StPO § 414 Abs. 1 Unterbringung vertikale Teilrechtskraft

StPO § 414 Abs. 1 Unterbringung vertikale Teilrechtskraft

BGH, Beschl. v. 09.04.2013 - 5 StR 120/13 - NJW 2013, 2043
LS: Vertikale Teilrechtskraft im Sicherungsverfahren.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. April 2013 beschlossen: 
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 9. November 2012 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. 
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 

 

G r ü n d e 

Das Landgericht hat gegen den 37-jährigen Beschuldigten im Sicherungsverfahren die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten hat Erfolg. Die Unterbringungsentscheidung ist nicht tragfähig begründet. 
1. Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte seit vielen Jahren an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Seit seiner Jugend wurde er immer wiederkehrend in teilweise kurzen Abständen in psychiatrischen Krankenhäusern – oft auch in geschlossenen Unterbringungsformen – behandelt; im Übrigen lebte er weitgehend in Übergangs- oder Rehabilitationseinrichtungen. Aufgrund seiner Psychose trat der Beschuldigte im Zeitraum Juli 2011 bis Februar 2012 in elf Fällen in E. und R. in der Öffentlichkeit Personen weitgehend grundlos in aggressiver,
bedrohlicher Weise gegenüber. Dabei kam es in drei Fällen zu Beleidigungen der Zeugen, in einem Fall in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, in einem weiteren Fall zu einer Nötigungshandlung, in deren Zusammenhang der Beschuldigte einen Krummdolch hervorzog. In zwei Fällen verletzte der Beschuldigte einen Freund, von dem er sich beleidigt fühlte (Wurf einer Bierflasche in Richtung des Zeugen, die diesen an der Stirn traf; Faustschlag ins Gesicht). Bei fünf von der Antragsschrift zum Verfahrensgegenstand gemachten Vorfällen konnte letztlich kein tatbestandsmäßiges Verhalten festgestellt werden. Das Landgericht ist zu dem Schluss gekommen, dass der Beschuldigte bei allen Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte, „da jeweils nicht ausgeschlossen werden konnte“, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten aufgehoben war (UA S. 29). Es stützt sich dabei auf das Gutachten eines forensisch-psychiatrischen Sachverständigen, der ebenfalls nicht ausgeschlossen hat, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten wahnbedingt aufgehoben gewesen sei. Dies sei bei fünf der festgestellten Vorfälle „hochwahrscheinlich“ so gewesen; sie „schienen mit paranoidem Erleben zusammenzuhängen“. Eine große Rolle würden „zusätzlich die erheblichen affektiven und Impulskontrollstörungsaspekte der Erkrankung“ spielen; dadurch seien letztlich alle festgestellten Vorfälle „psychosebedingt“ (UA S. 32). Der Sachverständige sieht „ein hohes Risiko für erneute, mindestens schwere Körperverletzungsdelikte mit Drohungen und Beleidigungen“, wobei auch eine Eskalation hin zu Delikten gegen das Leben möglich erscheine (UA S. 35). Der Beschuldigte habe sich im Februar 2012 erstmals bewaffnet. Falls er nicht behandelt werde und „der Wahn weitergehe“, sei der Einsatz eines Messers oder einer anderen Waffe in zukünftig von dem Beschuldigten wiederum als bedrohlich empfundenen Situationen hochwahrscheinlich (UA S. 36). Ob es dann zu Körperverletzungs- und Bedrohungsdelikten komme, hänge von Zufälligkeiten ab, insbesondere von der Reaktion der konfrontierten Personen. 
2. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. 
a) Die Unterbringung nach § 63 StGB setzt die zweifelsfreie Feststellung der Voraussetzungen der § 20 oder § 21 StGB voraus. Bereits dies ist unzulänglich belegt. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 20 StGB nur für „nicht ausschließbar“ gehalten. Es ist nicht einmal zwingend, dass wenigstens in den Fällen, in denen der Sachverständige die Aufhebung der Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten als „hochwahrscheinlich“ beurteilt hat, jedenfalls die Voraussetzungen des § 21 StGB in der Form erheblicher Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sicher vorlagen. Zudem beträfe dies nur zwei der Vorfälle, die einen Straftatbestand erfüllten, aber lediglich als Beleidigung, Hausfriedensbruch oder Nötigung einzuordnen waren. Die einzig schwereren, in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichenden Taten hat der Beschuldigte zu Lasten seines Freundes, des Zeugen H., begangen. Es ist aus dem Urteil nicht ersichtlich, dass diese auf paranoidem Erleben beruhen. Zwar mag naheliegen, dass sie durch die mit der Erkrankung des Beschuldigten einhergehende Impulskontrollstörung mitbedingt sind und insoweit eine – zumindest – erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten in Frage kommt. Hiermit setzt sich jedoch das Urteil nicht auseinander. 
