StPO § 395 Schwere Freiheitsberaubung – Revision des Nebenklägers

BGH, Urt. v. 28.01.2021 – 3 StR 279/20

1. Die Revision eines Nebenklägers bedarf eines genauen Antrags oder einer Begründung, die deutlich macht, dass er eine Änderung des Schuldspruchs hinsichtlich eines Nebenklagedelikts im Sinne des § 395 Abs. 1, Abs. 3 StPO verfolgt.

2. Besondere Gründe zur Nebenklagebefugnis gem. § 395 Abs. 3 StPO sind gegeben, wenn der möglicherweise durch die Tat Verletzte nach einer auf den Einzelfall bezogenen Gesamtschau prozessual schutzbedürftig. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn schwere Folgen der Tat vorliegen.

3. Aufgrund einer zulässigen Revision eines Nebenklägers hat– unabhängig von dessen ausdrücklichen Beanstandungen – das Revisionsgericht jedenfalls zu prüfen, ob das Tatgericht Strafvorschriften unangewendet gelassen hat, die zum Nebenklageanschluss berechtigen und dieselbe Zielrichtung haben wie das Delikt, dessen Nichtanwendung der Nebenkläger in zulässiger Weise beanstandet.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 28. Januar 2021 für Recht erkannt:

1. Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 19. März 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Freiheitsberaubung verurteilt. Der Nebenkläger erstrebt mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision die Verurteilung des Angeklagten auch wegen unterlassener Hilfeleistung. Das Rechtsmittel hat im Ergebnis Erfolg.

I. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am Morgen des 22. Juli 2019 begab sich der Nebenkläger gegen 10:00 Uhr zur Wohnanschrift des Angeklagten. Nach seiner Ankunft kam es zwischen den beiden zu einer mit Blick auf Anlass und Intensität nicht näher aufklärbaren verbalen und körperlichen Auseinandersetzung. Im Zuge dieser sperrte der Angeklagte die Eingangstür ab, um den Beschwerdeführer zu hindern, sich aus der Wohnung zu begeben. Zwischen 12:30 und 13:00 Uhr „verließ“ der Nebenkläger die Wohnung durch das Fenster des Schlaf-/Wohnzimmers, dessen Unterkante sich in einer Höhe von 7,61 m über dem Boden befindet, und stürzte auf die darunterliegende Rasenfläche. Er lehnte die ihm durch einen Zeugen angebotene Hilfe ab und entfernte sich zunächst ohne fremde Unterstützung in Richtung der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er schließlich aufgrund seiner schwerwiegenden Verletzungen zusammenbrach. Gegen 13:01 Uhr tätigten Passanten einen Notruf. Der Beschwerdeführer wurde notärztlich versorgt und zur Behandlung in eine Klinik verbracht. Er erlitt multiple Prellungen und Hämatome im Gesichtsbereich, eine Gehirnerschütterung, eine Fraktur des linken kleinen Fingers, ein stumpfes Bauchtrauma mit einem Abriss der Nierenarterie links und akuter intraabdomineller Blutung, weshalb die linke Niere durch eine Notoperation entfernt werden musste. Dass der Angeklagte - wie ihm in der Anklageschrift zur Last gelegt - den Beschwerdeführer aus dem Fenster stieß oder der Sturz anderweitig auf dessen Verhalten zurückzuführen war, hat die Jugendkammer nicht feststellen können.

2. Das Landgericht ist davon ausgegangen, der Angeklagte habe sich der Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB schuldig gemacht. Den Qualifikationstatbestand des § 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB hat es nicht als erfüllt angesehen, da es sichere Feststellungen zu einem inneren Zusammenhang zwischen dem Absturz und der Freiheitsberaubung nicht habe treffen können. Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB scheide aus, da dieser nach seiner nicht zu widerlegenden Einlassung davon ausging, der Nebenkläger, der sich zunächst selbständig vom Unfallort entfernte, bedürfe keiner Hilfe. Davon, dass der Angeklagte dessen späteren Zusammenbruch auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet habe, hat sich das Landgericht nicht überzeugt.

