Strafschärfende Berücksichtigung von Vorahndungen, die den unerlaubten Besitz von Marihuana betreffen, nach Inkrafttreten des Konsumcannabisgesetzes, BayObLG, Beschl. v. 27.06.2024 – 204 StRR 205/24 = StRR 2024, 28
Normenketten:
StGB § 2 Abs. 3, § 46 Abs. 2
BZRG § 48 S. 3, § 51 Abs. 1
KCanG § 3 Abs. 1, § 34 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 12, § 36 Abs. 1 Nr. 1, § 40 Abs. 1, § 41, § 42 Abs. 1
CanG Art. 15 Abs. 2
EGStGB Art. 313 Abs. 1, Art. 316p
Leitsätze:
Zur Verwertbarkeit von im BZR eingetragenen Verurteilungen bei der Strafzumessung, die ab 1. April 2024 nach § 3 Abs. 1, § 34 Abs. 1 Nr. 1 und 12 KCanG straflose und auch nicht nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 KCanG bußgeldbewehrte Handlungen betreffen und die weder getilgt noch tilgungsfähig sind. (Rn. 17 – 22)
1. Bei der Frage der Verwertbarkeit von Vorstrafen handelt es sich nicht um Verfahrensrecht, sondern um eine Regelung des materiellen Rechts, so dass bei einer Gesetzesänderung zwischen Tat und Verurteilung gem § 2 Abs. 3 StGB das mildere Gesetz Vorrang hat. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein auf die Sachrüge zu beachtendes Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG besteht bei der strafschärfenden Berücksichtigung von Vorstrafen, die Fälle betreffen, bei denen lediglich solche Mengen von Marihuana besessen wurden, die ab 1. April 2024 weder den Straftatbeständen des § 34 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 12 KCanG noch dem Bußgeldtatbestand des § 36 Abs. 1 Nr. 1 KCanG unterfallen, gegenwärtig nicht. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Denn derartige Vorahndungen sind derzeit noch nicht tilgungsfähig. Entsprechende Eintragungen im Bundeszentralregister sind erst nach den am 1. Januar 2025 in Kraft tretenden Vorschriften der §§ 40 bis 42 KCanG (vgl. Art. 15 Abs. 2 CanG) tilgungsfähig (§ 40 Abs. 1 KCanG) und dann nach Feststellung der Tilgungsfähigkeit durch die Staatsanwaltschaft auf Antrag des Angeklagten (§ 41 iVm § 42 Abs. 1 KCanG) und Mitteilung an das Bundeszentralregister zu tilgen (§ 42 Abs. 2 KCanG iVm § 48 S. 3 BZRG), mit der Folge, dass erst ab diesem Zeitpunkt das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG eingreift. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Mit Ausnahme der Frage einer Tilgungsreife und der danach nicht mehr möglichen Verwertbarkeit von Vorstrafen ist der Umstand einer Vorverurteilung als solcher eine Strafzumessungserwägung, die § 2 Abs. 3 StGB auch dann nicht unterfällt, wenn diese Verurteilung auf einem Gesetz beruht, das mittlerweile abgemildert wurde oder nicht mehr gilt. Denn der nunmehr erkennende Richter wendet nicht dieses Gesetz an, sondern berücksichtigt nur den Umstand der Vorverurteilung als solchen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Strafzumessung, Vorverurteilungen, Betäubungsmitteldelikte, Besitz von Marihuana, Konsumcannabisgesetz, Inkrafttreten, jetzige Straflosigkeit, Verwertungsverbot, Bundeszentralregister, Tilgungsreife
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 13.12.2023 – 4 NBs 809 Js 18236/23
Fundstellen:
BeckRS 2024, 18244
StV 2024, 609
LSK 2024, 18244
Tenor
I. Die Revision des Angeklagten S. gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 13. Dezember 2023 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht Nürnberg hat den Angeklagten mit Urteil vom 23. Mai 2023 wegen Beleidigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in drei tateinheitlichen Fällen (Tatzeit 26. Mai 2022) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
2
Hiergegen hat der Angeklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt, die er in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat.
