemerkung an den Vorsitzenden Richter, er möge sich versichern, ob der Schöffe noch wach sei. Der Vorsitzende erwiderte spontan, dass der Schöffe noch wach sei; der Schöffe selbst reagierte auf die vom Verteidiger veranlasste Unterbrechung der Verlesung der Anklageschrift und den Wortwechsel zwischen dem Verteidiger und dem Vorsitzenden nicht. Als sich die Berufsrichter zu dem Schöffen hinwandten, öffnete dieser die Augen und benötigte ersichtlich einen kurzen Augenblick, um zu realisieren, dass er eingeschlafen war. Die Verlesung der Anklageschrift wurde anschließend fortgesetzt, aber nicht – auch nicht teilweise – wiederholt.
Diese Darstellung des Verteidigers wird durch die Angaben des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft in der Revisionsgegenerklärung dahin bestätigt, dass der Verteidiger, als er selbst mit der Verlesung der Anklageschrift befasst gewesen sei, den Vorsitzenden um Prüfung gebeten habe, ob der Schöffe eingeschlafen sein könne. Der Schöffe habe seiner – des Staatsanwalts – Beobachtung nach weder die Intervention des Verteidigers noch die Äußerung des Vorsitzenden mitbekommen. Wie es dazu gekommen sei, dass der Schöffe kurze Zeit später „erwacht sei“, sei ihm nicht bekannt. Er könne auch über den „Zeitraum des Schlafs“ des Schöffen keine Angaben machen.
Die Angaben der beisitzenden Richter in ihren dienstlichen Stellungnahmen stehen der Darstellung von Verteidiger und Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nicht entgegen. Insbesondere ergeben sich aus diesen Stellungnahmen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Schöffe in der fraglichen Zeit entgegen dem nachvollziehbar auf das geschilderte Verhalten des Schöffen gestützten Eindruck von Verteidiger und Staatsanwalt wach gewesen sein könnte; beide beisitzenden Richter haben erklärt, dass sie nicht aus eigener Wahrnehmung heraus sagen könnten, ob der Schöffe geschlafen hat.
Danach liegt, weil es sich bei der Verlesung des Anklagesatzes um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung handelt und der Schöffe dieser während einer erheblichen Zeitspanne schlafbedingt nicht gefolgt ist, der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO vor (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. April 2019 – 5 StR 87/19 Rn. 9; vom 19. Juni 2018 – 5 StR 643/17 Rn. 3 und vom 20. Oktober 1981 – 5 StR 564/81 Rn. 1).
II.
Die Sache bedarf danach neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird dabei Gelegenheit haben, das Tatgeschehen konsequent den Stufen des aus § 2 EStG ersichtlichen Veranlagungsschemas folgend – ohne rechnerische Mängel und Zählfehler (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts; ergänzend hierzu bemerkt der Senat, dass auch in weiteren Fällen, u.a. in den Fällen Nr. 1, 7, 9, 13, 20, 24, 32, 33, 52, 61, 127, 132, 140, 147, 155, 167, 170, 179 und 181 der jeweils hinterzogene Betrag rechnerisch unrichtig ist) – darzustellen und Widersprüche zwischen Feststellungen und rechtlicher Würdigung zu beseitigen (vgl. insoweit ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts Fall 85 bzw. 86 UA S. 160 einerseits und UA S. 381 andererseits). Gerade in Anbetracht des Umfangs des Verfahrens mag in Erwägung gezogen werden, ob nicht eine übersichtliche automationsgestützte Berechnungsdarstellung zweckmäßig sein könnte, um Unrichtigkeiten zu vermeiden.