StVO § 1 Abs. 2: Parkhaus, Vorfahrtverletzung, Haftungsverteilung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Saarbrücken, Urteil vom 23.12.2020 - 13 S 122/20

Leitsatz: Der Regelungsgehalt eines von dem Betreiber eines Parkhauses verwendeten Verkehrszeichen - hier: Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren) -, ist jedenfalls im Rahmen des gegenseitigen Rücksichtnahmegebots nach § 1 Abs. 2 StVO zu beachten und konkretisiert die zu beachtenden Sorgfaltsanforderungen.


In pp.

1. Auf die Berufung wird das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 21.08.2020 - 37 C 75/20 (08) abgeändert und der Beklagte wird unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, an den Kläger weitere 783,89 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 179,27 €, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.04.2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen der Kläger und der Beklagte jeweils zu 50%.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Ausgleich von Schadensersatz in Anspruch aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 27.09.2019 gegen 18.15 Uhr im Parkhaus "pp." in der pp. in pp. ereignete.

Der Kläger befuhr mit seinem Peugeot 107 (amtl. Kennz. pp.) auf dem 5. Parkdeck die zur Ausfahrt führende Parkgasse. Die Zeugin pp. fuhr mit ihrem Mercedes B 180 (amtl. Kennz. pp.), welcher in Belgien haftpflichtversichert ist, auf einer von rechts in die Fahrbahn des Klägers einmündenden Parkgasse. Über der Zufahrt dieser Gasse ist ein Verkehrszeichen 205 (Vorfahrt gewähren) angebracht. Als der Kläger die Einmündung passierte und die Zeugin pp. nach rechts in die Fahrbahn des Klägers einbog, kam es zur Kollision. Dabei berührten sich das klägerische Fahrzeug am Kotflügel vorne rechts und das von der Zeugin geführte Fahrzeug am Kotflügel vorne links. Dem Kläger entstand ein Schaden von insgesamt 3.135,59 €, den der Beklagte zu 50 % regulierte.

Mit der Klage hat der Kläger ausgehend von einer Alleinhaftung der Beklagten Schadensersatz in Höhe von weiteren 1.567,79 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 218,72 €, jeweils nebst Zinsen, begehrt. Er hat behauptet, die Zeugin pp. habe vor der Einmündung in seine Fahrbahn angehalten. Da ihm das Vorfahrt-gewähren-Schild aus ihrer Richtung bekannt gewesen sei, sei er davon ausgegangen, sie lasse ihn entsprechend der Verkehrsregelung passieren. Als er sich mit seinem Fahrzeug dann schon unmittelbar vor ihr befunden habe, sei sie wieder angefahren, in einem engen Bogen in seine Fahrbahn eingefahren und dann nach links rübergekommen. Er selbst habe noch gebremst und auch noch nach links gelenkt, die Kollision aber nicht mehr vermeiden können.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Er hat behauptet, die Zeugin pp. sei nach rechts in Richtung Ausfahrt abgebogen, als der von links kommende Kläger ohne Geschwindigkeitsreduzierung einfach weitergefahren sei und versucht habe, linksseitig an ihrem Fahrzeug vorbeizukommen. Er hat die Auffassung vertreten, das Verkehrsschild sei in einem Parkhaus nicht bindend, vielmehr gelte das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme, weshalb eine über 50 % hinausgehende Haftung nicht in Betracht komme.

Das Amtsgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat, ausgehend von einer hälftigen Haftungsverteilung, der Klage lediglich in Höhe vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten von 139,23 € nebst Zinsen stattgegeben. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Berufung, der sein Ziel der Alleinhaftung bzw. jedenfalls einer überwiegenden Haftung in Höhe von 75% des Beklagten weiterverfolgt. Der Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

II.

Die Berufung ist form- und fristgerecht erhoben, sie ist mithin zulässig. In der Sache hat das Rechtsmittel teilweise Erfolg. Die der Berufung nach § 529 ZPO zugrunde zulegenden Tatsachen rechtfertigen eine abweichende Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

1. Zutreffend ist das Amtsgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl der Kläger als auch der Beklagte grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG, § 6 Abs. 1 AusPflVG - der beklagte Verein ist nach § 2 Abs. 1 b AuslPflVG an die Stelle des zuständigen Versicherers getreten - einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des §§ 17 Abs. 3 StVG darstellte.

a) Unabwendbar nach § 17 Abs. 3 StVG ist ein Ereignis nur dann, wenn es auch durch äußerste Sorgfalt - gemessen an den Anforderungen eines Idealfahrers, die erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S.v. § 276 BGB hinausgehen (BGH, Urteil vom 18. Januar 2005 - VI ZR 115/04, NZV 2005, 305) - nicht abgewendet werden kann (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, a.a.O., § 17 StVG, Rn. 14 f. m.w.N.). Die besondere Sorgfalt des Idealfahrers muss sich dabei nicht nur in der konkreten Gefahrensituation, sondern auch bereits im Vorfeld manifestieren.