3
Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat mit Urteil vom 13. Dezember 2023 auf die Berufung des Angeklagten das amtsgerichtliche Urteil im Rechtsfolgenausspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt wurde, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
4
Hierbei hat es strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte in der Vergangenheit wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Dies betraf unter anderem eine am 14. Februar 2019 durch das Amtsgericht Nürnberg erfolgte Verurteilung zu einer zweimonatigen Freiheitsstrafe wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (9,65 Gramm Marihuana), deren Vollstreckung zunächst für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt worden war, wobei die Bewährungszeit mehrmals, zuletzt bis 13. August 2023 verlängert worden war. Desweiteren war der Angeklagte durch Urteil des Amtsgerichts Fürth vom 7. Juli 2021 abermals wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (9,9 Gramm Marihuana) zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Deren Vollstreckung war für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt worden.
5
Gegen dieses seiner Verteidigerin am 22. Januar 2024 zugestellte Urteil hat der Angeklagte mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 14. Dezember 2023 am selben Tag Revision eingelegt. In der am 29. Januar 2024 eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts.
6
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Schreiben vom 17. April 2024, die Revision des Angeklagten nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet kostenpflichtig zu verwerfen.
7
Eine Gegenerklärung des Angeklagten ist nicht eingegangen.
II.
8
Die Revision des Angeklagten ist auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Insoweit wird auf die in jeder Hinsicht zutreffenden und vollständigen Ausführungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 17. April 2024 Bezug genommen.
9
Der Senat sieht Anlass zu ergänzenden Bemerkungen lediglich im Hinblick auf die an eine Verurteilung wegen Beleidigungsdelikten gestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen und auf die seit dem 1. April 2024 – anders als zur Tatzeit und noch zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Berufungsurteils – geänderte Rechtslage, wonach der Besitz von Cannabis aufgrund von Art. 1 und Art. 3 Nr. 6 des Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz – CanG) vom 27. März 2024 nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt, sondern dem am 1. April 2024 in Kraft getretenen Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis (Konsumcannabisgesetz – KCanG).
10
1. Die Generalstaatsanwaltschaft geht in ihrer Antragsschrift zutreffend davon aus, dass die Beschränkung der Berufung des Angeklagten auf den Rechtsfolgenausspruch wirksam ist, weil die zum Schuldspruch getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts eine hinreichende Grundlage für die vom Berufungsgericht eigenständig unter Berücksichtigung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat festzusetzenden Rechtsfolgen darstellen.
11
Ergänzend hierzu ist nur folgendes auszuführen:
12
Bei den vom Angeklagten verwendeten Ausdrücken „Fick Dich“ und „Du blöder Spinner“ handelt es sich, was keiner näheren Erörterung bedarf, um eine ehrverletzende Äußerung der Missachtung des hiervon betroffenen Polizeibeamten. Die Generalstaatsanwaltschaft geht zutreffend davon aus, dass diese Äußerungen – unabhängig davon, ob man in ihnen bereits sog. Formalbeleidigungen sieht – in der vorzunehmenden Abwägung nicht durch die Meinungsfreiheit des Angeklagten gerechtfertigt sind (§ 193 StGB), sondern der aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgende Achtungsanspruch des geschädigten Polizeibeamten überwiegt.
13
Dem Senat ist insoweit eine eigene Abwägungsentscheidung möglich, da im amtsgerichtlichen Urteil Anlass und Kontext der Äußerungen hinreichend dargestellt sind. Danach hatte der geschädigte Polizeibeamte den am Bahnhofsplatz des Nürnberger Hauptbahnhofs Alkohol konsumierenden Angeklagten lediglich über das dort geltende Alkoholverbot belehrt, worauf dieser gegenüber dem Polizeibeamten die Worte „Fick Dich“ äußerte, und, nachdem dieser bei der folgenden Identitätsfeststellung auf seine Pflicht zur vollständigen Angabe der Personalien hingewiesen worden war, den Polizeibeamten als „Du blöder Spinner“ bezeichnet, um seine Missachtung auszudrücken. Sodann sei der Angeklagte nah an den Polizeibeamten herangetreten, habe diesen zu einem Duell herausgefordert und gefragt, ob sich dieser wohl nicht trauen würde. Aufgrund des weiterhin aggressiven Verhaltens habe der Polizeibeamte dem Angeklagten die Ingewahrsamnahme erklärt.
