Europäischer Haftbefehl
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1. Der Europäische Haftbefehl
Der Europäische Haftbefehl ist außerhalb des Landes seines Erlasses in der Regel nur formell rechtlich und nur im Land seines Erlasses materiell rechtlich, d.h. dem Grunde und dem angeblich verletzten Gesetze nach, angreifbar. (Vgl. Internationaler Haftbefehl und Strafrecht). Dies beruht auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bei Entscheidungen von Justizbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemäß Art 82 Abs 1 AEUV. Eine Entscheidung einer Justizbehörde eines EU-Mitgliedstaates gilt in allen Mitgliedstaaten der EU und führt dazu, dass die Entscheidung vollstreckbar ist und in dem jeden Mitgliedstaat anerkannt wird. Allerdings müssen rechtsstaatlichen Rechte und Verfahrensrechte gewahrt werden.
1.1. Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, RL 2013/48/EU:
Dem Beschuldigten / Verfolgten muss das Recht auf eine*n Verteidiger*in, unüberwachter Briefverkehr, Telefonate und Vertraulichkeit, sowie die Benachrichtigung eines Angehörigen garantiert werden.
1.2. Gemäß RL 2010/64/EU hat der Beschuldigte das Recht auf kostenlose Dolmetscherleistungen und Übersetzungen
Die Richtlinie ist auf innerstaatliche Strafverfahren und auf Verfahren aufgrund eines Europäischen Haftbefehl anzuwenden. Ist die in dem Europäischen Haftbefehl bezeichnete / gesuchte Person der Sprache des Vollstreckungsstaates nicht mächtig, hat diese bereits ab dem Zeitpunkt, ab welchem sie einer Straftat verdächtigt wird, bis zum Abschluss des Verfahrens inkl. Rechtsmittelverfahren das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen. Diese ist Teil des Rechtes auf ein faires Verfahren. Zur Not muss die Übersetzung telefonisch, Videoanruf oder Videoplattformen durchgeführt werden. Die Kosten der Übersetzungsleistungen hat der jeweilige EU-Mitgliedstaat zu tragen und sind für den Beschuldigten / Verfolgten kostenlos.
1.3. Gemäß RL 2012/13/EU muss der Beschuldigte / Verfolgte in dem EU-Mitgliedstaat, in dem der europäische Haftbefehl erwirkt wurde, das Recht auf Belehrung und Unterrichtung gemäß §§ 20 Abs. 1, 21 Abs. 2, 22 Ab. 2, 28 Abs. 2, 40, 53, 83 IRG über
- das Recht auf Unterrichtung über Tatvorwurf (Tat, Tatort, Tatzeit, Beweismittel) Der / die Betroffene ist nach der Festnahme über seine Rechte schriftlich und in einer verständlichen Sprache gemäß § 20 Abs. 1 IRG, § 16a Abs 1 S 2 EU-JZG zu informieren und zu belehren:
- Inhalt des EHB
- Schriftliche Übersetzung des EHB
- Beiziehung und Vertretung eines Verteidigers bei Festnahme
- Möglichkeit der vereinfachten Übergabe
- Das Recht auf einen Verteidiger im Ausstellungsstaat
Für diesen Zweck gibt es auch eine Musterbelehrung. - das Recht auf einen Rechtbeistand (§§ 40, 53, 83j IRG)
- das Recht auf Beweiserhebungen im Haftbefehl erlassenen EU-Mitgliedstaat
- das Recht zu schweigen
- das Recht auf einen Übersetzer
- das Recht auf Akteneinsicht, Augenschein von Beweismittel garantiert werden.