II. Die zulässige Revision des Nebenklägers hat in der Sache Erfolg.

1. Das Rechtsmittel ist zulässig, insbesondere ist der Beschwerdeführer rechtsmittelbefugt. Hierzu gilt:

a) Nach § 400 Abs. 1 StPO kann der Nebenkläger ein Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt wird oder dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt. Deshalb bedarf seine Revision eines genauen Antrags oder einer Begründung, die deutlich macht, dass er eine Änderung des Schuldspruchs hinsichtlich eines Nebenklagedelikts im Sinne des § 395 Abs. 1, Abs. 3 StPO verfolgt (vgl. BGH, Beschluss vom 16. April 2015 - 2 StR 348/14, juris Rn. 3 mwN). Mit der Nebenklage kann sich nach § 395 Abs. 3 StPO anschließen, wer durch eine andere als in § 395 Abs. 1 StPO genannte Tat verletzt ist, wenn dies aus besonderen Gründen, insbesondere wegen der schweren Folgen der Tat, zur Wahrnehmung seiner Interessen geboten ist. § 395 Abs. 3 StPO ist ein Auffangtatbestand für die Nebenklagebefugnis von Opfern mit besonders schwerwiegenden Tatfolgen (vgl. BT-Drucks. 16/12098, S. 9, 30 f.). Entsprechend dem Wortlaut der Norm und dem Willen des Gesetzgebers sind alle rechtswidrigen Taten anschlussfähig (BGH, Beschluss vom 9. Mai 2012 - 5 StR 523/11, NJW 2012, 2601 Rn. 4 mwN), sofern der Antragsteller als Träger eines durch den Straftatbestand geschützten Rechtsguts verletzt ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. Februar 1963 - 4 StR 9/63, NJW 1963, 1162, 1163; vgl. auch Beschluss vom 22. Januar 2002 - 4 StR 392/01, NJW 2002, 1356 f.; KK-StPO/Walther, 8. Aufl., § 395 Rn. 3 unter Verweis auf KK-StPO/Moldenhauer, 8. Aufl., § 172 Rn. 19) und besondere Gründe im Sinne des § 395 Abs. 3 StPO vorliegen. Besondere Gründe im Sinne des § 395 Abs. 3 StPO sind gegeben, wenn der möglicherweise durch die Tat Verletzte nach einer auf den Einzelfall bezogenen Gesamtschau prozessual schutzbedürftig ist (BGH, Beschluss vom 9. Mai 2012 - 5 StR 523/11, NJW 2012, 2601 Rn. 6; LR/Wenske, StPO, 26. Aufl., Nachtrag § 395 Rn. 12). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn schwere Folgen der Tat vorliegen, mithin, wenn beim Verletzten körperliche oder seelische Schäden mit einem gewissen Grad an Erheblichkeit bereits eingetreten oder zu erwarten sind. Der Schweregrad braucht dabei nicht die Schwelle schwerer körperlicher oder seelischer Schäden im Sinne des § 397a Abs. 1 Nr. 3 StPO zu erreichen, indes ist eine abstrakte Betrachtung des Tatunrechts - anders als bei den Katalogtaten des § 395 Abs. 1 StPO - für sich ohne Aussagekraft (vgl. BT-Drucks. 16/12098, S. 31; LR/Wenske, StPO, 26. Aufl., Nachtrag § 395 Rn. 12/13).

b) Entsprechend seinem Revisionsantrag erstrebt der Nebenkläger die Verurteilung des Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB). Insoweit ist er Verletzter, denn Schutzgut des § 323c StGB sind zumindest auch die bei einem Unglücksfall gefährdeten Individualrechtsgüter des in Not Geratenen (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2002 - 4 StR 392/01, NJW 2002, 1356, 1357 mwN). Angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer durch die verfahrensgegenständliche Tat u.a. eine Niere verloren hat, steht dessen prozessuale Schutzbedürftigkeit außer Frage.

2. Die Revision ist auch begründet.

a) Zwar kann die von dem Beschwerdeführer erhobene Beanstandung, das Landgericht habe den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) nicht geprüft, dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg verhelfen, denn das Tatgericht hat eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 323c StGB in Betracht gezogen und aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts zutreffend genannten Gründen rechtsfehlerfrei verneint.

b) Die Revision erweist sich jedoch deshalb als begründet, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts in einem anderen Punkt rechtlicher Nachprüfung nicht standhält. Denn die Jugendkammer hat nicht hinreichend dargestellt, warum sie keine sicheren Feststellungen zu einem inneren Zusammenhang zwischen der Freiheitsberaubung und dem Sturz aus dem Fenster hat treffen können und deshalb zu dem Ergebnis gelangt ist, der Angeklagte habe sich nicht wegen schwerer Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 3 Nr. 2 StPO strafbar gemacht.