b) Dem hierfür darlegungs- und beweispflichtigen Kläger ist es nicht gelungen, den Nachweis der Unabwendbarkeit des Unfalls zu erbringen. Ein umsichtiger und vorausschauender Idealfahrer hätte in der konkreten Verkehrssituation in seine Überlegung mit einbezogen, dass die Zeugin pp. ihn übersehen oder sich ihm gegenüber vorfahrtberechtigt glauben könnte. Er hätte den Einmündungsbereich daher erst dann passiert, wenn durch Verständigung eindeutig festgestanden hätte, dass die Zeugin ihm die Vorfahrt gewähren würde.

2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG ist die Erstrichterin davon ausgegangen, dass beide Fahrer den Unfall durch einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO verursacht haben. Hiergegen wendet sich die Berufung mit Erfolg.

a) Noch zutreffend hat das Erstgericht die StVO angewandt. Die StVO regelt und lenkt den Verkehr auf öffentlichen Wegen und Plätzen. Öffentlich ist ein Verkehrsraum, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2011 - 4 StR 401/11, NZV 2012, 394; Kammerurteil vom 15. Februar 2019 - 13 S 115/19 mwN). Bei der Eröffnung eines der Allgemeinheit zugänglichen Parkhauses sind diese Voraussetzungen unabhängig davon erfüllt, ob die Geltung der StVO durch eine vorhandene Beschilderung ausdrücklich angeordnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 1985 - III ZR 53/84, VersR 1985, 835; BGH, Urteil vom 9. März 1961 - 4 StR 6/61, BGHSt 16, 7, 10; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 21. November 2014 - 13 S 132/14, Zfs 2015, 201).

b) Auch die Annahme der Erstrichterin, § 8 Abs. 1 StVO käme unter den gegebenen Umständen nicht zur Anwendung, begegnet keinen Bedenken. Nach vorherrschender Auffassung, der sich die Kammer in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, ist § 8 Abs. 1 StVO auf Parkplätzen (bzw. in Parkhäusern) grundsätzlich nur dann anwendbar, wenn die angelegten Fahrspuren (eindeutig) Straßencharakter haben (vgl. Nachweise im Kammerurteil vom 15. Februar 2019 - 13 S 115/19). Zu bejahen ist ein solcher, wenn durch die bauliche Ausgestaltung oder durch die Fahrbahnmarkierung eine gekennzeichnete Straßen- oder Wegeführung gegeben ist, die der Zu- und Abfahrt der Fahrzeuge dient. Erforderlich ist eine hinreichende Abgrenzung von den Parkboxen. Merkmale für die Abgrenzung sind neben der Markierung auch die Fahrbahnbreite und die Verkehrsführung. Dienen die Fahrspuren nicht dem "fließenden Verkehr", sondern dem Suchverkehr, ist das Merkmal zu verneinen (Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 8 StVO, Rn. 71). Unter Beachtung dieser Grundsätze hat die Erstrichterin den (eindeutigen) Straßencharakter der hier in Rede stehenden Fahrgassen zu Recht verneint. Denn die streitgegenständlichen, zwar durch Markierung von den Parkboxen abgegrenzten Fahrgassen dienen ausweislich der in der Akte befindlichen Lichtbilder in erster Linie der Zufahrt zu weiteren Parkboxen. Dass die Beschilderung und auf der Fahrbahn befindliche Fahrtrichtungspfeile auch auf die Ausfahrt des Parkhauses hinweisen, ändert hieran nichts.

c) Hiervon ausgehend hatten beide Beteiligten die allgemeinen Sorgfaltsanforderungen nach § 1 Abs. 2 StVO zu beachten, die sich nach den konkreten Anforderungen der Verkehrslage und den jeweiligen örtlichen Verhältnissen richten. Diese wurden vorliegend durch die eindeutige Beschilderung ("Vorfahrt-gewähren") aus Fahrtrichtung der Zeugin pp. seitens des Parkhausbetreibers besonders ausgestaltet bzw. konkretisiert. Die Verwendung von Verkehrszeichen außerhalb des öffentlichen Straßenverkehrs z.B. zur Verkehrsregelung auf privaten Grundstücken ist nicht nur zulässig, sondern sogar erwünscht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 2004 - I ZB 15/03 -, BPatGE 47, 297). Zwar geht von Ihnen keine bindende Wirkung i.S. einer straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Haftung aus. Zivilrechtlich können sie allerdings eine Mithaftung begründen, da ihr Regelungsgehalt jedenfalls im Rahmen des gegenseitigen Rücksichtnahmegebots entsprechend zu beachten ist (vgl. z.B. LG Düsseldorf, Urteil vom 21. August 2014 - 16 O 126/13, juris; AG Düsseldorf, Urteil vom 12. September 2007 - 35 C 6864/07, Schaden-Praxis 2007, 424; Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 04. Dezember 2015 - 2 U 326/15; OLG Köln, Urteil vom 23. Juni 1993 - 13 U 59/93, Schaden-Praxis 1994, 178; Freymann in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., Einleitung - Grundlagen des Straßenverkehrsrechts, Rn. 30; Wern in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 39 StVO, Rn. 24). Dementsprechend trifft die Zeugin pp. vorliegend ein erheblicher Sorgfaltsverstoß, weil sie das aus ihrer Sicht gut erkennbare Verkehrszeichen missachtet und so den Unfall mit dem auf der bevorrechtigten Fahrgasse fahrenden Klägerfahrzeug verursacht hat.

