StPO § 338 Nr. 7 Ausschluss von der richterlichen Tätigkeit durch Zeugenvernehmung

BGH, Urt. v. 11.11.2020 – 2 StR 241/20

1. Nach § 338 Nr. 7 StPO unterfällt ein Urteil dann der Aufhebung, wenn es nicht innerhalb der Absetzungsfrist vollständig zu den Akten gebracht ist. Vollständig ist das Urteil erst, wenn es mit den Unterschriften aller Berufsrichter, die an der Entscheidung mitgewirkt haben, innerhalb der gesetzlichen Fristen zu den Akten gelangt. Ist ein Richter verhindert, muss seine Unterschrift binnen der Frist durch einen Verhinderungsvermerk ersetzt werden.

2. Einem ausgeschlossenen Richter ist jede weitere richterliche Tätigkeit in der betroffenen Sache verwehrt.

3. Nach Eintritt des Ausschlussgrundes ist dem Richter eine - rechtskonforme - Herstellung der Urteilsgründe ebenso wenig möglich wie die Teilnahme an einer Fassungsberatung oder die Urteilsunterzeichnung.

4. Die vom Richter nach Eintritt des Ausschlussgrundes bewirkten Amtshandlungen ‒ hier seine Unterschrift unter dem Urteil sowie die Anbringung des Verhinderungsvermerkes für die ortsabwesende Beisitzerin ‒ sind fehlerhaft.

5. Da § 22 StPO alle Personen von weiteren richterlichen Handlungen ausschließt, bei denen aus den in § 22 Nr. 1 bis Nr. 5 StPO angeführten Gründen die abstrakte Gefahr der Voreingenommenheit besteht, kommt es nicht darauf an, dass der Richter in dem Zeitraum zwischen seiner förmlichen Zeugenvernehmung und der Unterzeichnung der Urteilsurkunde tatsächlich keinen weiteren Einfluss auf den Inhalt der Urteilsgründe genommen hat.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts am 11. November 2020 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 13. Dezember 2019, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

 

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie Beihilfe zum bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge, der Vorsitzende Richter der Strafkammer habe die Urteilsurkunde zu einem Zeitpunkt unterzeichnet, zu dem er von der Ausübung des Richteramts gemäß § 22 Nr. 5 StPO ausgeschlossen war, Erfolg.

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Das angefochtene Urteil wurde am 13. Dezember 2019 nach 16 Hauptverhandlungstagen verkündet. Die Frist zur Urteilsabsetzung lief bis 14. Februar 2020. Die letzte Fassungsberatung der drei Berufsrichter fand zwischen dem 27. Januar und dem 30. Januar 2020 statt. Am 5. Februar 2020 wurde der Vorsitzende in einem Parallelverfahren als Zeuge vernommen, in dem den dortigen Angeklagten unter anderem vorgeworfen wurde, in einer Vielzahl von Fällen gemeinschaftlich mit dem hier Angeklagten als Mitglieder einer Bande Betäubungsmittel in nicht geringer Menge gehandelt zu haben. Gegenstand der Vernehmung war der Inhalt der geständigen Einlassung des Angeklagten in dem gegen ihn geführten Verfahren. Am 6. Februar 2020 übermittelte der Berichterstatter die letzte Fassung der Urteilsgründe elektronisch an den Vorsitzenden, der diese am 7. Februar 2020 ausdruckte und die in der letzten Fassungsberatung überarbeiteten Passagen nochmals las. Am 7. Februar 2020 unterzeichneten der Berichterstatter und der Vorsitzende die Urteilsurkunde, ohne weitere Änderungen an dieser vorzunehmen. Ferner brachte Letzterer einen Verhinderungsvermerk betreffend die urlaubsbedingt ortsabwesende weitere Beisitzerin auf der Urteilsurkunde an. Die so unterzeichneten Urteilsgründe gelangten noch am selben Tag zur Geschäftsstelle.

