StPO § 338 Nr. 6 Absoluter Revisionsgrund bei Fehlen eines gerichtlichen Beschlusses zum Ausschluss der Öffentlichkeit

BGH, Urt. v. 21.01.2021 – 2 StR 188/20

1. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO ist gegeben, wenn es für den Ausschluss der Öffentlichkeit in den Fällen des § 171b Abs. 1 oder Abs. 2 GVG an einem entsprechenden Gerichtsbeschluss (§ 174 Abs. 1 S. 2 GVG) fehlt. Nicht ausreichend ist eine Anordnung des Vorsitzenden.

2. Die Rüge, das Tatgericht habe versäumt, den nach § 171b Abs. 3 S. 2 GVG gesetzlich vorgeschriebenen Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussvortr.ge anzuordnen, greift nicht durch, wenn angesichts des Geständnisses des Angeklagten und der Bildaufnahmen der Taten auszuschließen ist, dass in nicht öffentlichen Schlussvorträgen noch Erhebliches hierzu hätte vorgebracht werden können.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts am 21. Januar 2021 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 30. Oktober 2019 mit den Feststellungen aufgehoben

a) in den Fällen II. 2 bis 4 der Urteilsgründe,

b) hinsichtlich des Strafausspruchs im Übrigen sowie c) im Maßregelausspruch. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Widerstandsunfähigen in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I. Die Rüge, § 338 Nr. 6 StPO sei verletzt, weil die Öffentlichkeit während der Vernehmung der Zeugin P. lediglich auf Anordnung des Vorsitzenden ausgeschlossen worden sei, hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen II. 2 bis 4 der Urteilsgründe (Straftaten zum Nachteil der Geschädigten P. ) und im Maßregelausspruch.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Am Hauptverhandlungstermin vom 4. September 2019 beantragte die Zeugin P. , während ihrer Vernehmung die Öffentlichkeit auszuschließen. Die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und sein Verteidiger traten dem nicht entgegen. Daraufhin erging eine Anordnung des Vorsitzenden, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen werde. Sodann wurde sie ausgeführt und die Zeugin in nicht öffentlicher Sitzung zur Sache vernommen. Sie blieb unvereidigt und wurde sodann entlassen. Anschließend wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt.

2. Die Rüge ist zulässig und begründet.

a) Der Zulässigkeit der Rüge steht nicht entgegen, dass der Angeklagte oder sein Verteidiger die Anordnung des Vorsitzenden nicht gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet haben. Bedarf eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von vornherein eines Gerichtsbeschlusses (s. unten I. 2. b), so ist der Anwendungsbereich des § 238 Abs. 1 StPO nicht eröffnet. Anlass für ein Verfahren nach § 238 Abs. 2 StPO besteht deshalb nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585).

b) Die Rüge ist auch begründet. Das durch das Protokoll bewiesene Vorgehen steht nicht im Einklang mit § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG. Danach ist vorgesehen, dass ein Beschluss, der die Öffentlichkeit ausschließt, grundsätzlich öffentlich verkündet werden muss. Vorausgesetzt ist ein Gerichtsbeschluss, nicht ausreichend ist eine Anordnung des Vorsitzenden. Damit liegt ein durchgreifender Verfahrensverstoß nach § 338 Nr. 6 StPO vor (BGH, Beschluss vom 29. Juni 1984 – 2 StR 170/84, StV 1984, 499; Beschluss vom 1. Dezember 1998 – 4 StR 585/98, NStZ 1999, 371). Für eine einschränkende Auslegung von § 338 Nr. 6 StPO dahin, dass bei einem Antrag einer schützenswerten Person auf Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 3 Satz 1 StPO eine Verletzung des Beschlusserfordernisses von ihr nicht erfasst sein soll, ist nach Auffassung des Senats kein Raum. Der Generalbundesanwalt stützt seine diesbezüglichen Erwägungen auf den Beschluss des 4. Strafsenats vom 9. Mai 2019 – 4 StR 605/18 (BGHSt 64, 64), wonach das Fehlen eines den Ausschluss der Öffentlichkeit für die Schlussvorträge anordnenden Gerichtsbeschlusses dann keinen absoluten Revisionsgrund darstellt, wenn die Voraussetzungen des § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG vorliegen. § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG betrifft jedoch einen Fall, in dem das Vorliegen der Voraussetzungen nach dieser Vorschrift zwingend und ohne weitere Prüfung zum Ausschluss der Öffentlichkeit führt und auch der Ausschlussumfang abschließend gesetzlich geregelt ist (SSW-StPO/Quentin, 4. Aufl., § 174 GVG Rn. 17). Dem Verfahrensmangel eines Gerichtsbeschlusses kommt dann geringeres Gewicht zu, weil auf der Grundlage eines sicher feststehenden Verfahrensablaufs eine unzulässige Beschränkung der Öffentlichkeit auszuschließen und der Ausschlussgrund für alle Verfahrensbeteiligten sowie die Öffentlichkeit eindeutig erkennbar ist (BGH, Beschluss vom 9. Mai 2019 aaO, S. 67). So liegt der Fall hier nicht. Stellt eine schützenswerte Person einen Antrag nach § 171b Abs. 3 Satz 1 GVG, muss ihm (nur) stattgegeben werden, wenn die vom Gericht vorzunehmende Prüfung ergibt, dass die Voraussetzungen von § 171b Abs. 1 oder 2 vorliegen. Ist das nicht der Fall, erfolgt eine Ablehnung ebenfalls durch Beschluss (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 171b GVG Rn. 10; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 171b Rn. 14) 