d) Ein Verstoß des Klägers gegen die Sorgfaltspflichten des § 1 Abs. 2 StVO ist demgegenüber nicht feststellbar. Zwar ist es zutreffend, dass der Kläger mit von rechts kommendem Fahrzeugverkehr jederzeit rechnen und sein Fahrverhalten hierauf einstellen musste. Dies gilt umso mehr als er die Zeugin pp. unstreitig schon vor ihrer Einfahrt in seine Fahrgasse wahrgenommen hatte. Vorliegend ist allerdings nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass die Zeugin ihr Fahrzeug an der Einmündung zunächst angehalten und so ein Vertrauen des in Kenntnis der örtlichen Verkehrsreglung heranfahrenden Klägers darauf begründet hatte, sie werde sein Vorfahrtsrecht achten. Dem diesbezüglichen Vortrag des Klägers ist die Zeugin nicht entgegengetreten, sondern ging selbst davon aus, angehalten zu haben (Bl. 102 d.A.). Da vorliegend auch nicht ersichtlich ist, dass die Missachtung der Vorfahrt durch die Zeugin pp. bereits zu einem Zeitpunkt für den Kläger erkennbar wurde, in dem er die Kollision noch durch ein Ausweichmanöver oder ein Abbremsen hätte vermeiden können, kann ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß des Klägers nicht als erwiesen angesehen werden. So lässt sich auch die Vermutung des Beklagten, der Kläger könne schon deshalb nicht mit angepasster Geschwindigkeit bzw. jederzeit bremsbereit gefahren sein, da es zur Kollision gekommen sei, nicht beweiswürdig nachvollziehen. Der Einholung eines von der Beklagtenseite angebotenen Unfallrekonstruktionsgutachtens bedarf es insoweit nicht, da greifbare Anhaltspunkte dafür fehlen, wann eine entsprechende Reaktionsaufforderung an den Kläger erging.

3. Vor diesem Hintergrund steht im Rahmen der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge dem Sorgfaltsverstoß der Zeugin pp. lediglich die einfache Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs gegenüber, die hier nicht zurücktritt. Dies käme nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn das Verschulden des Unfallgegners durch besondere Umstände erschwert wäre. Solche Umstände, die das Verschulden der Zeugin pp. als besonders schwerwiegend erscheinen lassen könnten, liegen hier allerdings nicht vor, zumal die einzuhaltenden Sorgfaltspflichten auf Parkflächen einander angenähert sind (vgl. z.B. Kammer, Urteil vom 3. Juli 2020 - 13 S 41/20 und vom 19. Juli 2013 - 13 S 61/13, zfs 2013, 564, jeweils m.w.N.) und der Kläger die Einmündung ohne eine Rückversicherung, dass die Zeugin pp. ihn gesehen hatte, passierte. Vor diesem Hintergrund trägt eine Haftungsverteilung von 75% zu 25% zu Lasten des Beklagten den Verursachungsanteilen angemessen Rechnung.

4. Dem Kläger stehen mithin 783,89 € (75% von 3.135,58€ abzüglich gezahlter 1.567,80€) zu. Daneben kann er nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB anteiligen Ersatz der angefallenen vorgerichtlichen Anwaltskosten aus dem berechtigten Gesamtanspruch verlangen (vgl. BGH, Urteil vom 20.05.2014 - VI ZR 396/13, VersR 2014, 1100). Ihm steht insoweit gemäß §§ 2, 13, 15 a Abs. 2 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 RVG VV Anspruch auf Ersatz der geforderten 0,65 Geschäftsgebühr aus einem Gegenstandswert von 2.351,69 € in Höhe von 130,65 € + 20 € (Pauschale) + 28,62 € (MwSt.) = 179,27 € zu.

Die Zinsentscheidungen beruhen auf §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).