14
Das Vorgehen des Polizeibeamten war in keiner Weise geeignet, dem Angeklagten Anlass zum Gebrauch der ehrverletzenden Äußerungen zu bieten. Diese erfolgten weder in der Hitze einer vorausgegangenen Auseinandersetzung noch im „Kampf ums Recht“, sondern – gemessen am Anlass – in völlig überzogener Weise. Der Angeklagte kann sich somit nicht auf eine Wahrnehmung berechtigter Interessen berufen, so dass eine Abwägung der kollidierenden Grundrechte zu einem Überwiegen des durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsrechts des Geschädigten führt.
15
Soweit etwa das Amtsgericht Tiergarten die Wortwahl „Ihr Bullen könnt euch alles erlauben, Fick Dich“ als durch die Meinungsfreiheit gedeckt ansieht (Urteil vom 9. Februar 2022 – 222 Cs 144/21 –, StV-Spezial 2022, 154, Rn. 16, juris), lag dem ein andersgearteter Sachverhalt zugrunde, so dass offen bleiben kann, ob dieser Ansicht zu folgen wäre.
16
2. Auch die vom Berufungsgericht vorgenommene Strafzumessung ist – wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat – frei von Rechtsfehlern.
17
Dies betrifft auch den Umstand, dass das Berufungsgericht seine Strafzumessung maßgeblich auf die beiden zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen gestützt hat, die den unerlaubten Besitz von Marihuana betreffen, und hinsichtlich der letzten dieser einschlägigen Verurteilungen die Rückfallgeschwindigkeit strafschärfend herausgestellt hat.
18
a) In beiden Fällen wurden lediglich solche Mengen von Marihuana besessen, die ab 1. April 2024 weder den Straftatbeständen des § 34 Abs. 1 Nr. 1 und 12 KCanG noch dem Bußgeldtatbestand des § 36 Abs. 1 Nr. 1 KCanG unterfallen. Dies führt zwar dazu, dass diese Strafen gemäß Art. 316p EGStGB i.V.m. Art. 313 Abs. 1 EGStGB mit Inkrafttreten des Konsumcannabisgesetzes am 1. April 2024 erlassen wurden, da gemäß § 3 Abs. 1 KCanG für Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, der Besitz von – wie hier – bis zu 25 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum erlaubt ist, und die Strafen noch nicht vollstreckt waren. Die Verwertbarkeit der genannten Vorstrafen ist dadurch aber nicht entfallen, so dass sich aus § 354a StPO i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB kein Hindernis für die Berücksichtigung der genannten Vorahndungen ergibt.
19
aa) Allerdings handelt es sich bei der Frage der Verwertbarkeit von Vorstrafen um eine Frage des sachlichen Rechts, so dass § 2 Abs. 3 StGB gilt und bei einer Gesetzesänderung zwischen Tat und Verurteilung das mildeste Gesetz Vorrang hat. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bayerischen Obersten Landesgerichts zu einer dem vorliegenden Verfahren vergleichbaren Fallkonstellation, als mit § 49 BZRG i.d.F. vom 18. März 1971 (BGBl. I, S. 243) am 1. Januar 1972 ein allgemeines Verwertungsverbot für im Strafregister eingetragene und inzwischen getilgte oder tilgungsreif gewordene Vorstrafen in Kraft getreten ist. Danach handelt es sich bei dieser nunmehr in § 51 Abs. 1 BZRG enthaltenen Regelung, soweit bei getilgter oder tilgungsreifer Verurteilung die Tat und die Verurteilung in einem neuen Strafverfahren nicht mehr strafschärfend verwertet werden dürfen, um eine solche des sachlichen Rechts, die als milderes Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. (jetzt § 2 Abs. 3 StGB) auch im Revisionsverfahren zu berücksichtigen ist, § 354a StPO (so BGH, Urteil vom 19. Juli 1972 – 3 StR 66/72 –, BGHSt 24, 378, juris Rn. 9; BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 –, BayObLGSt 3, 75, 77). Der Grundsatz, dass eine für den Angeklagten günstige Gesetzesänderung vom Revisionsgericht auch dann berücksichtigt werden muss, wenn sie erst nach Erlass des tatrichterlichen Urteils eingetreten ist (vgl. BGH, Urteile vom 27. Oktober 1964 – 1 StR 358/64 –, BGHSt 20, 77, juris Rn. 3; vom 19. Juli 1972 – 3 StR 66/72 –, BGHSt 24, 378, juris Rn. 9; BayObLG, Beschlüsse vom 20. Januar 1972 – RReg 2. St 171/71 –, BayObLGSt 1972, 3, 4; vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 –, BayObLGSt 3, 75, 