b) Die Anordnung der Maßregel ist auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten (§ 62 StGB) nicht rechtsbedenkenfrei. Da die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Betroffenen wegen ihrer unbestimmten Dauer außerordentlich beschwert, darf sie nur angeordnet werden, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Es muss wahrscheinlich sein, dass der Rechtsfrieden durch neue Taten schwer gestört wird. Die Unterbringung darf nicht angeordnet werden, wenn sie außer Verhältnis zu der Bedeutung der begangenen und zu erwartenden Taten stünde (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 – 5 StR 215/07, NStZ-RR 2007, 300 mwN). Die im Urteil festgestellten Vorfälle sind – soweit sie überhaupt einen Straftatbestand erfüllen – überwiegend nicht dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Anderes könnte allein für die Taten des Beschuldigten zum Nachteil seines Freundes H. gelten. Bei der Beurteilung ihres Gewichts ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Taten Folgen von Streitigkeiten nach gemeinsamem Alkoholkonsum waren und der Geschädigte dem Beschuldigten noch in der Hauptverhandlung „freundschaftlich zugewandt“ war (UA S. 25). Zwar setzt die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht grundsätzlich voraus, dass die Anlasstaten selbst erheblich sind. Ist dies nicht der Fall, bedarf jedoch die Gefährlichkeitsprognose besonders sorgfältiger Darlegung (vgl. BGH, Urteile vom 2. März 2011 – 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011, 240, und vom 23. Januar 1986 – 4 StR 620/85, NStZ 1986, 237). Daran fehlt es hier. Im Rahmen der Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten hätte sich das Landgericht auch damit auseinandersetzen müssen, dass dieser – ungeachtet immer wieder aufgetretenen aggressiven und bedrohlichen Verhaltens – neben zwei nicht näher geschilderten Körperverletzungsdelikten, die einer Verurteilung aus dem Jahr 1995 zugrunde liegen, lediglich im Jahr 2004 wegen einer zum Nachteil eines behandelnden Arztes begangenen gefährlichen Körperverletzung zu
einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, neben der seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und zur Bewährung ausgesetzt wurde. Im Hinblick auf diese Verurteilung wurde ein weiteres Strafverfahren wegen Körperverletzung zu Lasten eines Mitbewohners in einer Wohneinrichtung vorläufig eingestellt. Die Bewährungsstrafe wurde im Februar 2008 erlassen. Damit trat gemäß § 67g Abs. 5 i.V.m. § 68g Abs. 3 Satz 1 StGB auch die Erledigung der ausgesetzten Maßregel ein. Das im angefochtenen Urteil schon für die damalige Bewährungszeit geschilderte fortgesetzte regelwidrige und aggressive Verhalten des Beschuldigten wurde demnach nicht als so gravierend beurteilt, dass es zu einem Widerruf oder – jedenfalls soweit ersichtlich – auch nur zu einer Verlängerung der Bewährungsfrist geführt hätte. 
3. Die Frage der Unterbringung bedarf deshalb der nochmaligen Prüfung und Entscheidung. Der Senat hat von einer Aufrechterhaltung der Feststellungen zu dem jeweiligen Geschehen der im Urteil unter II. geschilderten Vorfälle abgesehen, weil die Begleitumstände zur Feststellung des psychischen Zustandes des Beschuldigten ohnehin neuer Aufklärung bedürfen. Diejenigen Vorfälle, die Gegenstand der Antragsschrift waren, jedoch im angefochtenen Urteil als nicht tatbestandsmäßig angesehen worden sind, können indes nicht mehr als Anlasstaten für die Unterbringung nach § 63 StGB herangezogen werden. Insoweit kann der Beschuldigte nicht schlechter stehen als ein teilfreigesprochener Angeklagter im Strafverfahren, der sich mit seiner Revision mangels Beschwer gegen den Teilfreispruch nicht wenden kann (sogenannte vertikale Teilrechtskraft, vgl. zum Begriff Kühne in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., Einl. K Rn. 68). Nach § 414 Abs. 1 StPO gelten auch für die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft eines im selbständigen Sicherungsverfahren ergangenen Urteils die allgemeinen strafverfahrensrechtlichen Regeln. Auch wenn über die Anordnung der Maßregel oder die Ablehnung des Antrags der Staatsanwaltschaft im Sicherungsverfahren nur einheitlich entschieden werden kann, handelt es sich bei den einzelnen in der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft geschilderten Vorfällen um selbständige Prozessgegenstände, über die durch das angefochtene Urteil, soweit sie nicht für tatbestandsmäßig erachtet wurden, abschließend entschieden ist. Allerdings können sie – aufgrund neuer Feststellungen – vom neuen Tatgericht bei der Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten mitberücksichtigt werden.
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