1.4. Unschuldsvermutung und Recht auf Anwesenheit, RL 2016/343/EU:
Die Richtlinie beinhaltet die Garantie der Unschuldsvermutung bis zur rechtkräftigen Feststellung der Schuld respektive der Beweislast der Strafverfolgungsbehörden für den Tatvorwurf (Art. 6 EMRK). Die Richtlinie verbietet verbotene Vernehmungsmethoden wie physische Gewalt. Gleichfalls wird das Anwesenheitsrecht, Aussageverweigerungsrecht bzw. Schweigerecht und Verbot der Verwertung des Schweigens des Angeklagten zum Nachteil des Angeklagten garantiert.
1.5. Verfahrensgarantien in Jugendstrafverfahren, RL 2016/800/EU:
Die Richtlinie regelt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren besondere Verfahrensgarantien und -vorschriften wie audiovisuelle Vernehmung, Beiziehung von Richtern, Staatsanwälten, Verfahrensbeteiligte mit besonderer Sachkunde im Bereich des Strafverfahrens mit unter 18-Jährigen.
1.6. Pflichtverteidigung, RL 2016/1919/EU:
Die Richtlinie beinhalte die Bewilligungskriterien für einen staatlich bezahlten Rechtsbeistand.
1.7. Opferschutz, RL 2012/29/EU
Die Richtlinie dient dem Opferschutz und Unterstützung und Teilnahme der Geschädigten / Verletzten am Strafverfahren.
2. Formelle Voraussetzungen europäischer Haftbefehl
- korrekte Angabe der Identität und der Staatsangehörigkeit der gesuchten Person
- die Straftat muss aufgrund Haftbefehles, vollstreckbares Urteil oder gerichtliche Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach Art und rechtliche Würdigung hinsichtlich Tatzeit, Tatort, Tatvorwurf konkretisiert sein.
- gegenseitige Strafbarkeit respektive der Vorwurf einer der 32 Katalogstraftaten (schwerer Straftaten/Verbrechen). Bei den 32 Katalogstraftaten mit einer Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe ist ohne weitere Prüfung der Gegenseitigkeit die Vollstreckung aus dem europäischen Haftbefehl zulässig (Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern, Kinderpornographie, illegale Handel mit Drogen, Waffen und Sprengstoffen, Korruption, Betrugsdelikte, Geldwäsche, Geldfälschung und Fälschung von Zahlungsmitteln, Cyberkriminalität, Umweltkriminalität, Beihilfe zur illegalen Einreise, illegalen Aufenthalt, vorsätzliche Tötung und schwere Körperverletzung, illegale Handel mit Organen unmenschlichen Gewebe, Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Diebstahl in organisierter Form und mit Waffen, illegale Handel mit Kulturgütern, Erpressung und Schutzgelderpressung, Produktpiraterie, Fälschung von und Handel mit amtlichen Dokumenten, illegale Handel mit Hormonen, illegale Handel mit nuklearen Substanzen, Kraftfahrzeugkriminalität, Vergewaltigung, Brandstiftung).
- die Mindeststrafe des vorgeworfenen Straftatbestandes muss ein Jahr oder die Strafvollstreckung des rechtskräftigen Urteils (§ 49 IRG) mindestens vier Monaten betragen.
- Wahrung der Verfahrensrechte des Auszuliefernden - Recht auf kostenlose Übersetzung und Rechtsbeistand
3. Aufhebungs- und Verschonungsgründe für die Vollstreckung des europäischen Haftbefehls z.B. §§ 3 ff., 24, 25, 84d IRG.
- Drohung menschenrechtswidrige Behandlung oder mit Todesstrafe (§ 8 IRG)
- Verfolgung wegen Rasse, Religion oder politische Anschauung (§ 6 IRG)
- die Person wurde bereits wegen derselben Straftat bestraft – ne bis in idem – dies bedeutet, dass eine Person nicht zweimal wegen derselben Tat bestraft werden darf. (z.B. 87m IRG)
- Die Person ist im Vollstreckungsland, d.i. das um Überstellung der im EU-Haftbefehl genannten Person ersuchte EU-Mitglied, minderjährig.