c) Der dargelegte Verfahrensverstoß führt zur Aufhebung der Verurteilung in den Fällen II. 2 bis 4 der Urteilsgründe, im Gesamtstrafenausspruch sowie im Maßregelausspruch. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs führt ein Verstoß gegen die Regeln der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nicht notwendig zur Aufhebung des gesamten Urteils. Bezieht sich der Vorgang, während dessen die Öffentlichkeit zu Unrecht ausgeschlossen war, nur auf einen abtrennbaren Teil des Urteils, so ist auch nur dieser Teil des Urteils aufzuheben (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 1995 – 1 StR 342/95, NJW 1996, 138 mwN). So liegt es hier. Der fehlerhaft angeordnete Ausschluss der Öffentlichkeit betrifft lediglich die Straftaten zum Nachteil der Zeugin P. (Fälle II. 2 bis 4 der Urteilsgründe) sowie auch den auch auf diese Taten gestützten Maßregelausspruch. Zudem entzieht die Aufhebung von Einzelstrafen dem Gesamtstrafenausspruch seine Grundlage. Im Übrigen ist ein Einfluss des Verfahrensfehlers auf die angefochtene Entscheidung denkgesetzlich ausgeschlossen.

II. Die weiteren Verfahrensbeanstandungen bleiben im Ergebnis ohne (weitergehenden) Erfolg.

1. Der Rüge, der Ausschluss der Öffentlichkeit für die Inaugenscheinnahme einer Videodatei zur Tat zum Nachteil der Geschädigten U. sei nicht ordnungsgemäß begründet worden, ist aus vom Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift genannten Gründen, der Erfolg versagt. 

2. Auf die Rüge, das Landgericht habe den Angeklagten verfahrensfehlerhaft nicht auf die Möglichkeit der Anordnung einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hingewiesen, kommt es – nachdem die Anordnung der Maßregel bereits aufgrund der Rüge der Verletzung der Öffentlichkeit der Aufhebung unterliegt – nicht mehr an.

3. Die Rüge, das Landgericht habe versäumt, den nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG gesetzlich vorgeschriebenen Ausschluss der Öffentlichkeit während der Schlussvorträge anzuordnen, greift soweit die übrig gebliebenen Schuldsprüche in den Fällen II. 1 und II. 5 der Urteilsgründe betroffen sind – jedenfalls nicht durch, weil angesichts des Geständnisses des Angeklagten und der Bildaufnahmen der Taten auszuschließen ist, dass in nicht öffentlichen Schlussvorträgen noch Erhebliches hierzu hätte vorgebracht werden können (vgl. Senat, Beschluss vom 12. November 2015 – 2 StR 311/15, NStZ 2016, 180). Ob die Verfahrensbeanstandung hinsichtlich der Strafaussprüche Erfolg haben könnte, braucht der Senat nicht zu entscheiden, da der Strafausspruch in diesen Fällen bereits aus sachlich-rechtlichen Gründen keinen Bestand haben kann (s. unten III.).

III.

Die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung aufgrund der Sachrüge lässt – soweit diese nach den Verfahrensbeanstandungen Bestand hat – Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten im Schuldspruch nicht erkennen. Hingegen erweist sich der Strafausspruch in den Fällen II. 1 und II. 5 der Urteilsgründe als rechtlich durchgreifend bedenklich. Das Landgericht hat bei der Festsetzung der Einzelstrafen nicht erörtert, dass gegen den Angeklagten zugleich Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB bedarf es insbesondere auch beim Zusammentreffen von Freiheitsstrafe und angeordneter Sicherungsverwahrung einer Gesamtwürdigung des Gewichts aller gegen einen Angeklagten verhängten Rechtsfolgen, um deren Wirkung insgesamt und damit die Schuldangemessenheit der Gesamtsanktion zu prüfen (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 724; s. auch BGH, Urteil vom 29. November 2005 – 5 StR 339/05, NStZ-RR 2006, 105; Urteil vom 19. Juni 2008 – 4 StR 114/08, NJW 2008, 3008). Dass die Strafkammer eine solche Würdigung hier vorgenommen hat, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen. Der Senat kann deshalb nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei rechtsfehlerfreier Würdigung niedrigere Strafen verhängt hätte.