2. Die Rüge, der Vorsitzende sei gemäß § 22 Nr. 5 StPO von der Mitwirkung an der Unterzeichnung des Urteils ausgeschlossen, hat insoweit Erfolg, als dieser aus Rechtsgründen gehindert war, das Urteil zu unterschreiben und ein - in dieser Konstellation gebotener – Verhinderungsvermerk betreffend seine Person durch den ältesten beisitzenden Richter unterblieben ist. Damit sind die Urteilsgründe nicht vollständig innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden. Dies begründet, insoweit ausschließlich, den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO. Angesichts dessen bedarf es keiner Entscheidung, inwieweit bei Mitwirkung eines nach der Urteilsverkündung ausgeschlossenen Richters jenseits der hier verfahrensgegenständlichen Fallkonstellation, etwa bei inhaltlicher Einflussnahme auf die Urteilsgründe − auch wenn dies nach dem Wortlaut des § 338 Nr. 2 StPO nicht naheliegt − dieser vom Beschwerdeführer genannte Revisionsgrund betroffen sein könnte.

a) Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben. Dem steht nicht entgegen, dass der Revisionsführer das prozessuale Geschehen unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt gewürdigt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2007 ‒ 4 StR 66/07, juris Rn. 3; Beschluss vom 10. August 2004 ‒ 3 StR 240/04, juris Rn. 6).

b) Der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Rechtsverstoß begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

aa) Nach § 338 Nr. 7 StPO unterfällt ein Urteil unter anderem dann der Aufhebung, wenn es nicht innerhalb der Absetzungsfrist vollständig zu den Akten gebracht ist (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 1989 ‒ 3 StR 155/89, BGHR StPO § 275 Abs. 1 Satz 1 Akten 1). Vollständig ist das Urteil erst, wenn es mit den Unterschriften aller Berufsrichter, die an der Entscheidung mitgewirkt haben (§ 275 Abs. 2 Satz 1 StPO), innerhalb der Fristen des § 275 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 StPO zu den Akten gelangt. Ist ein Richter verhindert, muss seine Unterschrift binnen gleicher Frist durch einen Verhinderungsvermerk nach § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO ersetzt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1999 - 4 StR 459/99, juris Rn. 5; Schmitt in Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 275 Rn. 4). Fehlt eine Unterschrift (vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 2010 - 3 StR 30/10, juris Rn. 2; Urteil vom 9. November 1994 ‒ 3 StR 436/94, juris Rn. 1; vgl. auch Senat, Beschluss vom 10. Januar 1978 - 2 StR 654/77, BGHSt 27, 334 f. zur Unterschrift, die Korrekturen nicht abdeckt) oder ein Verhinderungsvermerk (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2002 ‒ 5 StR 433/02, juris Rn. 3) ist das Urteil auf die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 7, § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO ebenso aufzuheben, wie wenn ein Verhinderungsvermerk unzulässig angebracht wurde (vgl. zur fehlerhaft angenommenen Verhinderung aus Rechtsgründen BGH, Beschluss vom 19. Februar 2019 ‒ 5 StR 513/18, juris Rn. 2 f.; Senat, Urteil vom 8. November 2006 ‒ 2 StR 294/06, juris Rn. 3; BGH, Beschluss vom 19. August 1992 ‒ 5 StR 386/92, juris Rn. 1). 

bb) Verhindert an der Unterschrift ist ein Richter, wenn er seine Unterschrift aus tatsächlichen

Gründen nicht mehr leisten kann oder aus Rechtsgründen nicht mehr leisten darf (LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl., § 275 Rn. 45; Pauly in Radtke/Hohmann, StPO, § 275 Rn. 14 f.).

(1) Eine Verhinderung aus Rechtsgründen wird angenommen, wenn ein Berufsrichter durch das Ausscheiden aus dem Amt gehindert wird, ein Urteil zu unterschreiben, das unter seiner Mitwirkung zuvor verkündet wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juli 1994 ‒ 5 StR 664/93). Denn er darf, ohne Richter zu sein, die hiermit verbundene richterliche Tätigkeit, die auch seine Unterschrift unter den schriftlichen Urteilsgründen umfasst, nicht mehr ausüben (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juli 1994 ‒ 5 StR 664/93; BVerwG, Beschluss vom 1. Juni 1999 - 2 CB 5/90, NJW 1991, 1192; BayObLG, Beschluss vom 30. März 1967 - RReg. 4bSt 65/66, NJW 1967, 1578; Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 29. Aufl., Rn. 808). Eine derartige Verhinderung aus Rechtsgründen ist durch den Vorsitzenden oder an seiner Stelle durch den dienstältesten Richter unter dem Urteil zu vermerken (BGH, Beschluss vom 5. Juli 1994 ‒ 5 StR 664/93; Meyer-Goßner/Appl, aaO).