- in dem Antragsstaat/Verfolgerstaat fand eine Amnestie statt
- es existiert ein nicht eingestelltes Strafverfahren im Vollstreckungsstaat (z.B. § 83b IRG)
- Die Straftat wäre in Deutschland verjährt
- für die im Haftbefehl bezeichnete Straftat existiert keine beiderseitige Strafbarkeit und diese erfüllt auch nicht eine der 32 Katalog Straftaten
- Fristversäumnisse: 60 Tage hat der Vollstreckungsstaat Zeit den Haftbefehl zu prüfen. Bei Zustimmung des auszuliefernden zehn Tage. Der Antragstaat hat zehn Tage Zeit die Auslieferung anzunehmen § 83d IRG). Andernfalls wäre ein neuer Antrag notwendig (§ 83c IRG)
Formfehler:
- Unzutreffende Angaben zur Identität und Staatsangehörigkeit der gesuchten Person
- unvollständige Angaben der Justizbehörde zu Adresse, Telefon- und Telefaxnummer sowie E-Mail-Adresse (§ 83 a IRG)
- Nichtangabe des gesetzlich vorgesehenen Strafmaßes oder bei einer bereits ausgeurteilten Tat die Angabe der Freiheitsstrafe
- fehlende Konkretisierung und rechtliche Würdigung der Straftat hinsichtlich der Tatzeit, Tatort und Tatvorwurf
Materielle Fehler EU Haftbefehl:
- Abwesenheitsurteil: Die verurteilte Person war bei der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht persönlich anwesend und hatte keine Möglichkeit sich wirksam gegen den Vorwurf zu verteidigen. Darunter fällt nicht die Verwerfung im Berufungsverfahren bei ordnungsgemäßer Ladung
- Schlechte Haftbedingungen: Menschenrechtliche Standards sind in der Haft nicht gewahrt z.B. Ungarn, Größe der Haftzelle, mangelnde Gelegenheit zum Freigang, Insektenbefall, fehlende Trennung von Toilette und Schlafplätzen, massive Überbelegung
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.09.2010 – 2 BvR 1608/07 - im Bereich des Internationalen Rechtshilfegesetz bei Internationalen Haftbefehlen, welche auf den europäischen Haftbefehl übertragbar ist, bedürfen die freiheitsentziehenden Regelungen zur Ausräumung verfassungsrechtlichen Bedenken, ob ein Gericht bei Freiheitsentziehungen von einer sachlichen Prüfung überhaupt derart weitreichend freigestellt werden darf, einer verfassungskonformen Auslegung. So ist das meist zuständige Amtsgericht zumindest in Evidenzfällen verpflichtet, in summarischer Weise das Vorliegen eines Haftgrundes und die weiteren Haftvoraussetzungen nach dem IRG bzw. dem Umsetzungsgesetz zum europäischen Haftbefehl in seine Prüfung einzubeziehen. Liegt danach ein Haftgrund offensichtlich nicht vor oder ist die Auslieferung von vornherein unzulässig, muss das Amtsgericht vor seiner Entscheidung zunächst versuchen, die Sach- und Rechtslage mit der Generalstaatsanwaltschaft zu erörtern, damit diese entweder die umgehende Freilassung des Festgenommenen verfügen oder aber sachliche oder rechtliche Erkenntnisse einbringen kann. Bleiben durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft, über die das Oberlandesgericht nicht fristgerecht entscheiden kann, so muss das Amtsgericht in erweiternder, verfassungskonformer Auslegung der Regelungen eine Freilassungsanordnung erlassen.
In dem vorliegenden Fall war der Beschuldigte von den dafür zuständigen und sachkundigen Bundesämtern als politisch Verfolgter und Asylberechtigter anerkannt worden und ohne Festhalteanordnung gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG durch Aufnahmeersuchen an die Justizvollzugsanstalt überstellt worden.
Sie brauchen daher einen Rechtsanwalt, der international tätig ist und die Zusammenarbeit mit einer Kanzlei vor Ort pflegt.