77 f.; Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 2 Rn. 6 aE), muss seinem dem Grundgedanken des § 2 Abs. 3 StGB entsprechenden Sinn und Zweck, dem Angeklagten Milderungen des Gesetzes so weit wie möglich zukommen zu lassen, auch dann gelten, wenn es sich nicht um eine Änderung des Strafgesetzes im engeren Sinne handelt, sondern wenn die Änderung eines anderen Gesetzes ein Strafverfahren zugunsten des Angeklagten beeinflusst (so – jeweils zu § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. – BayObLG, Beschlüsse vom 20. Januar 1972 – RReg 2. St 171/71 –, BayObLGSt 1972, 3, 4; vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 –, BayObLGSt 3, 75, 78). Dies wird für den Fall des Inkrafttretens des § 49 BZRG a.F. angenommen. Dieses Verwertungsverbot muss somit vom Revisionsgericht beachtet und auf solche Fälle angewendet werden, die beim Inkrafttreten des Gesetzes noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren (vgl. BayObLG, Beschluss vom 28. April 1972 – RReg 6 St 523/72 OWi –, BayObLGSt 1972, 112, juris Rn. 9), also das tatrichterliche Urteil vor dem Inkrafttreten des Bundeszentralregistergesetzes ergangen ist (BayObLG, Beschlüsse vom 20. Januar 1972 – RReg 2. St 171/71 –, BayObLGSt 1972, 3, 4; vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 –, BayObLGSt 3, 75, 77 f.). Ein solcher Fall lag auch der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 19. Juli 1972 – 3 StR 66/72 –, BGHSt 24, 378) zugrunde.
20
In Übereinstimmung hiermit geht auch das Oberlandesgericht München davon aus, dass es sich bei der Frage der Verwertbarkeit von Vorstrafen nicht um Verfahrensrecht, sondern um eine Regelung des materiellen Rechts handelt, so dass bei einer Gesetzesänderung zwischen Tat und Verurteilung das mildere Gesetz Vorrang hat (Beschluss vom 14. Dezember 2009 – 4St RR 183/09 –, NStZ-RR 2010, 105, juris Rn. 7; so auch BeckOK StGB/von Heintschel-Heinegg/Kudlich, 61. Ed. 1.5.2024, StGB § 2 Rn. 5).
21
bb) Ein solches auf die Sachrüge zu berücksichtigendes Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG (vgl. BGH, Beschluss vom 27. September 2022 – 2 StR 61/22 –, NStZ-RR 2023, 87, juris Rn. 5 m.w.N.; so bereits BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 –, BayObLGSt 3, 75, 77) besteht aber gegenwärtig nicht. Denn die einschlägigen Vorahndungen sind noch nicht tilgungsfähig. Die entsprechenden Eintragungen im Bundeszentralregister werden erst nach den am 1. Januar 2025 in Kraft tretenden Vorschriften der §§ 40 bis 42 KCanG (vgl. Art. 15 Abs. 2 CanG) tilgungsfähig (§ 40 Abs. 1 KCanG) und dann nach Feststellung der Tilgungsfähigkeit durch die Staatsanwaltschaft auf Antrag des Angeklagten (§ 41 i.V.m. § 42 Abs. 1 KCanG) und Mitteilung an das Bundeszentralregister zu tilgen sein (§ 42 Abs. 2 KCanG i.V.m. § 48 Satz 3 BZRG), mit der Folge, dass erst ab diesem Zeitpunkt das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG eingreift.
22
cc) Offenbleiben kann damit, ob die in der Literatur vertretene Auffassung, dass eine nach dem tatrichterlichen Urteil eintretende Tilgungsreife für das Revisionsgericht ohne Bedeutung ist (vgl. Fischer, StGB, a.a.O., § 2 Rn. 6 unter Hinweis auf BGH mit unzutreffender Fundstelle), auf die vorliegende Fallgestaltung anwendbar ist. Dem liegt offenbar die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugrunde, dass ein Verwertungsverbot dann besteht, wenn die Tilgungsfrist zwar zum Zeitpunkt der neuen Tat noch nicht verstrichen, aber vor Ende der Hauptverhandlung in der Tatsacheninstanz bereits abgelaufen ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 22. Dezember 2015 – 2 StR 207/15 –, NStZ-RR 2016, 120, juris Rn. 5 m.w.N.; noch offen gelassen vom BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 –, BayObLGSt 3, 75, 78). Die Frage des durch Gesetzesänderung eintretenden, vom Revisionsgericht zu beachtenden Verwertungsverbots ist aber unabhängig vom zeitlichen Ablauf der Tilgungsfrist (in diesem Sinne auch BayObLG, Beschluss vom 22. März 1972 – RReg 1 St 19/72 –, BayObLGSt 3, 75, 78).