aa) Wenngleich der Nebenkläger nicht erklärt hat, die Anwendung der Vorschrift des § 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB zu begehren, unterliegt es der revisionsrechtlichen Prüfung, ob das Tatgericht die genannte Vorschrift zu Unrecht nicht angewendet hat. Die schwere Freiheitsberaubung ist ein zur Nebenklage berechtigendes Delikt (§ 395 Abs. 1 Nr. 4StPO). Aufgrund des zulässigen Rechtsmittels des Beschwerdeführers hat das Revisionsgericht jedenfalls zu prüfen, ob das Tatgericht Strafvorschriften unangewendet gelassen hat, die zum Anschluss des Nebenklägers berechtigen und - wie hier - dieselbe Zielrichtung haben wie das Delikt, dessen Nichtanwendung der Nebenkläger in zulässiger Weise beanstandet (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Oktober 1995 - 5 StR 268/95, NStZ-RR 1996, 141 mwN).

bb) Zwar ist das Landgericht rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, der Vorwurf, der Angeklagte habe den Nebenkläger unter Billigung des Todeseintritts aus dem Fenster gestoßen, habe sich in der Hauptverhandlung nicht bestätigt. Der Angeklagte hat den Tatvorwurf bestritten, jedoch eingeräumt, die Eingangstür zugesperrt zu haben, um den Nebenkläger am Verlassen der Wohnung zu hindern. Die Jugendkammer hat in einer umfassenden, rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung dargelegt, warum sie der Aussage des Beschwerdeführers, der Angeklagte habe ihn aus dem Fenster gestoßen, keinen Glauben geschenkt hat. Jedoch erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts zu einem etwaigen inneren Zusammenhang zwischen der Freiheitsberaubung und der bei dem Sturz aus dem Fenster erlittenen Verletzungen des Beschwerdeführers als lückenhaft, denn die Jugendkammer hat nicht hinreichend dargelegt, warum sie eine naheliegende Schlussfolgerung nicht zu ziehen vermocht hat (vgl. BGH, Urteil vom 23. Juli 2008 - 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793; KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 208). Im Einzelnen:

(1) Eine schwere Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 3 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass zwischen der - hier unzweifelhaft gegebenen - schweren Gesundheitsbeschädigung und der Freiheitsberaubung ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Die Folge muss zumindest fahrlässig herbeigeführt worden sein (§ 18 StGB). Bedeutungslos ist, ob der besondere Erfolg schon während oder erst nach der Freiheitsberaubung eintritt. Gleiches gilt, wenn die schwere körperliche Beeinträchtigung durch einen Selbstbefreiungsversuch des Opfers verursacht wird (BGH, Urteil vom 14. Juli 1964 - 1 StR 216/64, BGHSt 19, 382, 386 f.). Der Erfolg muss für den Täter vorhersehbar gewesen sein, was bei einem Fluchtversuch angesichts des als natürlich zu betrachtenden Bestreben des Menschen, sich der Freiheitsberaubung zu entziehen, in der Regel zu bejahen sein wird (LK/ Schluckebier, StGB, 12. Aufl., § 239 Rn. 45).

(2) Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts als lückenhaft. Zwar hat sich die Jugendkammer auch von der Richtigkeit der Angaben des Angeklagten, der Nebenkläger sei - mutmaßlich in Suizidabsicht - aus freien Stücken aus dem Fenster gesprungen, keine Überzeugung bilden können und ausführlich dargelegt, warum die vorhandenen objektiven Umstände keine sicheren Rückschlüsse auf das konkrete Sturzgeschehen zulassen (UA S. 21 ff.). Diese Würdigung zielt jedoch ersichtlich darauf ab, das angeklagte Stoßen von einem freiwilligen „Verlassen“ der Wohnung über das Fenster abzugrenzen. Nachdem es die Jugendkammer selbst an anderer Stelle des Urteils als naheliegend angesehen hat, dass der Nebenkläger das Fenster als Fluchtweg nutzte und dabei abstürzte (UA S. 7, 15), hätte es eingehenderer Darlegung bedurft, warum sie den Schluss eines inneren Zusammenhangs zwischen der Freiheitsberaubung und den aus dem Sturzgeschehen resultierenden Verletzungen nicht zu ziehen vermocht hat, zumal den Urteilsgründen kein sonstiger Grund für das „Verlassen“ der Wohnung durch das Fenster durch den Nebenkläger zu entnehmen ist.