(2) Nichts anderes gilt für eine Person innerhalb der Gerichtsorganisation, die in einer bestimmten Sache − etwa als ausgeschlossener Richter − keine (weiteren) richterlichen Funktionen wahrnehmen darf (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. März 1956 - 1 BvR 479/55, BVerfGE 4, 421, 427; KK-StPO/Scheuten, 8. Aufl., § 22 Rn. 20). Einem ausgeschlossenen Richter ist jede weitere richterliche Tätigkeit in der betroffenen Sache verwehrt (vgl. LR-StPO/Siolek, 27. Aufl., § 22 Rn. 52; Alexander in Radtke/Hohmann, StPO, § 22 Rn. 34). Er steht einer Person außerhalb des Gerichts gleich (vgl. BVerfG, aaO). Denn der Ausschluss nach § 22 StPO wird kraft Gesetzes in dem Zeitpunkt wirksam, in dem der Ausschlussgrund entsteht; er wirkt für die Zukunft (KKStPO / Scheuten, aaO; LR-StPO/Siolek, aaO; Alexander in Radtke/Hohmann, aaO). Seine weitere Tätigkeit birgt - auch noch nach der Urteilsverkündung − die Gefahr eines Eingriffs in die Rechtspflege, die Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt; er kann, obwohl er in dieser Sache nicht mehr der gesetzliche Richter ist, durch seine Autorität die Gestaltung der Urteilsgründe bis zu deren vollständiger Absetzung maßgeblich beeinflussen (vgl. BVerfG, aaO, vgl. auch zur Bedeutung der Urteilsgründe, Eschelbach in Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 7. Aufl., Kap. 30 Rn. 97 ff.). Nach Eintritt des Ausschlussgrundes ist dem Richter eine - rechtskonforme - Herstellung der Urteilsgründe ebenso wenig möglich wie die Teilnahme an einer Fassungsberatung oder die Urteilsunterzeichnung. Diese Rechtsfolge wird zu bedenken sein, wenn die Gerichtsverwaltung um eine Aussagegenehmigung für einen Richter zu einer Zeit ersucht wird, zu der dieser mit der Absetzung der Urteilsgründe „in derselben Sache“ befasst ist. Bei der Bescheidung des Gesuchs wird  auch in den Blick zu nehmen sein, dass der Strafrechtspflege durch die Versagung der Aussagegenehmigung in derartigen Fällen regelmäßig kein Nachteil erwächst, da das Gericht vorzugsweise andere Personen, die an der Verhandlung teilgenommen haben, als Zeugen zu den in Frage stehenden Tatsachen hören kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Januar 2008 - 4 StR 507/07, StV 2008, 283, 284; vom 22. Mai 2007 - 5 StR 530/06, StV 2007, 617). Sollte sich eine Vernehmung des Richters gleichwohl als unerlässlich erweisen, wird in Betracht zu ziehen sein, ob der Wahrheitsfindung nicht auch durch eine Aussagegenehmigung für einen Zeitraum nach vollständiger Urteilsabsetzung genügt werden kann.

cc) Hieran gemessen ist das Urteil nicht vollständig innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist zu den Akten gelangt.

(1) Der Vorsitzende war nach seiner Zeugenvernehmung vom 5. Februar 2020 in dieser Sache von der weiteren Ausübung des Richteramts ausgeschlossen (§ 22 Nr. 5 StPO). Angesichts seiner Aussage zur Einlassung des Angeklagten in dem von ihm geführten Verfahren ist er zu demselben Tatgeschehen förmlich als Zeuge vernommen worden (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 22. Mai 2007 - 5 StR 530/06, aaO). Seine Bekundungen erfassten damit auch Fragen, die im Hinblick auf die Schuld- und Straffrage in den abzusetzenden Urteilsgründen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu bewerten waren.

(2) Die vom Vorsitzenden nach Eintritt des Ausschlussgrundes bewirkten Amtshandlungen ‒ hier seine Unterschrift unter dem Urteil sowie die Anbringung des Verhinderungsvermerkes für die ortsabwesende Beisitzerin ‒ waren fehlerhaft (vgl. LR-StPO/Siolek, aaO, § 22 Rn. 56). Da § 22 StPO alle Personen von weiteren richterlichen Handlungen ausschließt, bei denen aus den in § 22 Nr. 1 bis Nr. 5 StPO angeführten Gründen die abstrakte Gefahr der Voreingenommenheit besteht (vgl. Senat, Urteil vom 29. April 1983 - 2 StR 709/82, NJW 1983, 2711, 2712; vgl. auch KK-StPO/Scheuten, aaO, Rn. 1), kommt es nicht darauf an, dass der Vorsitzende in dem Zeitraum zwischen seiner förmlichen Zeugenvernehmung und der Unterzeichnung der Urteilsurkunde tatsächlich keinen weiteren Einfluss auf den Inhalt der Urteilsgründe genommen hat.