23
dd) Der strafschärfenden Berücksichtigung der beiden Vorverurteilungen steht auch sonst nichts entgegen.
24
Mit Ausnahme der Frage einer Tilgungsreife und der danach nicht mehr möglichen Verwertbarkeit von Vorstrafen ist der Umstand einer Vorverurteilung als solcher eine Strafzumessungserwägung, die § 2 Abs. 3 StGB auch dann nicht unterfällt, wenn diese Verurteilung auf einem Gesetz beruht, das mittlerweile abgemildert wurde oder nicht mehr gilt. Denn der nunmehr erkennende Richter wendet nicht dieses Gesetz an, sondern berücksichtigt nur den Umstand der Vorverurteilung als solchen.
25
Für die Frage nach dem mildesten Gesetz im Sinn von § 2 Abs. 3 StGB kommt es auf den gesamten Rechtszustand an, von dem die Strafe abhängt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. August 1994 – 2 BvR 1884/93 –, NJW 1995, 316, juris Rn. 9; BGH, Urteil vom 8. Januar 1965 – 2 StR 49/64 –, BGHSt 20, 177, juris Rn. 11), also auf das gesamte sachliche Recht, das über das „Ob“ und das „Wie“ der Strafbarkeit entscheidet (Schönke/Schröder/Hecker, 30. Aufl. 2019, StGB § 2 Rn. 18; NK-StGB/Kargl, 6. Aufl. 2023, StGB § 2 Rn. 23b; vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 24. Juli 2014 – 3 StR 314/13 –, BGHSt 59, 271, juris Rn. 9). Hierzu zählt § 46 Abs. 2 StGB, wonach das Vorleben des Täters zu berücksichtigen ist, wozu grundsätzlich auch abgeurteilte Vorstrafen gehören (vgl. nur Fischer, StGB, a.a.O., § 46 Rn. 38), soweit die Zulässigkeit der Berücksichtigung nicht durch Gesetze eingeschränkt wird, zu denen etwa – wie aufgezeigt – die Tilgungsvorschriften zählen (vgl. hierzu Fischer, StGB, a.a.O., § 46 Rn. 39).
26
Der Angeklagte stand zur Tatzeit unter zweifach offener Bewährung, so dass zum Tatzeitpunkt diesen Vorahndungen eine Warnfunktion (vgl. hierzu Fischer, StGB, a.a.O., § 46 Rn. 38c) zukam.
27
Diese ist nicht dadurch in Wegfall geraten, dass der Besitz entsprechender Mengen Marihuana ab 1. April 2024 – also nach dem Tatzeitpunkt – nicht mehr strafbar war.
28
Die Zulässigkeit der Berücksichtigung der einschlägigen Vorahndungen steht insoweit im Einklang mit dem Regelungskonzept des Cannabisgesetzes in Bezug auf rechtskräftige Vorahndungen. Diese werden durch das Gesetz nicht aufgehoben. Gemäß Art. 316p EGStGB ist im Hinblick auf vor dem 1. April 2024 verhängte Strafen nach dem Betäubungsmittelgesetz, die nach dem Konsumcannabisgesetz oder dem Medizinal-Cannabisgesetz nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, Art. 313 EGStGB entsprechend anzuwenden. Danach werden rechtskräftig verhängte Strafen wegen solcher Taten, die nach neuem Recht nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, mit Inkrafttreten des neuen Rechts erlassen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind (Art. 313 Abs. 1 EGStGB). Diese Rechtswirkungen treten unmittelbar kraft Gesetzes ein, ohne dass es einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde bedarf (OLG Stuttgart, Beschluss vom 28. Mai 2024 – 1 ORs 24 SRs 167/24 –, juris Rn. 7).
29
Der Straferlass bei noch nicht vollstreckten Strafen ändert aber nichts daran, dass der Schuldspruch hiervon unberührt bleibt und somit auch aus jetziger Sicht eine Warnfunktion für den Verurteilten ausgeübt hat.
30
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.